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Die Verschwörung der Fahrradfahrer
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eBook391 Seiten4 Stunden

Die Verschwörung der Fahrradfahrer

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Über dieses E-Book

"Die Verschwörung der Fahrradfahrer" von Svetislav Basara ist ein jugoslawischer Kultroman, der im Original vor zwanzig Jahren erschien.
Die Geschichte beginnt im staubigen Keller einer Bibliothek in der serbischen Provinz und führt den Leser durch das fantastische Labyrinth einer fiktiven Dokumentation über eine uralte Bruderschaft. Diese geheimnisvolle Organisation - ein mystischer Orden der Fahrradfahrer - leitet, kraft ihrer Beherrschung der Zukunft, die Geschicke der Menschheit.
Die Fahrradfahrer treffen sich im Traum, in einer frei schwebenden durchsichtigen Kathedrale, wo sie auch Anweisungen von Ordensmitgliedern aus der Zukunft empfangen.
Ebenso satirisch wie fantasievoll lässt der Autor eine Fülle exzentrischer Figuren auftauchen, erfundene und historische Gestalten - von Karl dem Grässlic hen über Freud, Nietzsche, Sherlock Holmes bis hin zu Stalin.
Basara bedient sich ihrer, um die Einheit von Raum und Zeit in Frage zu stellen, und außerdem die These zu beweisen, dass Geschichte nie objektiv erzählt wird, sondern von jedem, wie es ihm passt.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum30. Mai 2014
ISBN9783943941500
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    Buchvorschau

    Die Verschwörung der Fahrradfahrer - Svetislav Basara

    hindurchschimmert.

    AM HOFE DES KÖNIGS KARL

    KARL DER GRÄSSLICHE

    Die Geschichte meines Königreichs

     (Apokryph)

    Obwohl die Maßeinheit des Quadratkilometers noch gar nicht in Gebrauch ist, erstreckt sich mein Königreich auf etwa 450 Quadratkilometern. Aber das weiß niemand. Nicht einmal Grosman. Aus großen Königreichen habe ich mir noch nie etwas gemacht. Die Größe eines Königreichs trägt nichts zur Größe eines Königs bei. Im Gegenteil. Große Königreiche ziehen allerlei Abschaum an und der König hat immer weniger Untertanen. Schließlich und endlich habe ich mein Königreich nicht geerbt. Ich habe es selbst geschaffen, mit meinen eigenen Händen und mit größter Mühe. Alle meine Ersparnisse habe ich aufgebraucht. Mit Hilfe Grosmans, meines Majordomus, stellte ich sogar selbst einen Thron aus gutem Buchenholz her. Wir schlugen Eisennägel von hinten in die Thronlehne, in einer kreuzförmigen Anordnung, und den Thron selbst befestigten wir mit festen Seilen an der Decke, sodass er herunterbaumelte wie eine Schaukel. Nichts wurde dem Zufall überlassen, überall wimmelt es von Symbolik. Wenn ich auf dem Thron sitze, bohren sich die Nägel in meinen Rücken, und so werde ich gekreuzigt; der Schmerz hindert mich daran, mich zu entspannen. Ich denke an die Qualen unseres Erlösers, was mich dazu drängt, gerecht zu sein und zu vergeben. Das Schaukeln des Throns weist auf die Unbeständigkeit der Fortuna hin, auf die Unbeständigkeit des menschlichen Lebens an sich. Ich selbst zum Beispiel habe als ein ganz normaler Bauernjunge begonnen. Mein Vater war unbekannt. Meine Mutter vielleicht auch. Wie Sigmund Freud in dreihundertfünfzig Jahren – wenn er in der Welt der Lebenden aufgetaucht ist – meinen wird, erfüllte ich sämtliche Bedingungen, um den Ödipuskomplex niemals zu überwinden. Davon vermag Grosman noch nicht einmal zu träumen. Er denkt, Freud sei eine Ausgeburt meiner Phantasie. Dabei ahnt er nicht einmal, dass er selbst, der Majordomus, eine Frucht der Imagination ist, so stark, dass er nun greifbar ist. Egal, selbst wenn er es wüsste, würde er, Speichellecker der er ist, sofort herbeigelaufen kommen, den Schwanz einziehen und winseln: »Sire, welch eine bedeutsame Verheißung! Welch eine bedeutsame Verheißung!« Und wenn ich ihm erst etwas über die Quarks und Quanten erzählte? Doch lassen wir das. Den Ödipuskomplex habe ich jedenfalls sehr leicht überwunden, möglicherweise deshalb, weil ich damals nichts davon wusste. Ich bin ein einfacher Mann und dachte mir Folgendes: Ich habe keinen Vater, deshalb werde auch ich niemandes Vater sein. Und Schluss. Dann lernte ich Grosman kennen. Man hatte ihn soeben von der Universität in Uppsala geschmissen, wo er Theologie studierte. Meines Wissens war der Grund für seinen Rausschmiss ein Pakt mit dem Teufel gewesen. Das Geschäft sah folgendermaßen aus: Grosman sollte vom Teufel sein Doktorat bekommen und im Gegenzug sollte der Teufel Grosmans Seele kassieren. Eine ehrliche Sache, aber ein Verstoß gegen die geltenden Regeln. Da wir damals nicht genug Geld zum Leben hatten, aber zu leben beabsichtigten, fanden wir eine Arbeit im Wirtshaus »Zu den vier Hirschgeweihen«. Wir spülten Geschirr, machten Feuer, brachten Wasser und kochten Büffel in Pfeffer und Dill. Grosman hatte die Angewohnheit, mir zum Zeitvertreib theologische Rätsel aufzugeben. Zum Beispiel: Wie viele Engel passen auf eine Nadelspitze? Oder: Habet mulier animam? Diese Fragen stellte er mir mitten in der allergrößten Arbeit, wegen der Büffelhörner umhüllt von einer undurchdringlichen Wolke aus Schwefeldunst wie in der Hölle. Der Wirt setzte dem Ratespiel meist mit einer Flut von Beschimpfungen ein Ende und die Theologie musste warten, bis die Adeligen sich vollgefressen hatten. Und sie fraßen, und wie! Noch immer kann ich hören, wie sie die Eintöpfe schlürfen, wie sie schmatzen und die Knochen zerknacken, wie ein Echo hallt es durch die Jahrhunderte. Fast hätte ich es vergessen: Damals hieß ich Ladislav, aber ich achtete nicht besonders darauf. Wenn mich jemand irrtümlich mit Ivan ansprach, dann war ich eben Ivan. Ivan, Ladislav, Grosman, was macht das für einen Unterschied? Zu jener Zeit war er tatsächlich zu vernachlässigen. Deshalb wurde ich König. Um mich über den Durchschnitt zu erheben. Und trotzdem blieb ich durchschnittlich. Das ist die conditio humana. Wenn die Adeligen sich schließlich vollgefressen hatten, flüsterte ich Grosman meine Antwort zu: »Nein, die Frau hat keine Seele. Da bin ich mir ganz sicher. Frauen haben nur eine Fotze. Die Fotze ist das Zentrum, die Sonne ihres Planetensystems, um die alle anderen Organe herumkreisen und derentwegen sie überhaupt funktionieren. Da die Vagina aber ein Nichts ist, ein ganz gewöhnliches Loch, ein Mangel, eine Leere, ist es noch zu wenig gesagt, dass die Frau keine Seele hat – sie existiert überhaupt nicht.« »Du irrst dich«, rief mir Grosman aus den Wolken seiner stinkenden Seele zu. Der arme Grosman. Er kannte sich gut mit Griechisch und Latein aus, nicht jedoch mit den Frauen. Er war so tot wie seine Sprachen. Ich will sagen: Nur wenige Menschen kannten ihn, es war schwer, sich mit ihm zu verständigen, und dennoch war er nützlich. Grosman hatte mir das Schreiben beigebracht. Ein erster Nutzen, den ich aus ihm ziehen konnte. Mich interessierte die Kunstfertigkeit der schief-schmalen, gerade-dicken Linien gar nicht, aber dieses Buch schon. Wegen dieses Buches schrieb ich mit meinen knotigen Händen mit viel Mühe die ersten Buchstaben. Ganz zu schweigen vom Mangel an Schreibutensilien. Im 19. Jahrhundert wird jeder Dorflehrer ein Lied davon singen können. Zum Zeichen meiner Dankbarkeit ließ ich, nachdem ich König geworden war, ein schönes Grabmal für Grosman errichten und befahl, GROSSMAN in die Tafel einzugravieren, mit zwei S, was seiner Eitelkeit unglaublich schmeichelte. Manchmal schließt er sich in seinem Grabmal ein und übt das Totsein. Er ist fleißig, nichts überlässt er dem Zufall. Ich mag solche Menschen nicht. Vielleicht lasse ich eines Tages, um ihm eins auszuwischen, einen anderen darin begraben. Und schon kommen wir zu Angaben, die wichtiger sind als die über den Mangel an Schreibutensilien. Ein zukünftiger Schreiberling kann daraus einige Schlussfolgerungen ziehen und sein Doktorat erwerben. Erstens: Dass in jener Zeit viel Wert auf Grabmäler gelegt wurde, weil die Menschen vom Tod besessen waren, und dass die Adeligen sich noch zu Lebzeiten ewige Häuser erbauen ließen. Zweitens: Dass die Menschen unglaublich eitel und morbid waren und sich mit Kleinigkeiten beschäftigten. Und siehe da, auch ich überlasse nichts dem Zufall, und auch mich sollte es nicht wundern, wenn ich eines Tages in einem unbedeutenden Grab lande.

    In diesem Augenblick existiert bei mir so gut wie kein Interesse an meiner eigenen Geschichte. Nur da und dort taucht mal eine Erinnerung auf. Aber das sind Grosmans Erinnerungen; er hat sie im Überfluss. Hier wimmelt es im Übrigen vor Erinnerungen. Trotz allem schreibe ich aber meine Geschichte nieder, denn nur derjenige, der keine Geschichte hat, hat ein Anrecht darauf, sie niederzuschreiben. Alle anderen sind parteilich. Ebenso gilt: Am besten denkt derjenige, der gar nicht denkt. Jeder Gedanke ist böse. Das habe ich von Vater Albert gehört, meinem Beichtvater, und habe es mir gemerkt. Manchmal denke ich tagelang an gar nichts. Ich schaukle auf meinem Thron hin und her und starre stumpfsinnig auf das Hirschgeweih an der Wand, während die Höflinge auf Zehenspitzen vorbeilaufen und überall im Flüsterton die Nachricht verbreiten: Der König denkt nach. Nicht zu fassen, was für Schleimer die Leute doch sind. Ein Beispiel: Als ich meine Macht gefestigt hatte, beschloss ich, gerührt durch Grosmans Erinnerungen an unsere Küchenjahre, allen Küchenjungen, dreihundertfünfzig an der Zahl, den Titel eines Barons zu verleihen. Und so wurden aus Tellerwäschern angesehene Herrschaften. Den ganzen Tag lang sitzen sie in den Wirtshäusern, überfressen sich, saufen und kitzeln die Mädchen. Wie auf jener Zeichnung von Gottfried von Mainz, »Das Glücksrad«. Sie sind jedoch allzu dekadent geworden. Die Macht ist ihnen zu Kopfe gestiegen. Ich höre, dass einige meinen Sturz planen. Sie denken: Wenn er, also ich, ohne irgendeinen Titel zu besitzen König werden konnte, warum sollte es nicht auch uns gelingen? Schließlich sind wir Adelige. Aber Grosman bereitet seine Rache vor. Ich werde sie alle wieder in die Küche zurückschicken. Einige von ihnen werde ich erschießen lassen, wenn es in Europa schon Schießpulver gibt. Wenn nicht, lasse ich sie köpfen. Dennoch, Erschießen wäre effektvoller, es wäre etwas Neues. Es schadet nicht, von Zeit zu Zeit die eine oder andere Hexe zu verbrennen oder eine öffentliche Hinrichtung zu inszenieren. Das Volk liebt es zu töten, hat aber von Gesetzes wegen kein Recht dazu, deshalb muss jeder halbwegs vernünftige König ab und zu eine Hinrichtung aufführen, um dem Mob Erleichterung zu verschaffen und zugleich das Gesetz zu wahren. Im Übrigen glaube ich im Gegensatz zu Grosman nicht an Hexen. Wer an irgendetwas außer an Gott glaubt, wird zum Ketzer. Aber ich bin auch Ketzern gegenüber tolerant. Meine Doktrin lautet folgendermaßen: Wenn alle Menschen Sünder sind, kann niemand Gott kennen, und somit ist jede Theologie eine Häresie. Kurz und bündig. Deshalb bietet mein Königreich Ketzern Asyl an. Sie kommen von überallher und suchen Zuflucht bei mir. Ich bin geradezu ein Vorläufer der Demokratie. Vor kurzem kamen welche auf der Flucht vor Vertreibung aus Paris hier an, es waren irgendwelche Zweiradfahrer oder so ähnlich. Ich nahm ihren Anführer, Josef Ferrarius, auf, und er zeigte mir ihre Reliquie, eine Tontafel, deren Übersetzung ich in Grosmans Abschrift anführe²:

    DAS BUCH JAVANS, SOHN NACHORS

    Die Worte Javans, des Sohnes Nachors, für diejenigen, die noch nicht geboren sind.

    Ich kam von Osten in das Land Seran und ließ mich mit meinen Brüdern, Söhnen und meiner Herde nieder; unser Wohlstand mehrte sich, und wir lebten in Frieden mit den anderen Stämmen.

    Und siehe da, von irgendwoher kamen Baumeister, Handwerker und Maurer, und sie zündeten ein großes Feuer an und brannten Ziegel aus Lehm und sagten: Lasst uns einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche. Darin suchen wir Zuflucht vor wilden Tieren und Winden und Fluten. Und über uns wird … (Text vernichtet) … auf ewig.

    Und sie zeichneten Ebenbilder des Turms in den Sand. Und der Turm war unten breit, und Treppen wanden sich um ihn wie Schlangen, und die Spitze verschwand in den Wolken. Und auf dem Turm waren Gärten und Bäche und andere irdische Herrlichkeiten.

    Im siebten Jahre des Baus schlief ich ein und sah einen Traum: Siehe, ein Rad war auf der Erde … (Text fehlt) … Gestalt und Bauweise der Räder waren wie … und beide waren gleich und von Gestalt und Bauweise derart, als wäre eines aus dem anderen hervorgegangen.

    Wo auch immer ich hinging, die Räder kamen mir nach, und wenn der Geist sich erhob, erhoben auch sie sich, denn der Geist war auf den Rädern.

    Und siehe, ein fürchterliches Licht blendete mich, und ich hörte Stimmen, die zu mir sprachen: Javan, öffne deine Augen und betrachte den Turm, den auch du baust. Und ich öffnete die Augen und sah, dass der Turm bis in den Himmel hinauf ragte und dass seine Wände durchsichtig waren und tief in den Turm hineinblicken ließen.

    Und ich sah im unteren Teil des Turms eine Menge Menschen, die vor falschen Heilern niederknieten, und ein jeder von ihnen vertraute den Heilern sein Leid an und erzählte von den Wünschen und Regungen seines Herzens.

    Und die Heiler sagten: Habt keine Angst. Wir … (Text fehlt) … wenn ihr die Regungen eures Herzens uns anvertraut, machen wir euch glücklich und langlebig.

    Und siehe, diejenigen, die Unzucht treiben wollten, versammelten sich auf einem Stockwerk und trieben Unzucht, Mann mit Mann und Frau mit Frau, und Gestank stieg auf in den Himmel, und es war eine Qual zuzusehen.

    Und diejenigen, die Kriege und Schlachten zu führen begehrten, wurden von den Heilern einen Stock höher geschickt. Und dieser Stock war öd, ohne einen einzigen Grashalm, und dort bekriegten und mordeten sie sich gegenseitig, und das Blut floss in Strömen. Und die Heiler sahen der Schlacht von oben zu und lachten.

    Betrunkene räkelten sich in einem wunderschönen Garten und tranken Wein und sprachen lästerliche Worte, dass es eine Qual war, ihnen zuzuhören.

    Doch siehe, im untersten Teil des Turmes arbeiteten ruhige und fleißige Menschen auf dem Feld, sie ernteten Früchte und brachten sie den Heilern. Und wütende Wächter gingen umher mit Peitschen in den Händen und schlugen jeden nieder, der sich widersetzte. Und sie sprachen: Haben wir etwa den Turm gebaut, damit ihr ihn zerstört?

    Und tiefer, in der Mitte des Turms, erblickte ich grauenhafte Dinge, die meine Augen noch nicht einmal im Alptraum gesehen hatten. Der Sohn tötete den Vater und legte sich mit der Mutter nieder, und Frauen ritten auf Männern. Und ich sah noch schlimmere Dinge, die ich nicht auszusprechen vermag.

    Und wieder blendete mich das Licht und bedeckte den Turm, und ich hörte eine Stimme, die zu mir sprach: Javan, bereue. Nimm deine Brüder und deine Söhne und flüchte in den Norden.

    Aber bevor du gehst, fertige aus Lehm eine Tafel an und schreib auf die Tafel ein Buch über all das, was du gehört und gesehen. Und am Ende des Buches drücke diesen Stempel unseres Geheimbundes ein.

    Und vor meinen Augen sah ich plötzlich einen Stempel, ein Ebenbild jener brennenden Räder, und dazwischen den Buchstaben Daleth aus Feuer.

    Und die Stimme sagte noch: Wisse, diesen Turm werde ich zerstören, und er wird wieder aufgebaut, und abermals werde ich ihn zerstören, und dann wird alles eins in einem sein.

    Und siehe da, ich war wieder wach, aber in meinen Händen hielt ich eine Tafel, in die ich den Stempel des Geheimbundes einkerbte, wie mir befohlen, zwei brennende Räder und einen brennenden Buchstaben Daleth.

    Ferrarius erzählte mir allerlei. Davon, wie der erste Turm zu Babel zerstört wurde und wie ein neuer Turm gebaut würde. Er zeigte mir auch die Reliquie seiner Leute, einen Wagen, der nach einer Vision Ezechiels gebaut worden war, mit Rädern hintereinander. Mit diesen Rädern könne man, sagte er, in den Himmel kommen. Ich wusste natürlich, dass es sich nur um eine Allegorie handelte, aber zum Spaß befahl ich Grosman, auf diesen Rädern einen Abhang in der Nähe des Schlosses hinunterzufahren. Um ein Haar hätte er sich das Genick gebrochen. Seitdem kann er die Zweiradfahrer auf den Tod nicht ausstehen und kann es kaum erwarten, dass sie abreisen. Deshalb habe ich ihm befohlen, ihre Leidensgeschichte in Paris niederzuschreiben. Ein Heuchler. Er denkt, ich wüsste nicht, dass er heimlich mit unsichtbarer Tinte auf meinen Seitenrändern herumkritzelt. Wenn ich mich besonders anstrenge, kann ich sogar hören, wie er kritzelt, wie er die historische Oberfläche ankratzt, seine Flecken hinterlässt, getrieben von unstillbarem Verlangen, bloß niemals aus dem Gedächtnis der Welt zu verschwinden. Aber zurück zu den Hinrichtungen. Um meine Unparteilichkeit unter Beweis zu stellen, ließ ich auch meine eigene Gemahlin, Königin Margot, hinrichten. Deshalb, weil sie es mit Hilfe ihres Liebhabers, des Barons von Kurtic, auf den Thron abgesehen hatte. Ich kann einfach nicht verstehen, was um alles in der Welt zahllose Idioten dazu bringt, von Macht und Thron zu träumen. Denken diese Dummköpfe etwa, ich hätte zwanzig Jahre lang jeden Groschen gespart, um Herrschaft auszuüben? Nein, meine Absicht war es, eine metaphysische Idee zu verwirklichen. Margot war keine schlechte Frau, aber sie konnte der Schönheit des Barons von Kurtic nicht widerstehen. Die Schönheit ist, heißt es bei Radbertus von Odense in einem Buch, das er bald schreiben wird, ein Werkzeug des Teufels. Dazu kommt noch die Eitelkeit. Eines Tages betrat ich unvermittelt unser Schlafgemach – Margot stand vor dem Spiegel. Hinter ihr türmte sich der Teufel auf, und sie starrte wie verhext sein Abbild an. Mir war sofort klar, dass das kein gutes Ende nehmen würde. Dennoch wollte ich nicht voreilig handeln. Ich dachte, vielleicht ist es ja nur eine vorübergehende Laune. Einige Male sah ich, wie sie mit dem Baron im Garten herumschmuste, aber ich tat so, als würde ich träumen. Als es mir schließlich reichte, wachte ich auf und rief die Diener herbei. Am folgenden Tag richtete ich ein Spektakel aus, aufregend und lehrreich zugleich. Alle sollten sehen, wohin Gier und Schönheit führten. Außerdem war es ein kleiner Trost für meine eigene Hässlichkeit. Für die Nachgeborenen will ich an dieser Stelle mein Äußeres beschreiben: kleinwüchsig, der Rücken schief, die Beine schief, die Arme schief. Ich trage eine unförmige Tunika mit einem Aufsatz aus Leopardenfell. Auf der Stirn habe ich eine recht große Geschwulst. Mein rechtes Auge ist winzig und sitzt tief in der Augenhöhle; das linke ist mit grauem Star überzogen. Aber solche Dinge werden nicht bis zu den zukünftigen Generationen durchdringen. Gottfried von Mainz hat mich ganz ansehnlich gezeichnet, aus Angst vor meinem königlichen Zorn, und ich wiederum ließ mich von meiner eigenen Eitelkeit täuschen, stellte mich auf einem Auge blind und nahm das Bild so an, wie es war, eine Lüge meines Ich. Ich bin ja selbst eine Lüge …

    Wie sprach doch der Prediger: Es ist alles ganz eitel.

    Nachdem ich den Königsthron einem verarmten Grafen abgekauft hatte, ließ ich, um die Reinheit des Glaubens zu bewahren, alle Türen im Kloster des Heiligen Panfuzius zumauern und änderte den Klosternamen, um den Papst, diesen Ablasshändler, zu ärgern. Dort ist er, in Rom, und räkelt sich in Samt und Seide, anstatt barfuß in der Welt umherzuirren, auf der Suche nach jemandem, der ihn ans Kreuz nageln könnte. Er lässt Jesuiten auf mich los, damit sie mich zu seinem merkantilen Glauben zurückbringen. Aber nein. Ich bin zur Orthodoxie übergelaufen. Das Kloster ist jetzt nach dem Heiligen Grigori Palama benannt. Darunter habe ich ein verzweigtes Labyrinth gebaut, der Eingang befindet sich auf dem Platz vor der Kathedrale, der Ausgang im Klosterhof. Wer die Mönchswürde erlangen will, muss zuerst das Labyrinth durchqueren. Unwürdige verlaufen sich und bleiben für immer in irgendeiner Ecke stecken. Einmal, als ich mit Grosman zur Kommunion unterwegs war, sah ich im Licht der Fackeln grinsende Skelette und dachte: Ohne diese Schädel, ohne diese vielen Knochen wäre der Mensch ein absolutes Nichts. Ouk on, wie mein Majordomus sagen würde. Halt! Nihilismus! Häresie. Diejenigen, die vom Heiligen Geist geführt werden, kommen dennoch gesund und wohlbehalten am Ziel an, Gott sei es gedankt. Auf diese Weise erlangt man eine hohe Stufe an Geistlichkeit. Hartes Brot und wenig Wasser, Raum und Zeit auf Nimmerwiedersehen. Meine Mönche sehen rückwärts und vorwärts. In ihren Träumen sehen sie das, was künftige Generationen träumen werden. Sie kennen die Absichten meiner Feinde. Sie sprechen mit Engeln. Sie gehen über Wasser. Ab und zu lasse ich einen Mönch über den See spazieren, das Volk mag solche Dinge und der Mönch kann seinen Gehorsam unter Beweis stellen. An hohen Feiertagen schwebt der Abt des Klosters hoch oben, einige hundert Klafter hoch, um nicht vorzeitig von Metern zu sprechen, wie gesagt, er schwebt über dem Kirchturm und predigt von dort oben die Große Liturgie. Andererseits habe ich für Unzüchtige, Diebe und Verdorbene ein geräumiges Wirtshaus errichten lassen, wo sie sich nach Herzenslust ihren Lastern hingeben können, ohne dabei aufrechte Christen in Versuchung zu führen. Ich habe Gut und Böse voneinander getrennt und schaukle in der Mitte auf meinem Thron – Golgatha. Ich bin ein großer Sünder. Ich steige bis auf den Grund der Sünde hinab, um den allerhöchsten Grad an Heiligkeit zu erlangen. Die Welt ist nun mal so: Feinde belagern die Grenzen des Königreichs, Dämonen belagern die Seele des Königs. Schön gesagt. Ich beschütze meine Untertanen sowohl vor irdischen als auch vor himmlischen Feinden. Sämtliche Versuchungen nehme ich auf mich. Die Mönche haben keine Zeit dafür. Nahezu schon jenseits, blind für diese Welt, mit einem feinen Häutchen, das ihre irdischen Augen bedeckt, und mit einer weißen Lilie in der Hand – wie auf dem Bild, das Nemanja eines Tages malen wird – unterminieren sie Zeit und Raum, um dann, wenn die Stunde schlägt, mein Königreich in himmlische Höhen zu tragen. Um es den Klauen der Geschichte zu entreißen, aus der Lasterhöhle zu befreien. Ich habe nie versucht, die Grenzen meines Königreichs auszudehnen, damit das Königreich so leicht wie möglich blieb. Wer könnte schließlich ein solches Ungeheuer in den Himmel heben wie das Römische Reich, das auf Grund seiner riesigen Ausmaße immer tiefer in der Hölle versinkt? Großes Land, viele Menschen, das bringt nichts Gutes. Mit der Zeit werden es immer mehr Menschen sein. Menschen sind jedoch wie Goldstücke. Je mehr davon im Umlauf sind, desto weniger sind sie wert. Menschliche Groschen. Gefälschte Personen ohne eine ontologische Deckung. Sie wissen nicht einmal, was Ontologie ist. Sie denken, Gott würde sich auf dem Dachboden meines Hofs verstecken. Dummköpfe, die in die Vergangenheit starren. Ein weiterer Grund, die Tyrannei über die noch nicht geborenen Volksmassen vorwegzunehmen, im Voraus ihre Geschichte zu schreiben und sie damit zu determinieren. Das ist mein natürliches Recht. Denn würde ich mir Mühe geben – was ich keineswegs beabsichtige – könnte ich noch weitere nichtige dreihundertfünfzig Jahre leben. Ich müsste weniger trinken und auf Wildbret verzichten. Aber keiner von denen, ganz gleich, wie viel Mühe sie sich geben, wird in die Vergangenheit zurückkehren können, in meine Vergangenheit, die ich mit Hilfe des treuen Grosman souverän beherrsche, nicht etwa aus Herrschsucht, sondern aus dem Gefühl heraus, dazu berufen zu sein, diese Hoffnungsfrohen das Prinzip der Unterwerfung zu lehren. Die Mönche geben mir recht. Unlängst kamen sie in der Nacht zu mir. Setzten sich hin. Der Abt erzählte, sie hätten im Traum herausgefunden, was mit den verschwundenen Etruskern passiert sei. Was für Etrusker?, fragte ich. Der Abt erklärte, irgendwann hätte dort, wo sich heute Rom befindet und angeblich auch der Vicarius Filii Dei, ein Volk namens Raitzen gelebt, das spurlos vom Antlitz der Erde verschwunden sei. Genauso, wie wir es zu tun gedächten. Ihre Priesterträumer seien durch die Träume in die Zukunft gereist und hätten gesehen, welch verhängnisvolles Unglück sich auf den Apenninen ereignen würde. Eines Nachts seien sie alle eingeschlafen und hätten im Traum ein neues Land am anderen Meeresufer gesehen, ein Land reich an Gebirge und Wasser, seien dort aufgewacht, um ihre Spuren in der Geschichte zu verwischen, und hätten sich selbst einen neuen Namen gegeben – Serben. Eine erschütternde Geschichte. Wie sich später herausstellte, wurde sie mir erzählt, um mein Herz zu erweichen und meinen Zorn zu besänftigen. Denn als die Mönche aufbrachen, rief der Abt mich zur Seite und sagte, dass Margot sich auch dort im Jenseits mit von Kurtic treffe. Grosman erzählte mir dasselbe. Angeblich wurden sie unter meinen Fenstern gesehen, zur Geisterstunde und mit blutigen Hälsen. Zum ersten Mal erfasste mich Trauer statt Zorn. Ich dachte: Kann denn nicht einmal der Tod stärker sein als Untreue und Verrat? Dann tauchten zwei Tränen in meinen Augenwinkeln auf: Ach, Margot, Margot …

    Ich habe ein Gesetzbuch verfasst. Streng, aber gerecht. Wer jemandem einen Arm abhackt, muss auch seinen eigenen Arm abhacken. Wenn er sich weigert, wird er hingerichtet. Wozu die Gesetzlosigkeit verbreiten? Wozu Dritte in den circulus vitiosus hineinziehen: Richter, Wächter, Henker. Gesetz ist Gesetz. So lautet der erste Artikel. Wenn die Menschen sich nicht den Gesetzen Gottes unterwerfen wollen, sollen sie sich unter den meinen abplagen. Alle sind schuldig, und alle müssen bestraft werden. Aber es wird die Zeit eines jämmerlichen Neuen Europas kommen, da Verfolgte nicht mehr exkommuniziert werden. Vielleicht nicht so bald. Ich bin allerdings nicht sicher, ob in Italien nicht bereits die Renaissance eingesetzt hat. Ich werde nie verstehen, was so schlimm sein soll an Unrecht, Folter und Kerkerhaft; dies sind Privilegien. Der sichere Weg ins Himmelreich. Was du nicht willst, das man dir tu, das füge

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