Seine Kunst zu zögern. Elf Versuche zu Robert Walser
Von Martin Jürgens
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Rezensionen für Seine Kunst zu zögern. Elf Versuche zu Robert Walser
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Buchvorschau
Seine Kunst zu zögern. Elf Versuche zu Robert Walser - Martin Jürgens
Hinweise
RÜCKBLICKE. Vorwort
Es war Zufall, wie es scheint. ›Eigentlich‹ hätte es Alfred Döblin werden sollen – mit seinem Roman »Wallenstein« von 1920, kiloschwer, 739 Seiten lang und schon auf den ersten Seiten mit der lebensprallen Schilderung eines gewaltigen Gelages: das Ganze eine Buch gewordene Opulenz, ein ausschweifender Sprachkatarakt, ohne Zweifel mitreißend.
Wer seit der Kindheit eine Scheu vor Kraftakten hat, vor Sport überhaupt, den mußte das abschrecken, trotz des gut gemeinten Wunsches des Doktorvaters. Daß es aber unversehens Robert Walser werden konnte, lag an der kaum bemerkbaren Anwesenheit des weiß eingeschlagenen Bändchens »Prosa« – eine Auswahl von Walter Höllerer – im chronologisch geordneten Bücherregal. Warum schlug ich es auf, irgendwann in einem Sommer gegen Ende der sechziger Jahre? War es die Langeweile der meist verregneten, glockendurchläuteten Sonntagvormittage in Münster? War es eine Erwähnung des Robert Walser seitens der Tante »Zeit«, deren Feuilleton damals zur Pflichtlektüre für Germanisten gehörte? Wenn man sich nicht erinnern kann, sagt man leichthin »Es fiel mir einfach in die Hände«, meint aber nicht ›irgendwie‹. Man zieht sich seine Lieblingsautoren nicht zu wie den Schnupfen oder einen Lebensabschnittsbegleiter. Wenn etwas wichtig war und geblieben ist, glauben wir nicht gern an den Zufall – eher daran, daß uns etwas zugefallen sei, was für uns bestimmt war. Bestimmt: Das ist magisches Denken, aber vielleicht eines der helleren Art. In ihm ist die interne Vernunft unserer Beziehungen angesprochen (zu Menschen, Büchern, Bildern, Landschaften), also das, was uns so anspricht, daß es uns zum Reden bringt.
Das kann lange anhalten, in meinem Falle mittlerweile über dreißig Jahre. Elf Ergebnisse der in jenem Sommer beginnenden Beschäftigung mit Robert Walser finden sich in diesem Buch. Schon die Beiträge aus den siebziger Jahren kreisen immer erneut um das Problem, wie die »Sonderart Walser« zu benennen sei, die – so Robert Musil – nicht geeignet ist, »einer literarischen Gattung vorzustehen« – ein Umstand, der das literaturwissenschaftliche Handwerkszeug so strapazieren kann, daß zunächst nur negative Merkmalsbestimmungen möglich sind: Es ist auf den ersten Blick das völlige Desinteresse, die Welt vor Augen zu stellen, sie abzuschildern, plastisch erzählend hinzulangen. (Die literarischen Preisboxer dieses Genres wegelagern heute zuhauf in den Eingangszonen der Großbuchhandlungen, neben der Esoterik und den Kochbüchern.) Bei Walser dagegen: Nichts, was einen anspringt, mitreißt und nicht mehr losläßt, sondern der sanfte Sog einer fortgesetzten Rede in eigener Sache, eine Prosa, die den Leser bei Atem läßt, ihm Raum bietet, jetzt brüchig, dann mutwillig sprunghaft, oft verwirrt und untröstlich. Der suggestive Satz Walter Benjamins auf der Rückseite des weißen Buchs, den ich in Verdacht habe, mitverantwortlich dafür zu sein, daß es anfing, formuliert es so: »Walsers Figuren kommen aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig.«
Es hatte bis zum Ende der sechziger Jahre schon genügend Lektionen in Melancholie gegeben, die ich nicht hatte vermeiden können – vom eisernen familiären Beschweigen des deutschen Faschismus bis zur Ohnmacht angesichts des Krieges der USA gegen Vietnam; es reichte jedenfalls, daß ich mir in der Nähe der walserschen Figuren ›ein freundlich Asyl‹ imaginieren mochte – sicher mit weniger Recht als ich damals meinte beanspruchen zu können.
Gleichviel: Die Sache, das Promotionsprojekt, kam auf den Weg, Döblins »Wallenstein« war vergessen, der Doktorvater (Wolfdietrich Rasch) zeigte sich weiterhin von seiner freundlich-großzügigen Seite, und ein DAAD-Stipendium ermöglichte mehrmonatiges Arbeiten an Walsers Nachlaß in Zürich.
Dort lernte ich Jochen Greven, den Herausgeber der Werke Walsers kennen und damit eine mir bisher unbekannte Haltung verbindlichen Arbeitens – eine Mischung aus unbeirrter Freundlichkeit, geduldiger Strenge und wachem Zweifel an der Stimmigkeit und Gültigkeit des Erreichten. Dies zeigte sich eindrucksvoll in den überaus detailfreudigen Diskussionen zur ersten Publikation des »Räuber« – Romans, an dessen Entzifferung Jochen Greven mich beteiligt hatte. (Im fünften Beitrag dieses Buchs findet sich hierzu Näheres.) Für Robert Walsers posthume ›Karriere‹, seinen Aufstieg vom Außenseiter zum Klassiker¹, für diese noch in den siebziger Jahren nicht erwartbare Entwicklung kann die Rolle Jochen Grevens kaum überschätzt werden. Hätte es ihn und seine Beharrlichkeit nicht gegeben (wenn dies Gedankenexperiment denn gestattet ist), wäre Robert Walser mit einiger Sicherheit das verwilderte literarische Grab geblieben, dessen letzte dilettantische Pflege Sache des wohlmeinenden Carl Seelig geblieben wäre, bis das Gras des Literaturmarktes darüber gewachsen wäre. Spekulative Erwägungen wie diese führen natürlich zu nichts Handfestem, wohl aber zu einer Ahnung davon, mit welcher Lebensleistung wir es hier zu tun haben.
Es waren jedoch nicht nur die Texte Walsers, die während der und seit den Monaten in Zürich ihre Wirkung entfalteten, sondern auch seine Biographie, sein langer Weg abwärts, vor allem der Vorgang der Einweisung in die Psychiatrie und die Jahre bis zu seinem Tod im Schnee am ersten Weihnachtstag 1956: Diese fürsorgliche Roheit der Ärzte, das Reibungslose der bürokratischen Prozesse, die in das Gleichmaß der Tage in Herisau einmündeten, mit dem Abwaschen der Tische, dem Falzen der Papiersäcke, dem Sortieren von Altpapier. All das war für mich empörend, seit ich in Zürich die damals zugänglichen einschlägigen Materialien einsehen konnte (vgl. den zweiten Beitrag in diesem Buch); diese Empörung hält bis heute an, dies wohl deshalb, weil Walser der stummen gesellschaftlichen Gewalt (fast) nichts entgegensetzte als geduldiges Einverständnis. Die von Urs Widmer schon vor über 20 Jahren gestellte Frage, ob das denn »immer der Preis sein« müsse: »ein schönes Werk, auf Kosten eines schönen Lebens« bleibt unbeantwortbar, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse – von Marx die Vorgeschichte der Menschheit genannt – sich gleich bleiben. Träfe das auch für uns in der Zeit unseres Lebens zu, hätten wir Grund, mit Herrn Keuner zu erbleichen.
In jedem Fall ist es eine Erfahrung sehr eigener Art, eigene Texte nach langer Zeit wieder zu lesen. Je näher man hinsieht, um so fremder blickt das geschriebene Eigene über die zeitliche Distanz hinweg zurück. So geht es mir mit den Buch- und Zeitschriftenbeiträgen aus dem Umkreis der 1973 erschienenen Dissertation (»Robert Walser. Die Krise der Darstellbarkeit. Untersuchungen zur Prosa«). Resümierend heißt es da zum Beispiel: »Dieses auf Grund seines in sich antagonistischen Charakters immer gefährdete Selbstverständnis versucht die walsersche Spätprosa in immer neuen fragmenthaften Entwürfen zur Rekonstruktion einer auf Subjektivität bestehenden künstlerisch-literarischen Identität zu behaupten. Dem Ich, das sich in ihr artikuliert, geht es noch im illusionslosen Aufweis seiner eigenen Entfremdung um deren Aufhebung im Prozeß ästhetischer, literarischer Arbeit.«
Das war und ist nicht falsch (wenn auch nicht genau genug wahr), hat aber teil am Jargon literaturwissenschaftlicher Eigennützigkeit: Verbales Radschlagen in Beeindruckungsabsicht, zivilisiertes Wüten leicht angestrengter Begrifflichkeit, bisweilen unterbrochen von den Signalements der Selbstreflexivität, kurz alle Male des (damaligen) Germanistischen finden sich auf engem Raum beieinander. Dabei hätte man schon damals die schöne Forderung Hans Magnus Enzensbergers, das Germanistische ins Deutsche zu übersetzen, zumindest in Erwägung ziehen können. Einiges allerdings scheint mir im Laufe der achtziger Jahre klarer geworden zu sein; der in den geisteswissenschaftlichen Sektoren des akademischen Betriebs favorisierte Durchschnittstypus erschien mir immer mehr als ein artikulationsschwaches humanoides Amalgam aus Anmaßung und Borniertheit. Nie werde ich die Auslassung eines sehr zu Unrecht im Aufstieg befindlichen Germanisten vergessen, der sich während des Walser-Kolloquiums in Rom (1985) erhob und aufgeregt seine Pikiertheit zur Schau stellte. Er bezog sich auf die Schlußpassage meines Referats zum »Räuber«-Roman, in der es um die Aussichten des walserschen Helden, des ›Trappis‹, des ›Herzkäfers, erzdumm‹, des ›Schnori‹ in der gesellschaftlichen Kälte des ausgehenden 20. Jahrhunderts ging:
Unabsehbar ist, wann er das »Gewissen aller Völker« sein wird; bis dahin wird er die »allgemeine Nonchalance« bleiben; vor deren radikaler Sanftheit hätte sich die Wissenschaft – wie Canetti angeregt hat – zu schämen, statt sie mit vergleichenden Kraftakten zu den Höhenzügen der literarischen Moderne emporzuwuchten.
Eben weil und seit – so der Fachvertreter – die Literaturwissenschaft festgestellt habe, von welchem Rang Walser sei, habe man ihn (er sprach von »wir«) ›in den Olymp‹ der Moderne ›aufnehmen‹ können. Der beamtete Schnösel, sitzend zur Rechten der Olympier, den armen Walser zur eigenen Höhe emporhebend: Solch ungerührte Schamlosigkeit muß Elias Canetti vor Augen gestanden haben, als er in seinen »Aufzeichnungen zu Robert Walser« schrieb:
»Ich kann nur in den untern Regionen atmen.« Dieser Satz von Robert Walser wäre das Losungswort der Dichter. Aber die Höflinge sagen ihn nicht und die Ruhm gewonnen haben, wagen es nicht mehr, ihn zu denken. »Könnten Sie nicht ein wenig vergessen, berühmt zu sein?« sagte er zu Hofmannsthal, und niemand hat das Peinliche an den Oberen kraftvoller bezeichnet.
Ich frage mich, ob es unter denen, die ihr gemächliches, sicheres, schnurgerades akademisches Leben auf das eines Dichters bauen, der in Elend und Verzweiflung gelebt hat, einen gibt, der sich schämt.
Läßt man diese Frage im Ernst an sich heran, ist es mit dem Gemächlichen, Sicheren, Schnurgeraden des Arbeitens und Schreibens irgendwann vorbei: Die fortgesetzte Subsumtion der Gegenstände unter das zuhandene begriffliche Instrumentarium wird zum peinlichen Problem – erst recht dann, wenn ein Autor sich so provokativ, ja destruktiv gegenüber Begriffen und Gattungsnamen verhält, wie es Robert Walser tut. Beobachtungen hierzu standen am Anfang eines 1991 unternommenen Versuchs, eine andere Haltung zu erproben, im Anschluß an den Begriff von Mimesis, wie er sich in der »Dialektik der Aufklärung« findet:
Alles käme darauf an, eine Haltung zu versuchen, die definitorische Kraftakte vermeidet und doch an Theorie, also an der Bewegung des Denkens, interessiert bleibt. Eine solche Haltung und ein solches Denken hätten Perspektiven herzustellen – so eine anspruchsvolle Formulierung Adornos – ohne »Willkür und Gewalt, ganz aus der Fühlung mit den Gegenständen heraus«. Für eine solche Praxis gibt es in Adornos und Horkheimers »Dialektik der Aufklärung« einen emphatischen Begriff, den der Mimesis – jenseits nachschlagbarer Wortbedeutungen und auch jenseits von mehr oder minder parteilichen Abbild – und / oder Realismustheorien.
Ich schlage vor, den höchst diskontinuierlichen und richtungsinkonstanten Bewegungsmodus der walserschen Prosa als den eines solchen mimetischen Verhaltens aufzufassen. Das Verhältnis, das man so zu Walsers Texten unterhalten könnte, hätte – wenn es denn möglich ist – von diesem Verhalten sich anleiten zu lassen.
Ob und inwieweit und mit welchen Folgen und Nebenwirkungen das ge- oder mißlungen ist, ist – so hoffe ich – den Texten abzulesen, die in den neunziger Jahren und danach geschrieben wurden. So wie in ihnen die vor Jahrzehnten erworbene germanistische Identität hoffentlich verabschiedet ist, ist auch die Vorstellung aufgegeben, die Entwicklung von Identität sei ein Ziel, das das Ich der walserschen Prosa verfolge. Wenn es (wie zitiert) im ersten Text dieses Buches heißt, es gehe ›um die ›Rekonstruktion einer künstlerisch-literarischen Identität‹, Identität damit als eine Aufgabe gefaßt ist, die ansteht, behauptet der Aufsatz von 2004, Walsers Helden sei »die Identität nicht aufgegeben wie ein Pensum« und »im Aufgeben von Identität« seien sie vorbildlich. In der Tat: Solche Radikalität sucht ihresgleichen damals wie heute vergebens. Behende führen Walsers ›Helden‹ uns weg von jeder festgefügten Identität, von Ich-Botschaften, von Botschaften überhaupt und hin zum Entzücken vor der flüchtigen Einzelheit. Sie wissen nicht, wo es lang geht, bauen kann man auf sie nicht; erst recht ist mit ihnen kein Staat zu machen. Das macht ihre Größe aus und unser Glück beim Lesen von Sätzen wie: »Sein Lächeln glich einer Blume, die nach dem Bedürfnis und der Kunst zu zögern, duftete.« Diesem Satz verdankt sich der Titel des Buches: Seine Kunst zu zögern.
Abschließend ohne zu zögern einige nüchterne Mitteilungen zu den nachfolgenden Texten aus 30 Jahren und einige natürlich nicht nüchterne Danksagungen: Die Reihenfolge der Texte entspricht der Chronologie ihrer Publikation bzw. Entstehung (beim vierten und elften Text, die unveröffentlicht sind). Einige wenige Passagen wurden leicht überarbeitet. Textüberschneidungen wurden in Kauf genommen; Aufsatz und Essay-Sammlungen werden meist selektiv und diskontinuierlich gelesen, so daß Überschneidungen erträglich sein sollten.
Bei der Herstellung des Gesamtmanuskripts und bei den Korrekturen haben Petra Moser und Michael Billmann sehr geholfen: Herzlichen Dank! Für einen guten Rat ebenso herzlichen Dank an Hermann Kinder! Dank dem Verlag für kompetente und zügige Arbeit!
1 s. Jochen Greven: Robert Walser – ein Außenseiter wird zum Klassiker. Abenteuer einer Wiederentdeckung. Lengwil: Libelle 2003.
ROBERT WALSER
1
Es empfiehlt sich kaum, so zu tun, als wisse man über ihn Bescheid: »Niemand ist berechtigt, sich mir gegenüber so zu benehmen, als kennte er mich.« (III, 406) Mit dieser Absage an das Verständnis der anderen ist die Rolle genannt, in der Robert Walser sich sah – genauer: sich zu sehen veranlaßt war. Es ist die Rolle des Unbekannten, dem und dessen Texten gegenüber nicht zuletzt die Selbstsicherheit des interpretierenden Zugriffs zweifelhaft erscheint. Diese Feststellung eröffnet jedoch nicht den Weg, Walser