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TEXT+KRITIK 212 - Christian Dietrich Grabbe
TEXT+KRITIK 212 - Christian Dietrich Grabbe
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eBook215 Seiten2 Stunden

TEXT+KRITIK 212 - Christian Dietrich Grabbe

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Über dieses E-Book

Christian Dietrich Grabbes (1801–1836) Dramatik sprengte die Formensprache des Theaters seiner Zeit. Auf moderne und zeitgenössische Dramatiker, von Brecht über Jarry und Artaud bis zur Postdramatik, übte seine "Radikaldramatik" eine große Faszination aus. Zerrissen zwischen dem Verlangen nach verloren gegangener Größe und dem Bewusstsein der Kontingenz, erlangte das Enfant terrible des deutschen Vormärz als "betrunkener Shakespeare" (Heinrich Heine) in der Rezeptionsgeschichte mehr Aufmerksamkeit für seine Biografie als für sein hochkomplexes Werk. Die Beiträge in diesem Heft gehen Grabbes schwarzem Pessimismus nicht aus dem Wege. Vielmehr zeigen sie, wie Grabbes rücksichtslose Darstellungen von Feindschaft, Fremdheit und (Selbst-)Destruktionszwang ihn in "eine sehr deutsche Tradition" einschreiben, wie unterschiedliche zeitgenössische Künstler wie Heiner Müller und Anselm Kiefer beobachtet haben.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Sept. 2016
ISBN9783869165318
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    Buchvorschau

    TEXT+KRITIK 212 - Christian Dietrich Grabbe - Sientje Maes

    TEXT+KRITIK


    TEXT+KRITIK. Zeitschrift für Literatur.

    Begründet von Heinz Ludwig Arnold

    Redaktion:

    Hannah Arnold, Steffen Martus, Axel Ruckaberle,

    Michael Scheffel, Claudia Stockinger und Michael Töteberg

    Leitung der Redaktion: Hermann Korte

    Tuckermannweg 10, 37085 Göttingen,

    Telefon: (0551) 5 61 53, Telefax: (0551) 5 71 96

    Print ISBN 978-3-86916-529-5

    E-ISBN 978-3-86916-531-8

    Umschlagabbildung: Lithografie von W. Severin nach einer Zeichnung von Wilhelm Pero (1836).

    E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

    www.dnb.de abrufbar.

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    © edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2016 Levelingstraße 6a, 81673 München

    www.etk-muenchen.de

    Inhalt

    »Denn nichts als nur Verzweiflung …«

    Norbert Otto Eke

    »Um so etwas bekümmre ich mich nicht«. Grabbe und die Moral

    Florian Vaßen

    Fremdheit und Feindschaft. Nord-Süd-Konstellationen, Männer-Schlachten und Subjekt-Dezentrierung in Grabbes »Herzog Theodor von Gothland«, »Hannibal« und »Die Hermannsschlacht«

    Hendrik Blumentrath

    Gothlands Gespenster. Zum Nachleben des Schicksalsdramas in Grabbes »Herzog Theodor von Gothland«

    Stephan Baumgartner

    Christian Dietrich Grabbes »Kaiser Friedrich Barbarossa«. Machtentfaltung zwischen Anachronismen und Mittelalterrezeption

    Malte Kleinwort

    Hannibals Selbstmord bei Grabbe. Heroismus im Kontext des vormärzlichen Selbstmord-Diskurses

    Sientje Maes / Bart Philipsen

    Trauer / Spiel. Grabbe als trauriger Satiriker

    Arne De Winde

    Eine Genealogie des Zerkratzens: Grabbe – Kiefer – Beyer

    Sientje Maes

    Chronik

    Notizen

    [2|3] Editorial

    »Denn nichts als nur Verzweiflung …«

    Autoren wie Lenz, Kleist, Hölderlin, Büchner und vielleicht auch Heine haben längst den Status kanonisierter Vorläufer der Moderne erworben. Ihre spätere, wenn auch sehr unterschiedliche (Wieder-)Entdeckung und Würdigung im 20. Jahrhundert wurden von einer vielstimmigen und mehrstufigen, sowohl künstlerischen als kritischen, philologischen oder philosophischen Rezeption ausgelöst, in der die mehrfache Gebrochenheit ihrer Werke sowie ihrer Biografien zur Präfiguration einer zeitgenössischen existenziellen und zeitgeschichtlichen Lebens- und Schreibweise avancierte. Im Gegensatz dazu muss die Rezeption von Christian Dietrich Grabbes Werk und im Besondern die Anerkennung von dessen Modernität ohne Weiteres als ein zögerlicher Prozess bezeichnet werden. Zugegeben: Die biografischen Fakten – Alkoholismus, Geldsorgen und Ehekonflikte – taugen weniger zu einer erhabenen Vita als Wahnsinn, Selbstmord, politische Verfolgung und früher Tod, aber als Grund dafür, dass auch heute noch die Wirkung des Dramatikers aus Detmold keine Erfolgsgeschichte genannt werden darf, reichen sie nicht aus. Ähnliches gilt für die mit Hölderlin und Kleist geteilte Vereinnahmung durch Nationalsozialismus und Marxismus. Auch wer das Werk Grabbes nur oberflächlich zur Kenntnis genommen hat, wird sofort die mit der ideologischen Instrumentalisierung einhergehende Reduzierung der formalen sowie inhaltlichen Komplexität und Ambivalenz bemerken. Dennoch genießt Grabbe weder bei den Literaturwissenschaftlern noch bei den Theatermachern große Beliebtheit, nur selten findet man seine Stücke auf dem Spielplan deutscher Bühnen – im Ausland schon gar nicht. Das erstaunt, denn immerhin gilt er als würdiger Zeitgenosse Georg Büchners und es wird ohne Einschränkung auf die innovative, die ästhetische Formensprache des damaligen Theaters sprengende Qualität seiner Dramatik hingewiesen. Der Vorwurf der Unspielbarkeit wirkt längst überholt, denn für moderne und zeitgenössische Dramaturgien, von Brechts epischem Theater zu Alfred ­Jarrys und Antonin Artauds Avantgarde-Theater und bis zur zeitgenössischen Postdramatik, ist Grabbes »Radikaldramatik« (Volker Klotz) mit ihren sowohl absurd-grotesken als auch exzessiv affektiven Zügen und ihrer fast metatheatralischen Reflektiertheit geradezu ein gefundenes Fressen.

    Dieser letzte Zug, der sich vor allem auf das mediale Inszeniertsein und die daraus folgende Machtlosigkeit der einmal als ›groß‹ apostrophierten geschichtlichen Aktanten bezieht, trifft wohl den neuralgischen Punkt von [3|4]Grabbes Zeit. Grabbe hat ihn selbst in seinem Essay »Etwas über den Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe« in einem prägnanten Bild gefasst: »Mit Napoleons Ende war es mit der Welt als wäre sie ein ausgelesenes Buch, und wir ständen, aus ihr hinausgeworfen, davor, und repetirten und überlegten das Geschehene.« Geboren nach der Französischen Revolution, als Dramatiker tätig geworden in einer postnapoleonischen Welt und längst gestorben, als 1848 noch einmal (vergeblich zwar) revolutionäre Hoffnungen aufkeimen, lebt Grabbe in einer Zeit großer Enttäuschungen und tiefer Melancholie, ohne dass sein Werk ins Idyllische noch in nostalgische Heroik oder utopische Entwürfe abdriften würde. Vielleicht sind die Illusions- und Hoffnungslosigkeit, das lähmende Bewusstsein der Vergeblichkeit historischen Handelns und der Kontingenz der geschichtlichen Ereignisse, welche so manche historische Größe in Grabbes Stücken zum trivialen oder sogar skurrilen Figuranten seines eigenen Dramas machen, einige der Gründe des Skandalons Grabbe?

    Die Beiträge in diesem ersten Grabbe gewidmeten Heft versuchen diesem Skandalon näherzukommen. Sie gehen Grabbes schwarzem Pessimismus, seiner radikalen Verwerfung jeden Glaubens an einen als Moralisierung verstandenen Fortschritt nicht aus dem Wege und zeigen wie seine rücksichtslosen Darstellungen von Feindschaft, Fremdheit und (Selbst-)Destruktionszwang ihn in »eine sehr deutsche Tradition« einschreiben, wie unterschiedliche zeitgenössische Künstler wie Heiner Müller und Anselm Kiefer beobachtet haben. Historische Größe, tragisches, schicksalhaftes Handeln und Erleiden, Transzendenz, Moral oder sonstige Sinnangebote: Sie werden in Grabbes Dramen schamlos als obsolet gewordene Motive zitiert und trivialisiert. Treue, Mut und Ehre, Trauer und Wut: Sie erscheinen allenfalls als theatralische Posen. So entgleist die historische Tragik und mündet allenthalben in einem Theater, das Tragik und schicksalhafte Bestimmung als Selbstsatire entlarvt. Diese wird zwar »lautes Lachen erregen, doch im Grunde nur ein Lachen der Verzweiflung«, wie Grabbe selbst wusste. In dem berühmten »SPIEGEL«-Interview vom Mai 1969, in dem Adorno sich andauernd gegen den Vorwurf einer praxisfaulen, gewissermaßen apolitischen Attitüde verteidigen musste, wird überraschenderweise Grabbe zum Zeugen à décharge aufgerufen: »Es gibt einen Satz von Grabbe, der lautet: ›Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.‹ Das ist provokativ, aber gar nicht dumm. – Ich kann darin keinen Vorwurf sehen, daß man in der Welt, in der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei. Eher sind doch die Menschen beschränkt, die krampfhaft die objektive Verzweiflung durch den Hurra-Optimismus der unmittelbaren Aktion überschreien, um es sich psychologisch leichter zu machen.«

    [4|5] Norbert Otto Eke

    »Um so etwas bekümmre ich mich nicht«

    Grabbe und die Moral

    Moral und Herzenskälte

    »Arboga! Niegerührter! rühret dies / Dich nicht?«¹ – Die Frage des schwedischen Königs Olaf an einen der ›Großen‹ seines Reichs bleibt unbeantwortet, dabei ist sie in eine Situation hinein gesprochen, die allen Anlass bietet für ein zumindest sympathetisches Mitleiden: In den Armen seines Vaters stirbt vor den Augen des Hofs der Reichskanzler Friedrich von Gothland, niedergestreckt vom eigenen Bruder Theodor im Wahn, Friedrich habe sich aus Habgier des Brudermords schuldig gemacht. Der Appell König Olafs an das Vermögen zur Rührung und damit an das Herz als den Sitz moralischer Empfindungen verfängt nicht bei einem Mann, dessen Seele »dumpf« und dessen Gewissen »an Blut / Gewöhnt«² ist. Arboga bleibt stumm vor dem Anflug der Gefühle.

    Mit dem Grafen Arboga hat Grabbe dem ›rasenden‹ Titelhelden seines pseudohistorischen Trauerspiels »Herzog Theodor von Gothland« den Repräsentanten eines bis zur Erfahrungslosigkeit ausgekälteten Bewusstseins an die Seite gestellt, das sich mit Gott (»GOTHLAND (…) Fürst! glaubt Ihr an Unsterblichkeit? / ARBOGA Um so etwas bekümmre ich mich nicht.«³) auch der Moral als eines Regulativs sozialer Praxis entledigt hat. Während Theodor von Gothland auf seinem Weg vom Objekt einer hasserfüllten Rachehandlung zum Subjekt seines eigenen Rachehandelns den ihn hemmenden Gewissensbezug nie ganz loszuwerden vermag und sich darum eine von der Last des Denkens freie Existenz als Ideal herbeiträumt (»O wäre ich ein Vieh!«⁴), zeigt Arboga sich gleichgültig, ›unbekümmert‹, gegenüber dem normativen Charakter einer Moral, die als »Summe der intersubjektiv geteilten handlungsbezogenen Werte und Normen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens«⁵ das Handeln sowohl auf der sozialen Ebene (sozialer Mechanismus) wie auf der individuellen Ebene (in der Form von Charakterzügen oder Tugenden) anleiten zu wollen den Anspruch erhebt.⁶ Ohne zu zögern, liquidiert er so auf einen Befehl Gothlands hin 5000 schwedische Kriegsgefangene und steht auch nicht an, dessen Absicht, das komplette finnische Heer im Schlaf abzuschlachten, umgehend in die Tat umzusetzen. Seine Antwort auf Gothlands Frage »Wollt Ihrs tun?« ist ebenso lapidar wie konsequent: »Warum nicht?«⁷ Folgerichtig hat Grabbe [5|6]dem gewissenlosen Schlächter, den Gothland sich auf dem Weg in die Finsternisse der eigenen Seele hinein zum Vorbild nimmt (»Er scheint mir das zu sein, / Was ich noch werden muß!«⁸), auch die Rechtfertigung einer Herrschgewalt in den Mund gelegt, die sich durch kein moralisches Wertsystem Fesseln anlegen lässt:

    GOTHLAND (…)

    Arboga, könnt Ihr mir

    Die Rechte nennen, die ein König hat?

    ARBOGA Ein König hat gar große Rechte, als

    Das Recht der Willkür, die Befugnis zur

    Gewalt, das Recht des Völkermordes –

    GOTHLAND Hat er

    Das letztere?

    ARBOGA ohne Ironie Zum wenigsten ists von

    Den Kön’gen ausgeübt, so lange als

    Es Kön’ge gibt.

    GOTHLAND Nur eins sag an:

    Ist Völkermord ein Königsrecht?

    ARBOGA Ich glaube es.

    GOTHLAND Gottlob, Wir sind ein König!

    Arboga, für den selbst der eigene Tod ohne Bedeutung ist (sein letztes im Drama gesprochenes Wort angesichts der ihm vom König gewährten Gnade einer Hinrichtung durch das Schwert und nicht durch das Rad lautet bloß: »Meintwegen!«¹⁰), ist als Advokat eines maßlosen Souveränitätsanspruchs eine Reminiszenz an die amoralischen Größenfiguren des frühaufklärerischen heroischen Trauerspiels, das sich mit der Entfaltung tragisch modellierter Konflikte zwischen Politik und Moral gegen die im politischen Denken seit dem 16. Jahrhundert (Niccolò Machiavelli: »Il Principe«, um 1513) staatstheoretisch begründete Herauslösung des politischen Handelns aus seiner ethischen Lagerung und seiner Ausrichtung an der Staatsräson positionierte.¹¹ Die Exzesse der Herrschaft angesichts der von Arboga »ohne Ironie« geltend gemachten Superiorität der Legalität gegenüber der Moralität (als qualifizierter Praxis) vor Augen, verschaffte es am Beginn des Jahrhunderts der Aufklärung nicht nur der Vorstellung einer moralischen Regulierung gesellschaftlicher Praxis Ausdruck, sondern zugleich auch den Grundsätzen einer gewissensregulierten Ethik des politischen Handelns.¹² Ablesbar wird an ihm damit, dass die von Kant in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« (1785) und der »Kritik der praktischen Vernunft« (1788) mit dem ›Kategorischen Imperativ‹ dann auf den Begriff gebrachte Ordnungsfunktion der Moral als Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen durchaus [6|7]nicht Halt machte vor den Institutionen allgemein geltenden Rechts und auch den vom Souverän monopolistisch verwalteten Institutionen des absolutistischen Staates (Polizei, Gesetzgebung, Militär). Hier haben Figuren wie der »Menschenwürger«¹³ Timophanes aus Georg Behrmanns Trauerspiel »Timoleon der Bürgerfreund« (1741) oder der von »Ruhmbegier«¹⁴ als einem Ehrgeiz ohne Moral angetriebene »Barbar«¹⁵ Ulfo aus Johann Elias Schlegels »Canut« (1746) ihren Platz: als Vertreter einer vormodernen, von überholten Wertbegriffen (Ehre, Mut, Kampfbereitschaft, Egoismus) regierten Zeit. Als Anachronismus werden beide, nachdem alle Versuche, sie durch Zuspruch für das Verachtete (Humanität, Gemeinschaftlichkeit, Rücksicht) ›sozial‹ zu machen, gescheitert sind, aus der moralisch regulierten Gemeinschaft ausgeschieden – was jeweils nicht ohne Verluste bei denjenigen abgeht, die sich auf die Seite der Moral stellen: Der titelgebende ›Bürgerfreund‹ Timoleon steht am Ende so als ›verdienstvoller‹ Brudermörder mit blutigen Händen in der von ihm durch Ausschluss des ›Bösen‹, ›Unzuträglichen‹ und ›Widersinnigen‹ befriedeten Bürgerschaft, aus der er sich zuletzt konsequenterweise selbst ausschließt; der König Canut wiederum tritt als »Held voll Gütigkeit«¹⁶ an, muss sich zuletzt aber der politischen Einsicht beugen, »Wer nicht will menschlich seyn, sey auch nicht werth zu leben«¹⁷, was ihn allerdings dann auch zu einem »wahrhaft guten, nämlich verantwortungsbewußten König« werden lässt, der »Herz und Verstand gleichermaßen«¹⁸ einzusetzen gelernt hat. In beiden Fällen ist die Gewissensregulierung der Herrschgewalt der cordon sanitaire, den die aufgeklärte Gesellschaft gegenüber dem Rückfall ins Barbarische errichtet, der mit dem Anspruch auf absolutes Herrschertum droht, wie Ulfo und Timophanes es begehren und Arboga es legitimiert. Damit erteilen beide Stücke zugleich auch einer ›kalten‹ Staatskunst eine Absage, wie Schlegel selbst sie 1736 in seinem Trauerspiel »Die Trojanerinnen« in der Figur des Ulyß personifiziert hatte, einem seelenlosen Agenten amoralischer force majeure, der nicht etwa wie Canuts der »Menschheit ganz entrissen(er)«¹⁹ Gegenspieler Ulfo mit irrlichternder Leidenschaftlichkeit agiert, sondern vielmehr mit souveräner Herzenskälte – ohne Gewissen.

    Reflektiert das heroische Trauerspiel der Frühaufklärung so die Einsenkung des »Princip(s) der Moral«²⁰ in das politische Handeln, führt Grabbes Werk wieder die anhaltende Trennung beider Bereiche vor Augen und verabschiedet damit den Glauben an einen als Moralisierung verstandenen Fortschritt, der im 18. Jahrhundert noch den Aufstieg des Bürgertums befeuert hatte.

    [7|8] Politik und Moral

    Hegel fordert in seinen »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« dazu auf, ›Größe‹ und ›Moralität‹ zusammenzudenken, wenn er von den ›großen‹ Menschen sagt, sie seien ›groß‹, »eben weil sie ein Großes, und zwar nicht ein Eingebildetes, Vermeintes, sondern ein Richtiges und Notwendiges gewollt und vollbracht«²¹ hätten. Das nämlich schränkt die Zwecksetzung politischen Handelns gerade im Hinblick auf seine Ansicht, wonach ein »welthistorisches Individuum (…) ganz rücksichtslos dem einen Zwecke« angehöre,²² notwendigerweise vonseiten der Moral ein (»Richtiges und Notwendiges«). Grabbes Figuren sind weitgehend immun gegenüber einer derartigen Einschränkung ihrer Souveränität durch das »Princip der Moral«²³, wobei ihnen im Unterschied zu den ›Heroen‹ des frühaufklärerischen Trauerspiels durchaus keine Gefahr von einer moralischen Gegenkraft droht – eine solche gewinnt erst in der Vision des sterbenden Augustus vom Aufstieg des Christentums am Ende von Grabbes letztem Stück »Die Hermannsschlacht« ansatzweise Gestalt –, sondern vonseiten der Mediokrität einer in Partialinteressen

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