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TEXT+KRITIK 205 - Ulrich Holbein
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eBook188 Seiten1 Stunde

TEXT+KRITIK 205 - Ulrich Holbein

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Über dieses E-Book

Ulrich Holbein (geb. 1953) ist ein ganz und gar eigenwilliger Autor und eine einzigartige Erscheinung in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Grund genug, ihm ein TEXT+KRITIK-Heft zu widmen! Eine "mit wissenschaftlicher Genauigkeit operierende Sammel-, Zitier- und Verknüpfungswut" (Philipp Böttcher) prägt sein vielseitiges essayistisches, erzählendes und poetisches Werk ebenso wie philosophischer Witz und ironische (Selbst-)Kritik. Das Heft, von einem furiosen Text Ulrich Holbeins eingeleitet, umfasst ein Werkporträt des 'Zuspätromantikers', Beiträge über den spezifischen Humor Holbeins, über seine Beziehung zum Roman sowie über seine Poetik der Sinne und analysiert Holbeins sprachkritische Kolumnen und Hörspiele sowie die Intertextualität im 'Roman' "Isis entschleiert". Eine Auswahlbibliografie beschließt den Band.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. März 2015
ISBN9783869164175
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    Buchvorschau

    TEXT+KRITIK 205 - Ulrich Holbein - edition text kritik

    Notizen

    Ulrich Holbein

    Wer werd ich gewesen sein?

    So heiß hier! So grau hier! So laut hier! So voll hier! Voller denn je! Schlimmer denn je! Das macht uns kaputt! Das stehn wir nicht durch! Das halt ich nicht aus! Nichts wie weg hier! Nix wie fort hier! Nix wie raus hier! Alles so farblos. So hirnlos! So sinnlos. So keimfrei. Alles so trist. Alles so fad. Alles so öd. Raus aus dieser Steinwüste! Aus dieser Trockenwüste! Aus dieser Kulturwüste! Da – ein Nebengässchen – ein Notausgang – eine Seitennische! Schön hier … tief einatmen … hier ist es ruhig wie im Märchen … och, wie süß, diese Sonnenstäubchen … Vögel, die da so zwitschern … alles superplastisch … wundersam gläserne Mailuft … durchsummte Seligkeit – hast du mir was in den Muckefuck geträufelt? Irgendwas durchströmt mich … aaah … ächzen könnt ich vor Wollust … rein mental natürlich … wird wohl just mein Neocortex mit Endorphinen geflutet … oder Dopaminen!? Heißt das, jetzt gehts an den Kragen … gleich kratz ich ab, oder? Diesmal aber wirklich … fühlt sich übrigens gar nicht so verkehrt an … schnell nochmal kurz an Mozart denken … ein wenig Glut schlürfen und Licht trinken … fänd ich meine Lesebrille wieder, könnt ich entziffern, was auf dem Tropf steht: »Glucose 5 Braun«. Wenn sich mein Zustand stabilisiert, darf ich vielleicht morgen schon wieder Brei essen. So oder so – in 22 Jahren werd ich seit 21 Jahren tot sein. Neulich, bevor ich 81 wurde, durfte ich nicht in Filme ab 18. Wenn ich einmal sterben muss, dann mach ich so lange was anderes! Denn neulich begann ich zu altern – falls ich für so was Zeit fand. Neben Gneis, Granit und Quarzit komm ich mir als Mümmelgreis blutjung vor, gerade­­zu minderjährig – kurzlebig wie Korkeichen, Riesenschildkröten und andere Amöben und Ephemeriden. Immer hörbarer ruft die Familiengruft – zur Strafe, weil ich die Nase von Blutwurstesser Fritz Holbein trag? Geduld, ihr schwankenden Gestalten, ihr Nörgeltanten und Strumpfwirkermeister, ihr angeheirateten Trampeltiere – ich komm ja gleich. Von den Vorteilen, die meine Nichtexistenz nun bald mit sich bringt, hab ich dann nicht mehr viel. Nur weil irgendein lächerliches Mitglied des unausstehlichen Clubs, der meinen Organismus konstituiert, die Mücke macht, soll meine Sehnsucht zugrunde gehn, mich von ebendiesem Club loszueisen? Was kämpfst du so ums Überleben? Es gibt doch genug andere Prachtexemplare, siehe Bevölkerungsexplosion!

    Doch mein Corpus Delicti kämpfte, haderte und quengelte, als wär ich das erste, letzte und einzige Vorzeige-Geschöpf auf der ganzen, überbesetzten Welt. Obwohl ich jede Variante meines Todes x-mal durchspielte, kam es dann ganz anders. Der Schutzengel in mir hielt dem Serienkiller in mir das Handgelenk nicht mehr fest. Dr. Pollmächer gab mir, statt Hoffnung, Klartext. Buddha sprang mir nicht bei. Krebs streute. Letzte Worte und souveräne Sterbebettscherze, die ich mir in meinem Œuvre (mein Buch­titel »Weltverschönerung« lag mir auf der Zunge) rechtzeitig zurechtgelegt hatte, verkrümelten sich zwischen Nostalgie-Resümee, Lebermetastasen und Nachtpott. Oma ging mir voran – neulich erst. In heranschleichender Nacht klammerte ich mich an den Guckkasten meiner abgesunkenen Kindheit. Doch Alzheimer verengte meinen Tunnelblick. Mnemosyne schlief auf meinem Bypass ein. Lethe verschusselte meine Teilprothesen. Ein Skelett im Halbrelief blies Seifenblasen. Gevatter Tod zwang nun auch mich, jedes einzelne unersetzliche Memogramm, voll schöner Dualseelen und Liebgesichter, binnen zwölf Sekunden für immer loszulassen.

    Vorher Unikum und Individuum – hinterher Standardsarg und Reihengrab (statt Ökosarg). In aller Stille wurde ich verscharrt, natürlich in Allmuthshausen, obwohl mein letzter Wille ganz anders gelautet hatte. »Das ist kein Testament; das ist ein literarischer Text!« Nicht jede Trauermiene ging hundertprozentig in stilechter Trauerarbeit auf. Ein sinnloser Männerchor intonierte talentvoll: »O welch ein edler Geist ist hier zerstört!« Ein Aufjaulen der ganzen Schöpfung, angesichts meines Heimgangs, kam stellenweise durchaus zu Gehör, bevor weinende Kaninchen und sedierte Eisbären dann übertönt wurden von Baustellen und explodierenden Fleischwölfen. Doch zack – the band played on; man ging bald wieder zur Tagesordnung über (Proteinzufuhr, Coitus ohne Ende, TÜV, ADAC, CDU). Meine Groupies, Stalkerinnen, Lyrikerinnen und Lieblingstiere verschmerzten mich problemlos. Meine Medieneinheiten standen verwaist herum, so ganz ohne mich. Mein Konterfei wurde im Winterschlussverkauf schnell von der Rigipswand gerissen. Mein Testamentsvollstrecker (Herbert Müller, Nenterode) fand sich im Zettelchaos nicht zurecht und war außerdem selber just mit Abkratzen vollauf ausgelastet. Nicht mal ein belangloser Platz in Darmstadt wurde nach mir benannt, obwohl ich 1972 dort wochenlang gewohnt und wohlgeformte Zierscheiße verfasst hatte, meine Erste Griesheimer Elegie, asklepiadeische Oden und nicht zuletzt meine Zweite Bickenbacher Elegie. Vor die pitschenackten Freuden des Lebens ward mir ein Riegel geschoben. Nirgendwo ein Schlüsselloch, durch das ich aus meiner Nichtexistenz ein wenig herüberäugeln gedurft hätte. Milliarden Aggressivlinge und Dumpfbeutel durften überleben, nur einzig ich nicht. Vorher hatte ich mir vorgenommen, hinterher nochmal ganz kurz irgendwas zu vermissen, zum Beispiel mich. Hinterher vermisste ich mich null Mal, null Komma null – Freunde, wir habens geahnt. Dass nicht nur ich jetzt von uns ging, sondern zudem die Deutschen in toto ausstarben – Chinas Außenministerium gelobte, uns in guter Erinnerung zu behalten. Von Dao und Nirwana her gesehn, bliebs schnuppe, obs mich mal gab oder nie gegeben hatte. Auf tausend Friedhöfen ruhten alle, die nie erfahren werden, wie gern sie mich gelesen hätten. Als ich vors Jüngste Gericht trat, ward mir im Posaunenlärm vorgeworfen: »Wieso bist du nicht Goethe gewesen?« Ich war immerhin ab und zu Ulrich Holbein gewesen – als wenn der jemand gewesen wär. Das ward mir aber nicht als mildernder Umstand zugute gehalten. Dass sterbliche Spatzen mich von fortbröckelnden Dächern pfiffen – beinah hätt sichs rumgesprochen. Marbach kaprizierte sich jetzt ganz auf hochtrabende Elegien von Dichterpriestern – George, Handke, Grünbein – und gewährte dem pfiffigen Output von Hordenclowns à la Rühmkorf, Henscheid und mir bloß noch pro forma Asyl hinter desolaten Brandschutztüren. Obwohl ich mich als Exhibitionist überhaupt nie gegen Volkszählung und Datenklau gewehrt hatte, klammerten sich Google und Wikipedia im ausflockenden Infogewimmel bloß noch an die irrelevante Schuhgröße von Ulyversum Unwiederholbein. Die Spur meiner Erdentage verglomm im Durchgangsbahnhof der Äonen.

    Gras wuchs über die Sache, Ziergas, Seegras, Golfrasen, Asphaltpflanzen. Aus meinem Jahrhundert züngelte nur noch ein Name hervor: Adolf. Doch nach wenigen Generationen schrumpfte auch dieser zur Fußnote in der statistischen Hightech-Gipfelkette all der nach ihm kommenden Mega­töter, alias: Völkerschlächter, alias: Blutsäufer. Als dann 4 km Packeis sich auf Europa schob, hatte kein Hundeschlittenfahrer und Bärenhäuter mehr Muße, Bibliothekskadaver der Prähistorie auszugraben. Zur Strafe, dass ich den altindischen Irrwahn der Reinkarnationslehre für immer widerlegt hatte, kam pausenlos ein neuer heißer Schoß in Sicht, um mich mit Presswehen der verschneiten Welt hoffnungsvoll zurückzugeben. Dann ging alles von vorne los, Ringelpietz, Sommerwetter und: »Essen kommen!« Meine Herkunft, meine Family – Schwamm drüber. Dreißigtausend Jahre lang quasselte und textete ich als Bärenfell-Schamane meine Leute zu – und warum? Aus Angst, mein Musengeflüster zu übertönen mit Keiltafelgehämmer und Thesenanschlägen, schob ich die Erfindung der Knotenschrift vor mir her. Als vorauseilender Natural Born Softie und Vegetarier kam ich so oft wie möglich als Frau zur Welt, um nicht Jäger sein zu müssen, sondern um bei den Sammlerinnen mitzulaufen. Am Anfang beschützte mich mein Schutzengel ziemlich oft. Bei meiner Einschulung mit Seekuhsahneeistüte ahnte ich noch nicht das ganze Ausmaß meiner baldigen Sterblichkeit. Immer, wenn ich als Kind Angst vor Krieg hatte, sagte meine liebe Mutti: »So schnell stirbt sichs nicht« – und das stimmte eigentlich immer. Später sagte sie dann manchmal: »Das kann manchmal ganz schnell gehn« – und das stimmte dann leider immer öfter. Obwohl ich haargenau dieselbe Nase im Gesicht trug und denselben Stuss redete wie alle Leute, riefen diese mir zu: »Du kommst dir wohl als was Besseres vor!« Fand man, dass ich abwich? Wer 1700 v. Chr. nicht kollektiv auf mir herumhackte, verlängerte die Steinzeit, indem er in eine Steintafel des Gischgimmasch- bzw. Gilgamesch-Epos die inhaltsschweren Worte hineinstieß: »Einem Wanderer ferner Wege gleicht sein Antlitz.« Da stands nun grau auf grau, und ich stand daneben und neben mir und benahm mich daneben. Oft rief ich: »Sesam öffne dich!«, doch Sesam blieb zu. Kaum stand ich vor der letzten Idylle, stand dort ein Schild: »Bitte keine Reklame einwerfen!« Kaum stand ich vorm Paradies, stand dort: »Einfahrt freihalten!« Ich aber wollte dem Kaukasos zu! Fernweh züngelte aus mir hervor, Reisefieber, Orientsehnsucht, und so schrieb ich denn als Erstklässler und Wunderkind mein erstes selbstverfasstes archaisches Juvenilium, 1959 n. Chr., und das lautete so: »MUTTI WILL IN INDIEN + ULI WILL IN INDIEN + OMA WILL EIN EIS + AUCH NACH INDIEN + AFRIKA + NOCH EIS«. Seltsame Dinge, in denen ich mich kaum wiedererkannte, berichtete das Mahabharata über mich, verfasst von x anonymen Windessern, zwischen 500 v. Chr. und 500 n. Chr.: »Zuletzt stand er sechs Monde lang auf einem Bein und aß nur Wind.« Oft schwebte ich über den Dingen, in die ich schmerzhaft verstrickt blieb. Neulich schwebte ich nicht über dem Kosmos, der mich enthielt. Zwischendurch starb ich ziemlich lästig so für mich hin, stolperte durch wechselnde Urzeitmärchen und vertrieb mir mit vorsintflutlicher Reimkunst die schweren Zeitläufte: »Plötzlich ging es Mu, / da kam noch eine Kuh, / nun hatten sie Kuh und Bär, / und gingen hin und her, / die Kuh war noch ein Kalb, / nun gingen sie nach Haus bald, / hinterher / gingen Kuh und Bär, / plötzlich kam ein Reh das hieß Bambi / und ein Mann der hieß Bowambi, / nun kamen 4 hinterher, / aber am größten war der Bär.« Dann wieder wollte ich mehr, als mir genügte. Gern hätt ich mich mal so richtig ausgeweint, über Jahrhunderte hinweg, zum Beispiel da­­rü­ber, dass ich dauernd zwischendurch sterben musste und mich deshalb nie im Stück ausweinen konnte, über Jahrtausende hinweg. Religion hätt ich mir ja gefallen lassen, wenn sie ein wenig höher gehangen hätte! Kunst hätte so schön sein können, wenn sie ein wenig schöner ge­­wesen wäre! Immerhin: Postum machte man gelegentlich was aus mir; et­­welche ersatzvaterkomplexbeladenen Dussels huben an, mich förmlich zu vergötzen, auf hethitischen Tontafeln, in der Zeit des Schuppiluliuma um 1350 v. Chr.: »Ullikummi wuchs schnell, bis er den Himmel erreichte. Und alle

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