Die verlorene Bibliothek: Autobiographie einer Kultur
Von Walter Mehring und Martin Dreyfus
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Über dieses E-Book
Walter Mehring
Walter Mehring (* 29. April 1896 in Berlin; † 3. Oktober 1981 in Zürich) war ein jüdisch-deutscher Schriftsteller und einer der bedeutendsten satirischen Autoren der Weimarer Republik.
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Die verlorene Bibliothek - Walter Mehring
Walter Mehring
Die verlorene Bibliothek
Autobiographie einer Kultur
Mit einem Nachwort von Martin Dreyfus
Elster Verlag • Zürich
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichne diese Publikation in der deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2013 by Elster Verlagsbuchhandlung AG, Zürich
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www.elsterverlag.ch
ISBN 978-3-906065-64-9
E-Book-Herstellung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
Umschlag: dreh GmbH, unter Verwendung eines Bildes von George Grosz. © George Grosz | VG Bild-Kunst via Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin
Meiner Frau
In Liebe heute – wie ich einst Europa liebte
Inhalt
POST SCRIPTUM: AN DEN LESER
Erster Teil
MEINES VATERS BIBLIOTHEK
ERSTES KAPITEL:
Die Regimenter des Fortschritts · Die Bücherschlacht in der St. James’s Library und der Große Weltkrieg · So viele Leichen und keine Seelen · Der Tod und der Aufklärer
ZWEITES KAPITEL:
Von Märchenhexen und Hexenprozessen · Vom Geschlecht Davids bis zu den israelitischen »Rougon-Macquart« · Satanische Genetik der Himmlischen Eingebung · Von den »Künstlichen Paradiesen« bis zu den »Journées de Sodome« · »Ergötzliche« Perversitäten
DRITTES KAPITEL:
Intermezzo »Das Liebeskonzil« · Von irdischer Obrigkeit und Teufelsunschuld · Aus »Klingsors Zaubergarten« mit Strindberg »Nach Damaskus« · Ohne Gott und Liebe – Marx: »Das Kapital«
VIERTES KAPITEL:
Die drei Einheiten · »Entweder/Oder«: Alles oder nichts! · Hauptmann contra Sudermann im Bühnenring · Salto mortale des Intellekts Pubertätstragödien und Traumspiele · Die Konstante
FÜNFTES KAPITEL:
Das »Wachsende Schloß« und die Abtei von Thélème · Die Guillotine der Freiheit · Baudelaires »Entblößtes Herz« und Schiffbrüche am Magnetpol der Schönheit · Das Zeitalter der Mörder und die Bibliothek der Heiligen Genoveva · »O saisons! O châteaux!«
SECHSTES KAPITEL:
Die prophetische Vision des Arthur Rimbaud · Das »Allbuch« und das neue Glück · Die »Strategie der Verführung« – Seelenblindheit und der leere Raum · Die unverdauliche Hexensuppe der Madame Blavatsky · Auf medialem Wege über die »Anima Mundi« zu Swinburne’s Sprachorgel · Pre-Raphaelites – Futuristi – ein letzter Dandy und Stramms rasante Rhythmen · Expressionen
SIEBTES KAPITEL:
Vom Caféhaus und vom »Verlorenen Paradies« · Abschied vom Preußentum im »Größenwahn« · Schach der Erotik und dem Kapital · Pfemfert – Walden und der »Silen im Sakko« · Die Dadaistische Manifestation zu Weimar und die Rückkehr zu den Wilden
ACHTES KAPITEL:
En rétrogradant · Volksverbunden und bodenständig · Salonhyänen und Finanzhaifische im Höllenrachen der Tradition · Mystik und Aberglaube · Mit Jona im Bauch des »Weißen Wals«
Zweiter Teil
DIE VERUNTREUTE BIBLIOTHEK
NEUNTES KAPITEL:
»Kritik der reinen Vernunft« · Sibirischer Wettereinbruch und rotes Schneesturm-Epos · Kantianer mit Schwert und Beil · Begegnung mit dem Geist der Bibliothek · Ein deutscher Danton: Toller
ZEHNTES KAPITEL:
Monolog mit dem Geist der Bibliothek · »Austria Erit In Orbe Ultima …« · Von der »Wunderschönen Dame« · Von literarischer Ehre und fruchtbarer Eitelkeit · Die Tragik des Sprachathleten · Von der Geburt des Surrealismus · Reiz und Irrtum
ELFTES KAPITEL:
Wo bleibt die Moral? · Von der Entpersönlichung bis zur Umschmelzung des Menschen · Die Wollust der bräutlichen Maschine · »Circe« und »Lady Chatterley« · Fluß-Gott des Blutes
ZWÖLFTES KAPITEL:
Pestvögel in Sicht · Abstecher ins tschechische Prag · »Tiere in Ketten« · Über Franz Kafkas »Verwandlung« und den »Augenzeugen« Dr. med. Ernst Weiß · Wach- und Traumbiographien
DREIZEHNTES KAPITEL:
Heldenromanze mit »Harfenjule«-Liedern · Sturm im Tintenfaß · Etüden in fremder Mundart und »Kulturelle Blutschande« · Von Riesenfriedhöfen und gekrönter Schamlosigkeit · Im Orden der Trunkenbolde zur Beichte beim »Heiligen Trinker« · Der Höllensturz der Bibliothek · Ausgeplünderte Bildungsopfer und verstreutes Gedankengut im toten Brunnen · Seelen-Wüsten-Wanderung
Epilog
AUF EINER NEW-ENGLAND-FARM:
Abstand von böser Erinnerung · Sommergast im Land der »Ziegenmelker« · »Gott ist die Liebe!« · Der »Schwarze Mönch« · Sturmwind über Paris · Halbwahrheiten · »Hinaus! Nichts als hinaus!«
NAMENSVERZEICHNIS
Nachwort
MARTIN DREYFUS:
WALTER MEHRING – AM RAND DER ZEIT
Post scriptum: An den Leser
»Autobiographie einer Kultur«
Den Untertitel gab Professor Barzun (von der Columbia University, New York), dem der amerikanische Verlag die englische Version (von 1946) zur Begutachtung vorgelegt hatte. Und so mag diese Benennung auch in die Neufassung übernommen sein, die – erweitert und so verändert, wie das zu geschehen pflegt, wenn man sich selbst nachliest – dem ursprünglichen Plan folgt und den gleichen Richtlinien, nämlich: der Auseinandersetzung aus dem Gedächtnis mit einem angelesenen, geplünderten, auf zweimaliger Flucht endgültig verlorenen Büchererbe.
»… es lag mir«, wie es im ersten Teil gesagt steht, »nicht so sehr an den Büchern im einzelnen, als vielmehr an jener historisch, ästhetisch, philosophisch einmaligen Konfiguration, wie sie sich in der Bibliothek meines Vaters, in seinem speziellen Horoskop des XIX. Jahrhunderts eingestellt hatte.«
Es war eine Probe, die man bei jedem Vermächtnis machen sollte: wie weit stimmt das noch? – und eine Selbstprüfung: was hast Du eigentlich davon noch behalten?
Es wurde eine Konfrontation mit den Büchern und Autoren und ihren Schicksalen – den fata meiner Generation-, doch ausschließlich mit denen, die im Augenblick der Niederschrift mir wahrhaftig, erinnerungsgetreu dazu einfielen. Dies bildete das einzige Kriterium!
So auch erklärt es sich, entschuldigt es vielleicht nicht, wenn sehr viele hervorragende Schriftsteller fehlen, die in der Bibliothek meines Vaters standen – und ebenfalls manche neuere, denen heut’ unsere respektvolle Bewunderung gebührt.
Ob auch morgen noch? Das hängt von uns nicht mehr ab; sondern allein von der Nachwelt – falls es noch eine geben sollte – oder von den Ereignissen, die ihr noch bevorstehen.
Ich habe mich strikt an mein Gedächtnis gehalten, mit dem ich vorlieb nehmen mußte wie mit dem verwohnten Mobiliar des basement in einem abbruchreifen Brownstone-Haus, Manhattan uptown.
Als Vorübung kam mir nun der Aufenthalt in einem Vichy-Frankreich-Lager (Saint Cyprien) für feindliche Staatenlose zustatten; mit seiner zur Gewohnheit gewordenen Alltäglichkeit von Stacheldraht; Typhus; und Müßiggang, der bekanntlich aller Laster Anfang ist – und somit auch der Literatur.
Bei meiner Einlieferung waren, wie jedem der circa 5000 Zwangs-Asylberechtigten unter dem Jochbogen zur pyrenäischen Flugsandwüste, so auch mir alle Habseligkeiten abgenommen worden – 250 Papierfrancs, ein Päckchen »Caporal«-Zigaretten – und ein Schullesebändchen (Alphonse Daudet: »Tartarin«), das ich noch rasch in Elmes in einer Papéterie gekauft hatte; das Letzte – bis auf Hemd, Hose, espadrilles und mein notdürftiges Erinnerungsvermögen.
Es lagerten (denn zum Aufrechtstehen bot Platz bloß der Mittelgang zur Unrattonne) in der Dachpappenbaracke des (Straf-)»Ilôt spécial« circa vierzig »Ehemalige«: Ex-Minister, Ex-Exzellenzen, Ex-Irgendetwasgewesene; u. a. vier Rechtsanwälte, die mit selbstmarkierten Pappstückchen Skat kloppten; zwei Spanienkämpfer, die einander das »Kommunistische Manifest« abhörten; ein (Wiener)Arithmetiker, der schwierige Zahlenkolonnen aus dem Kopf multiplizierte und dividierte; ein jugendlicher (Berliner)Arbeiterdichter, der seine Barrikaden-, Freiheits- und (homosexuellen)Liebesgedichte uns und sich vortrug.
Aber eben von dem Gedankenaustausch mit ihm – in Ermangelung von etwas Brauchbarerem (und von Schreibpapier) profitierte ich viel für die späteren Aufzeichnungen; um so mehr, als auch er Berliner war; – mich schon früher »dem Namen nach gekannt«, ein paar meiner Verse in Carl von Ossietzkys »Weltbühne« gelesen hatte, ja, sogar ein Chanson auswendig wußte – was mir, obwohl gerade dies nicht von mir war, doch sehr schmeichelte.
Sein Bildungshunger und -durst schien infolge der fleischlosen Gefangenenkost in rostigen Konservenbüchsen so unersättlich, infolge Sexualabstinenz wie ein Danaidenfaß so bodenlos, daß er mir bereitwillig, ja gierig zuhörte, wenn ich als Gegenleistung für seine poetischen Ergüsse auch mein Herz, meinen Kummer über die verlorene Bibliothek vor ihm ausschüttete; den ganzen Inhalt – Ästhetik, Belletristik, Erotik, Schmutz und Schund.
Denn schließlich – wie Hermann Kesten schrieb: »… wie alle Schicksale sind auch jene der Exilierten nur in den Einzelheiten verschieden, in den großen, entscheidenden Zügen (aber) einheitlich …«
Grauenvoll einheitlich!
Genau so für jene, die emigriert wurden, wie für irgendeine »innere Emigration« … für jeden der Bewegungs- und Meinungsfreiheit Beraubten.
Nichts schien mir (es war einmal) so sagenhaft unwahrscheinlich, wie: irgendwann mal noch der Anblick eines weiblichen Wesens – oder die Aussicht, an einem Schreibtisch zu sitzen – irgendwo.
Daß ich doch noch zu beidem gekommen bin – in meiner Ehe mit Marie-Paule, einer französischen Malerin aus Dijon, und in unserem living-room basement, 89 street West – verdanke ich meiner egozentrischen Eitelkeit und sonstigen mehr oder weniger obskuren Motiven dieses Buches,
das, Gott behüte uns alle davor, keine Endlösung ist, eine Notlösung! AMEN!
Walter Mehring
Erster Teil
Meines Vaters Bibliothek
Die mit einem * bezeichneten Übersetzungen ins Deutsche der im folgenden zitierten fremdsprachigen Texte sind vom Autor besorgt worden.
Erstes Kapitel
Die Regimenter des Fortschritts
Die Bücherschlacht in der St. James’s Library und der Große Weltkrieg
So viele Leichen und keine Seelen
Der Tod und der Aufklärer
Gewohnt habe ich zum letzten Male wohl in Wien, bevor es stürzte. Denn dort hatte ich noch alle Bücher um mich, aus meines Vaters Bibliothek, und konnte mich zu Hause fühlen. Wie oft seitdem das Landschaftsbild im Fensterrahmen gewechselt hat – und ein paar Mal war es vergittert –, vermag ich mir nicht mehr zu vergegenwärtigen. In Wien stand noch mein Büchererbe vor seinem Fall – ins Exil gerettet dank der Komplizität der Berliner Tschechoslowakischen Gesandtschaft, dank der Kollegialität ihres Attachés, des Lyrikers Camill Hoffmann (aus der Prager Dichterrunde der Werfel, Meyrink, Kafka, Capek, die alle etwas kabbalistisch angehaucht waren); – ihn aber hat man später in einem Brandofen vernichtet.
Überallhin früher, als ich noch auf Reisen ging statt auf die Flucht, hatte ich stets ein paar Bände mitgenommen – für jedes Klima:
H. C. Andersens »Erzählungen« nach Odense – (sein provinzlerisches Giebelhaus und die Gasse, wo jeder Andersen hieß, rochen nach Museum; im säuberlich modernden Salon warteten »der trauernde Zylinderhut«, die ausgetretenen »Galoschen des Glückes« und ein verbeulter Koffer, auf dem man aber durch den Kamin fliegen konnte, wenn man auf das Schloß drückte – und andere seiner Hauptpersonen, als wäre H. C. nur eben mit Spitzenhäubchen und Schürze transvestiert auf einem Altweiberklatsch in der Nachbarschaft).
Captain Marryat, Sealsfields »Kajütenbuch«, und – für den Notfall: Jules Vernes »20 000 Meilen unter dem Meeresspiegel« auf meine erste Seesturmfahrt Hamburg-Newcastle auf einem Kohlenfrachter.
Des Louis-Sébastien Mercier prophetisch-satirische Reportagen aus den letzten Tagen des Absolutismus: »Tableau de Paris« und Balzacs »Comédie Humaine« zur lange vorgeplanten Übersiedlung nach Paris – noch immer die brauchbarsten Führer im Umgang mit französischen Ämtern, Justiz und Presse.
Ovids »Metamorphosen« ans Mittelmeer, wo sie sich in Olivenhainen um die Gespensterstunde Pans ereignen, wenn die Sonne im Zenit steht.
Immer und überallhin den Cervantes, als erste Hilfe und als Herzenstrost für jede Torheit – und als Textbuch zur Freiheitstravestie der letzten Spanischen Republik, die als schlechte Tragedia Soldades des verwaisten Sancho Pansa und des ritterlosen Rosses Rosinante endete.
Den »Exodus« in die saharische Pyramidenstadt Ghardaja – im algerischen M’zab –, wo die Abaditen hausen, in ihrer islamischen Verbannung, unter ihnen die letzten authentischen Israeliten, die sich »Ishuruni« nennen: die »Aufrechten«.
So hatte ich noch überall meines Vaters Bücher um mich gehabt, ein Stück Zuhause …
Und als ich die Bibliothek im Stich lassen, als ich Hals über Kopf aus Wien auf und davon mußte – sodomitisches Gegeifer spie mir aus jedem Gassenschlund entgegen –, als ich, dem anrasenden Mob ausweichend, durchs Parkdunkel zum Westbahnhof hastete, vorbei unter dem öden Doppelfenster meines Lese-, Wohn- und Schlafzimmers, da begriff ich plötzlich den Exils-Rat der Engel an Lot: nach Sodom und Gomorrha sollte man sich nicht einmal umsehen … Und ich wandte mich ab, um nicht zur Salzsäule zu erstarren.
Ich ließ den Schutzwall hinter mir, den einst mein Vater mir errichtet hatte – aus Tausenden von Bänden-, jeder ein Anathema seiner weißen Aufklärungsmagie, kraft der er, der fortschrittsgläubige Atheist, sich gegen die Rückfälle ins Werwolftum gefeit geglaubt hatte.
Gefangene nun, doch nicht entwaffnet, zum Schweigen nicht zu bringen, trotzten die Bücher weiter, Schulter an Schulter, widerstandsbereit – und stritten sich untereinander noch weiter über Gott und die Welt.
»Gott ist, weil meine Vernunft ihn in der Weltordnung so ansetzen muß wie die Geometer ihre Figuren …«, fingen die Cartesianer an.
»Gott ist gewissermaßen aus einem Destillationsprozeß der vielen Götter entstanden …«, fiel ihnen der Materialist Friedrich Engels ins Wort, ohne ihre schwache Stelle in der Vernunftskette bemerkt zu haben.
»Gott ist ein gasförmiges Wirbeltier …«, knurrte hinter seinem darwinistischen Katheder Universitätsprofessor Ernst Haeckel (Jena), forschend, ob sich noch ein Laie einen Einwand erlauben werde.
»Das große Eiapopeia vom Himmel …«, mischte sich ungefragt der vorlauteste aller Literaten, Heinrich Heine, ein, dem mein Vater jede Ungezogenheit gestattet hatte.
Aber Stendhal dekretierte kurz und bündig: »Die einzige Entschuldigung für Gott ist, daß es ihn nicht gibt.«
»Selbst wenn …«, dröhnte die Stimme Baudelaires, »selbst wenn es Gott nicht gäbe, würde die Religion immer noch geheiligt und göttlich sein.«
Doch da ging der Tumult von allen Seiten los: »Snob! Renegat! Reaktionär!«Und um ihn beizulegen, hatte mein Vater dann immer, zur Wut des Baudelaire, den Voltaire herbeizitiert:
»›Diese Herrlichkeit kann nur ein Maulwurf geschaffen haben!‹, sagte der Maulwurf. – ›Unsinn! Ein Maikäfer!‹, sagte der Maikäfer.«
»Sic!« hatte mein Vater an den Rand geschrieben. Und da er eine göttliche Vertrauensseligkeit in die Aufklärung der Gattung Mensch besaß, hatte er sich als »Dreyfusard« zu sechs Monaten Festungshaft verurteilen lassen, um in den Orden der Irreligiosi aufgenommen zu werden.
»All die Bücher werden Dir einmal gehören, wenn ich tot bin«, hatte mein Vater gesagt, so oft ich mir einen Band ausleihen kam. Das also sollte mein Erbe sein. Auch der breite Mittelschrank, den die schwierigen Griechen und Lateiner okkupierten: die Plutarch, Thukydides, Tacitus, Sueton, die ich als verzwickte Aufsatzthemen, als Turnübungen der Deklination und Konjugation (mit Aorist-Hindernissen) betrachtete. Wie hätte ich da denn vorauswissen sollen, daß aus den studierten Söhnen der Geisteselite, die zu Bayreuther Weihfestspielen wallfahrtete, über Maeterlinck-Debussys »Traumtempel« sich verwunderte, Zarathustras »Trunkenes Lied« litaneite, darwinistischer Zuchtwahl sich unterwarf, an den sozialistischen Bußpredigten der Jean Jaurès, August Bebel sich erbaute – wie hätte ich ahnen können, daß aus meinen Konpennälern ein Geschlecht von Praetorianern, Folterknechten, Rekordamokläufern, Progromopfern heranwuchs; daß ich noch einmal selber einer bluthemdigen Krypteja, neronischen Brandstiftern leibhaftig begegnen sollte; … daß ich das ganze Pensum: »ὃ μὴ δαρεὶς ἄνδρωπος οὐ παιδεύεται!« »Dulce et decorum est pro patria mori!« – »Bellum civile«, »bellum gallicum«, von Gymnasiastenschindern auf humanistischen Kasernenhöfen uns eingebleut, in mörderischem Anschauungsunterricht würde nachsitzen müssen.
In die Klasse nahm ich mir ein paar »ungereinigte« Klassikerausgaben mit – so fiel es nicht weiter auf – zum Privatstudium unter dem Pult: die »Hetärengespräche«, die »Ars amatoria«; Catull (»Ac me facit delicias libidinesque …«; das habe ich bis heute behalten!). Bloß auch dies gehörte unwiederbringlich dem Altertum an wie die marmornen Torsos der Venusbusen und -hinterbacken. Denn was ich von der Damenwelt und Halbwelt zu sehen bekam, war in Korsetts eingeschnürt und in sackförmige Schlepproben eingewickelt.
Durch gar nichts war ich für ein Märtyrerleben vorgeschult, das ich heute führen müßte, um so gerecht, so standhaft zu bleiben, wie das mein Vater in seiner entwaffnenden Ahnungslosigkeit des Kommenden mir beigebracht hatte:
»Justum et tenacem propositi virum
Non civium ardor prava iubentium
Non voltus instantis tyranni
Mente quatit solida.«
sagt der alte Horaz.
Dem Mann des Rechts,
der fest am Entschlusse hält,
macht nicht die Volkswut,
die ihn zum Schlechten drängt,
nicht eines Zwingherrn drohend Antlitz
wanken den stetigen Mut.
Doch ein Verdacht stieg früh schon in mir auf, als ich einst im Bibliothekszimmer den mündlichen Bericht eines russischen Pressekollegen meines Vaters über die zaristischen Polizei-Verfolgungen, über die Kerker der Peter-Pauls-Festung und die sibirischen Strafkolonien mit anhörte. Mein Vater hatte mir gerade kurz zuvor Dostojewskijs »Totenhaus«-Memoiren zu lesen gegeben – und das »Sibirien« des amerikanischen Heldenjournalisten Kennan, die erste Reportage eines neutralen Augenzeugen, der sich mit gefälschten Deportationspapieren hatte verschicken lassen und der mit entwendeten Geheimkabinett-Orders des Zaren zurückgekehrt war, um durch Dokumente die freie Weltmeinung aufzurühren.
Der letzte Besucher, den mein Vater in seiner Bibliothek empfing, war der Student und Kriegsfreiwillige Ernst Toller, der ihm ein paar schüchterne Anfängergedichte vorlegte – unterwegs zu den Schützengräben des Ersten Weltkrieges.
Eine Stunde später stürzte mein Vater mir in die Arme, mitten im Vorlesen, mitten in einem Satz aus Kants »Kritik der reinen Vernunft«.
»Halte mich doch!« waren seine letzten Worte.
Und dann mußte ich das Erbe antreten.
Ich hatte in den folgenden 20 Jahren seltener und seltener davon Gebrauch gemacht.
Auf kurzem Kommißurlaub – in entlaustem Uniformzeug, Kanonenstiebeln, Hände an der Hosennaht – traute ich mich an die Bücher nicht mehr heran, die mir den Rücken zukehrten: dem Muschkoten. Ich gehörte nicht mehr zu ihrer Literatur. Es war das Sterbezimmer einer Epoche.
Und nach der Niederlage, die auch keine Lösung brachte, die den Weltkrieg in Straßenschlachten fortsetzte – Freikorps – Stahlhelm – Putschsoldateska – Rotfront –; gegen diese George-Grosz-Monstren von Revolution, Inflation gab es nur eine Waffe: die blanke Ironie, die der Spießer von Rechts bis Links immer eine Sekunde zu spät kapiert (DaDa – Jiu Jitsu; und Huelsenbecks »Phantastische Gebete«). Es war aussichtslos, den Narrenpropheten im Vaterland zu spielen, Wohlstands- und Notstandsverblendeten die Augen öffnen zu wollen, angesichts einer schon offenbaren babylonisch verhurten Apokalypse.
10 Jahre nomadisierte ich als métèque auf dem Montparnasse unter »poètes mandits«, unter den Literatenparias bolschewistisch-faschistischer Diktaturen, amerikanischer Selfexpatriates; fünf Jahre als ausgebürgerter »Indésirable« – »vos papiers, s’il vous plait!« – auf den Korridoren der französischen Präfekturen, bis es mir zu wüst wurde und ich mich aus dem Staub der großen exdeutschen Schriftstellerkarawane machte – in die Oase Wien, zum Sprach-Stamm meiner österreichischen Kollegen am Rand ihres Witzes und der Verzweiflung.
Ich wollte noch einmal wohnen, mir einen Rausch anschaffen auf den Heurigen-Bänken der Spötter, noch einmal daheim sein in meiner eigenen Bibliothek.
Aber es lag mir nicht so sehr an den Büchern im einzelnen, sondern an jener historisch, ästhetisch, philosophisch einmaligen Konfiguration, wie sie sich in der Bibliothek meines Vaters, in seinem speziellen Horoskop des XIX. Jahrhunderts eingestellt hatte. Und so wie sie war, unheilbedeutend oder voll trügerischer Prognosen, wollte ich sie noch einmal nachprüfen.
Den ganzen ersten Tag über, vom Morgengrauen an, seit ein paar verdrossene Transportarbeiter Kiste auf Kiste abgeladen hatten, die sie wahrscheinlich in ihrer Wiener notleidenden Einbildung mit materiellen Genuß- und Luxusartikeln angefüllt glaubten, las ich mich sinnlos voll …
Man kann dem Lesen so gesundheitsschädlich verfallen wie jedem anderen Rauschmittel, besonders als Europäer, der ja durch lange erbliche Belastung im gleichen Prozentsatz alkohol- wie büchersüchtig ist.
Man greift zum Buche wie zum Glase, um sich über die deprimierende Nüchternheit der Zeitungssensationen hinwegzutrinken, um den widerlichen Nachgeschmack der Medizinen, die man uns in den Spitälern der Zwangs-Heilversuche eingibt, herunter zu spülen. Und nichts hilft so wie ein süffiges Getränk-, wie Genuß von abgelagertem Pathos, vorzüglich in Versen konzentriert, um sich gleich edler und erhabener zu fühlen. Doch hält man sich nicht lange an die guten, erlesenen Jahrgänge. Und beim Lesen wie beim Trinken steigert man allzu rasch den Spiritusgehalt; man sucht nach Selbstbekräftigung und zugleich nach genereller Absolution. Abnorme Gelüste, deren man sich wie eines versteckten Geburtsfehlers, wie einer krankhaften Veranlagung geschämt hatte, findet man bei erhabensten Genies im Schaffensrausche ausgeplaudert.
Unzüchtige, niedrige Infamien, die man sich zu äußern nie getraut hat, sind in ältesten Texten längst für uns ausgeführt, sogar, ja besonders, in den Epen der Nationalheroen: des »Beowulf«, der »Nibelungen«, deren Rachsüchtigkeit wir mit der Muttermilch der Schulweisheit eingesogen haben.
Ja, es erweist sich, daß gerade die Reformatoren, die Weltumstürzler, die geborenen Führernaturen, gerade jene, die erst mal alle zeitgenössischen Druckerzeugnisse zensieren, verbieten, verbrennen lassen, von Lektüre durch und durch vergiftet sind, daß sie sich an vulgärstem Fusel eines Drako, Jean Bodin, Hobbes usw. ihren Fanatismus angelesen haben und im Katzenjammer ihre mörderischen Beglückungstaten verüben.
Doch nie hatte mein Vater wohl – ein Zauberlehrling, ein Musterschüler der kritischen Vernunft – unter den Bänden seiner Bibliothek die Toxine, die Keimträger okkulter Epidemien geargwöhnt; weder er noch die anderen Hochgebildeten, die es mit der allgemeinen Schulpflicht so streng, so buchstabengläubig nahmen wie ihre Vorväter mit dem Kirchgang; die aber dabei mit allem Gedruckten Schwarz auf Weiß nicht weniger fahrlässig umgingen als ihre Magie der Experimentalwissenschaften mit Pestkulturen, Astralgemischen, mit den gefährlichsten Komponenten der Seele: Genie und Irrsinn.
Nie – wenn nicht in der Hellsicht aus dem Todesschatten – ist es meinem Vater wohl klar geworden, daß sein Studierzimmer: der persische Diwan und das Eisbärenfell davor und die Auerglühstrumpflampe neben den Rezensionsexemplaren und Korrekturfahnen auf dem Nußbaumschreibtisch und die gerahmten Lyonel-Feininger-cartoons nichts anderes als eine Fin-de-siècle-Replik einer Alchimistenklause darstellte.
Nie, daß er, der überzeugte Freidenker,
»weh, im Kerker noch
beschränkt mit diesem Bücherhauf
den Würme nagen, staubbedeckt,
den bis ans hohe Gewölb hinauf
ein angeraucht Papier umsteckt
… Urväter Hausrat dreingestopft«
stets eine Faust-Marionette geblieben