November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts
Von Klaus Gietinger und Karl Heinz Roth
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Über dieses E-Book
100 Jahre nach dem November 1918 spricht man nur noch vom "Kriegsende", vom "Zusammenbruch des Kaiserreichs". Dabei war die Novemberrevolution tatsächlich ein Aufbruch, ein Aufbäumen gegen die herrschenden Klassen. Matrosen, Soldaten und Arbeiter waren noch bewaffnet – und sie hatten genug von den alten Eliten, sie wollten das allgemeine Wahlrecht, die Sozialisierung, die Zerschlagung des Militarismus und die Revolution – ein für alle Mal, jetzt oder nie!
Klaus Gietinger ruft in Erinnerung, wie die Führung der SPD und der Gewerkschaften den Krieg hingegen bis zum Schluss unterstützten und die Ordnung durch ein Bündnis mit den Militärs aufrechterhalten wollten. Diese unversöhnliche Spaltung der Arbeiterbewegung aber hat der Novemberrevolution den Todesstoß versetzt. Das Ergebnis waren auf Rache sinnende Herrschende in Wirtschaft, Verwaltung und Militär, die den verlorenen Krieg ihren zeitweiligen Verbündeten in den Arbeiterbürokratien geschickt anlasteten und auf eine Diktatur mit neuerlichem Weltmachtsstreben und Krieg hinsteuerten.
Dabei war der Kapitalismus auch international nie so gefährdet wie im November 1918. In zahlreichen europäischen Staaten begehrten die Massen auf. Wäre es in Deutschland gelungen, Basisdemokratie und echte Rätemacht zu verwirklichen, hätte die russische Oktoberrevolution eine Chance auf Humanisierung gehabt, und das 20. Jahrhundert hätte ganz anders verlaufen können.
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Buchvorschau
November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts - Klaus Gietinger
KLAUS GIETINGER, geb. 1955, Sozialwissenschaftler, Drehbuchautor und Regisseur. Er schrieb und inszenierte diverse Tatort-Filme. Bei Nautilus erschienen Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs (2009) und Der Konterrevolutionär. Waldemar Pabst – eine deutsche Karriere (2009). Im Januar 2018 wurde der von ihm und Margot Overath unter Mitarbeit von Uwe Soukup gedrehte Dokumentarfilm Wie starb Benno Ohnesorg – Der 2. Juni 1967 für den Grimme-Preis 2018 nominiert. Klaus Gietinger lebt in Saarbrücken.
KLAUS GIETINGER
NOVEMBER
1918
DER VERPASSTE
FRÜHLING
DES 20. JAHRHUNDERTS
MIT EINEM VORWORT VON KARL HEINZ ROTH
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus GmbH 2018
Originalveröffentlichung
Erstausgabe März 2018
Umschlaggestaltung
Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Personenregister: Jette Groß
Autorenporträt Seite 2:
© Matthias Becker
(Allgäuer Zeitung)
ePub ISBN 978-3-96054-076-2
Inhalt
Vorwort von Karl Heinz Roth
Einleitung
Kurze Geschichte der
Geschichte der Novemberrevolution
Neueste Forschungen
Die Vorgeschichte
Der Erste Weltkrieg – Zweierlei Arbeiterbewegung
Das Ja zum Krieg
Krieg
Die Situation der arbeitenden Klassen im Ersten Weltkrieg
Die Massen gegen den Krieg
Die Vorbereitung der Revolution
Aufstand
Revolution – Frühling im November?
Der 9. November 1918
Der zweite Tag – 10. November 1918
Frühling?
Das Bündnis
Die Regierung der Volksbeauftragten
Die OHL plant den Bürgerkrieg – mit Wissen Eberts
Die Heimkehr der Fronttruppen
Reichsrätekongress – Der Sommer der Demokratie?
Die Weihnachtskämpfe
Der Aufbau konterrevolutionärer Freikorps
Der Januaraufstand
Die Liquidierung des Aufstandes
Das Köpfen der Revolution
Die Wahlen
Die zweite Revolution – Frühling im Frühling?
Januar – März 1919
Massenstreiks
Räterepublik Bremen
Die zweite Revolution in Berlin – Der zweite Frühling der Hauptstadt?
Das braune Band des Herbstes – Konterrevolution
März 1919 – Mai 1919
Straßenkampf
Schießbefehl
Matrosenmord
Räterepublik Bayern – Der letzte Frühling?
Versailles – Die Quittung
Verfassung – Frühling mit Frost
Putsch – Generalstreik – Winter
Spaltung
Fazit
Der vergessene Frühling 100 Jahre später
Anmerkungen
Quellen
Literatur
Bildnachweise
Abkürzungsverzeichnis
Danksagung
Personenregister
Vorwort
In den letzten Jahren haben einige Nachwuchshistoriker wichtige neue Forschungsergebnisse zu Einzelaspekten der Novemberrevolution veröffentlicht. Dadurch hat sich unser Wissen über die beteiligten Akteure, Ereigniskonstellationen und Organisationen wesentlich verbessert. Die »vergessene Revolution« hat neue Konturen und Kanten bekommen, und manche Gewichte haben sich verschoben. Wer die neueren Quelleneditionen und Untersuchungen durchmustert, bekommt einen nachhaltigen Eindruck davon, welche Lernprozesse bei den durch Krieg, Hunger und Ausbeutung zur Verzweiflung getriebenen Unterklassen abliefen, und wie sie eineinhalb Jahre lang immer wieder neu ansetzten, um die alten Herrschaftsstrukturen zu überwinden und eine friedliche, selbstverwaltete und sozial gerechte neue Gesellschaft aufzubauen.
Warum ist dieser Aufbruch gescheitert? Warum gelang es den deutschen Arbeiter- und Soldatenräten nicht, die alten Gewalten auszumanövrieren? Selbstverständlich haben sich jüngere Historiker auch diese Frage vorgelegt und sie in den von ihnen untersuchten Teilgebieten reflektiert. Sie haben die Unentschlossenheit, die mangelnde Koordination und die fehlende Weitsicht der Akteure herausgearbeitet – so etwa das Versagen des Revolutionsausschusses während des Berliner Januaraufstands, das Fehlen einer zielgerichteten politischen Praxis bei den herausragenden Persönlichkeiten des Umsturzes oder den allzu obsessiven Blick der Revolutionären Obleute auf legitimierende Rätekongresse. Allen diesen Studien ist auch das Erschrecken über das exzessive Ausmaß der konterrevolutionären Gewalt anzumerken, mit denen die kollektiven Subjekte des Umsturzes konfrontiert waren. Dieses Phänomen war jedoch überall zu beobachten, und zwar mit ständig wachsender Intensität. Es musste somit fundamentale strukturelle Ursachen geben, die sich den Historikern jedoch aufgrund ihrer begrenzten Sichtweisen und Fragestellungen nicht erschlossen hatten. Die tieferen Ursachen des Scheiterns der deutschen Revolution können offensichtlich erst dann entschlüsselt werden, wenn wir die gegeneinanderstehenden Kräfteverhältnisse der revolutionären Nachkriegskrise vom November 1918 bis Frühjahr 1920 in den Blick nehmen.
Genau hier setzt die vorliegende Studie Klaus Gietingers an. Sie schließt die Lücke, die zwischen dem durch die neuen Forschungen erweiterten Wissensfundus und den bis heute weitgehend tabuisierten Rahmenbedingungen entstanden war, und war somit überfällig. Wir verdanken sie nicht zufällig einem Autor, der sich seit langem mit der spezifischen Dynamik der deutschen Konterrevolution auseinandersetzt.
Klaus Gietinger gibt einen konzentrierten Überblick über die wesentlichen Etappen der eineinhalbjährigen revolutionären Nachkriegskrise, die zu Unrecht auf ihren Auftakt von Anfang November 1918 verkürzt wird. Dieser Auftakt war in der Tat außergewöhnlich. Alles begann mit dem Aufstand der Matrosen der Kriegsflotte, des Herzstücks des kaiserlichen Militärapparats. Nachdem sie ihre Standorte unter Kontrolle gebracht hatten, schwärmten die Aufständischen – überwiegend zum Kriegsdienst gezwungene Industriearbeiter – ins Reichsgebiet aus. Sie befreiten in der ersten Novemberwoche ihre Mitstreiter aus den Militärgefängnissen und Zuchthäusern, schlossen sich mit den ArbeiterInnen der Industriezentren und Bahnknotenpunkte zu Arbeiter- und Soldatenräten zusammen und bauten in Berlin die Volksmarinedivision auf. Bei Gietinger können wir das Auf und Ab des darauf folgenden revolutionären Prozesses nachlesen, der bis zum Frühjahr 1920 andauerte: die Umsturztage am 9. und 10. November in Berlin; die Weihnachtskämpfe um das Berliner Schloss; den Januaraufstand als gescheiterter zweiter Anlauf der von riesigen Massendemons -trationen beflügelten Revolutionären Obleute, des linken Flügels der USPD und der inzwischen gegründeten KPD; die kurzlebige Sozialistische Republik Bremen; die Massen- und Generalstreiks im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland im Februar/März 1919; den im blutigen Terror erstickten Berliner Generalstreik Anfang März 1919; die Bayerische Räterepublik vom März/April 1919 und die Märzrevolution 1920 als letztes Aufbäumen im Anschluss an den Generalstreik gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch. Dabei scheute sich die wieder eingesetzte Regierung nicht, gegen die Aufständischen dieselben Truppenverbände einzusetzen, die gerade gegen sie geputscht hatten.
An diesem Schlusspunkt des revolutionären Zyklus tritt das wesentliche strukturelle Moment seines Scheiterns besonders krass zutage: Die politischen Entscheidungsträger und Koordinatoren der Konterrevolution waren Spitzenvertreter der Sozialdemokratie. Wie Gietinger nachweist, hatten sie sich von Anfang an gegen den von wesentlichen Teilen der SPD-Basis mitgetragenen revolutionären Aufbruch gestemmt. Schon am 10. November 1918 hatte Friedrich Ebert, als führender Exponent des Rats der Volksbeauftragen, einen strategischen Pakt mit der Obersten Heeresleitung (Wilhelm Groener) geschlossen, und wenige Tage später war dieses Bündnis durch ein Abkommen zwischen der Gewerkschaftsführung (Carl Legien) und der Rüstungsindustrie (Hugo Stinnes) sozialpolitisch untermauert worden. Auf dieser Grundlage entfaltete sich eine intensive Kooperation zur Eindämmung und Niederschlagung der sozialrevolutionären Dynamik auf allen Ebenen, die die seit Kriegsbeginn beschleunigte Integration der überwiegenden Mehrheit der Funktionsträger der Arbeiterbewegung in die Machtstrukturen einer »total« entfesselten Kriegführung auf eine qualitativ neue Stufe hob. Dabei unterliefen der Bündniskonstellation Generalität-Arbeiterbürokratie zunächst erhebliche Fehler, so etwa beim gescheiterten Putsch gegen die Einberufung des Reichsrätekongresses oder bei den Berliner Weihnachtskämpfen. Aber ihre Exponenten waren lernfähig und verständigten sich auf die Anwendung exzessiver Gewaltmethoden und systematischen Terrors. Seit dem Januaraufstand hatten es die Massen der ArbeiterInnen mit einer entfesselten Soldateska zu tun, die Panzer, Flugzeuge, Artillerie und Minenwerfer im Stadtkampf einsetzte und sich schließlich seit der Niederschlagung des Berliner Generalstreiks vom März 1919 auf einen Schießbefehl stützen konnte, der einen durch die in den zentralen politischen Gremien agierende SPD-Führung und später auch die SPD-Fraktion der Weimarer Nationalversammlung gedeckten Freibrief zum Massenmord darstellte. Gietinger zeigt, welch ungeheuer demoralisierende Wirkung dieser durch die Sozialdemokratie gedeckte Weiße Terror auf die arbeitenden Klassen ausübte. Er sieht darin zu Recht eine politisch-militärische Konstellation, der die Organisationsansätze und Akteure des revolutionären Aufbruchs nicht gewachsen waren. Was hier geschah, war in der Tat ungeheuerlich: Ein sozialdemokratischer Minister (Gustav Noske) hatte einen durch seine Parteiführung gedeckten Schießbefehl erlassen, der die Kontinuität zu den deutschen Kolonialmassakern zu Beginn des Jahrhunderts und zu den während des Ersten Weltkriegs begangenen Kriegsverbrechen herstellte. Jetzt wurde auch die eigene Bevölkerung Opfer eines enthemmten Vernichtungswillens. Gedeckt wurde dieses Vorgehen durch alle politischen Führungsgremien. In ihnen hatte die Mehrheitssozialdemokratie eine unangefochtene Monopolstellung erlangt, nachdem die an ihnen beteiligten USPD-Vertreter aus ihnen ausgetreten bzw. ihre Kooptation in sie abgelehnt hatten. Das Einschwenken der Mehrheitssozialdemokratie auf ihren staatsterroristischen Kurs wurde somit durch schwere politische Fehler auf der Seite der seit 1916 von ihr abgespaltenen Unabhängigen Sozialdemokraten erleichtert.
Im vorliegenden Buch kommen auch die langfristigen Auswirkungen des Triumphs der deutschen Konterrevolution zur Sprache. Die zumindest zeitweilige Schwächung des deutschen Militarismus konnte nach Lage der Dinge nur noch durch die siegreichen Entente-Mächte erzwungen werden. Das konterrevolutionäre Bündnis zwischen der Generalität und der Sozialdemokratie löste sich nur unter dem Druck von außen auf. Militärischer Widerstand gegen den Versailler Vertrag und seine Abrüstungsbestimmungen war nicht möglich, und damit wurde eine im Juni 1919 nochmals erwogene Militärdiktatur unter den Galionsfiguren Noske und Ebert hinfällig. Stattdessen scheiterte ein Staatsstreich der Militärs gegen ihre bisherigen politischen Partner (der Kapp-Lüttwitz-Putsch). Nun gingen die Wege tatsächlich auseinander, aber die Kampftruppen des Weißen Terrors existierten untergründig weiter und wurden zusammen mit den sie finanzierenden Rüstungsmagnaten zu Keimzellen des Faschismus und eines erneuerten militärischindustriellen Komplexes, der auf einen Revisionskrieg zusteuerte und nur auf seine Chance wartete, die Weimarer Republik zu zerstören.
Angesichts dieser auch weltgeschichtlich weitreichenden Folgen des gescheiterten deutschen Frühlings stellt sich die Frage, inwieweit es sich bei dem nach dem Matrosenaufstand zustande gekommenen Übergewicht der politisch-militärischen Konterrevolution um ein singuläres Ereignis gehandelt hat. Die deutsche Revolution war in eine weltweite Umsturzbewegung eingebettet. Ihr unmittelbarer Auslöser waren die Entbehrungen des Kriegs, gegen die die Unterklassen – die zum Militär gepressten Bauern und Industrieproletarier und ihre Familien an den »Heimatfronten« – seit 1916/17 zu revoltieren begannen. Dabei formierten sich in Russland, den USA und auf dem gesamten europäischen Kontinent – auch in mehreren neutralen Ländern – breite soziale Massenbewegungen, die sehr schnell mit den Kräften der Konterrevolution konfrontiert waren. In den USA wurde ein vor allem von revolutionären Syndikalisten initiierter und gegen den Kriegseintritt gerichteter Streikzyklus 1917 blutig unterdrückt, und eine nach Kriegsende in Gang gekommene Massenstreikbewegung – die größte der bisherigen US-amerikanischen Arbeitergeschichte – wurde mit offenem Terror und der Massenausweisung rebellischer MigrantInnen beantwortet. In Russland kam es dagegen im Februar 1917 zum Sturz des Zarismus und zur Bildung einer Übergangsregierung, die die sozialrevolutionären Prozesse – Massendesertionen, Betriebsbesetzungen und die Enteignung des Großgrundbesitzes durch Bauern und Bauern-Arbeiter – nicht zu kanalisieren vermochte. Durch den Oktoberumsturz der Bolschewiki wurden diese Errungenschaften zunächst institutionell verankert, dann aber durch gravierende innen- und außenpolitische Fehlentscheidungen und ein gegen die Massenbedürfnisse gerichtetes Modernisierungskonzept in Frage gestellt. Da sich die Bolschewiki zudem im März 1918 im Ergebnis der Verhandlungen von Brest-Litowsk einem separaten Friedensdiktat der Mittelmächte unterwarfen, vergaben sie die Chance einer gesamteuropäischen Ausweitung der sozialen Umwälzungen. Die Folge war die Entfesselung eines von den Entente-Mächten unterstützten Bürgerkriegs, wobei die Bolschewiki den Weißen Terror mit exzessiv gewalttätigen Methoden beantworteten, nachdem sie mit Hilfe einiger zu ihnen übergelaufener Generalstabsoffiziere eine eigene Armee aufgebaut hatten.
Das waren die wesentlichen internationalen Rahmenbedingungen, mit denen die Akteure und Widersacher der kontinentaleuropäischen Umsturzbewegungen seit dem Herbst 1918 konfrontiert waren. Die Habsburg-Monarchie löste sich von selbst – »von oben« – in ihre Nationalstaaten auf: Österreich durchlief eine sozialreformerische Parametrisierung, die der Arbeiterbewegung erheblichen Terraingewinn einbrachte. In Ungarn spitzte sich die Entwicklung dagegen zu und kulminierte im März 1919 in einer sozialistischen Räterepublik, die fünf Monate später durch eine von innen und außen gestützte Konterrevolution blutig erstickt wurde. Zu dieser Zeit triumphierte der Weiße Terror aber auch in Spanien, und ein Jahr später begann in Italien der Generalangriff der Großgrundbesitzer-Milizen und der faschistischen Kampfbünde auf die Landarbeiterbewegung und die Arbeiterräte. Überall sollte die sozialrevolutionäre Initiative so schnell und so brutal wie möglich vernichtet werden, um die Internationalisierung der von den russischen Soldaten, Arbeitern und Bauern eröffneten Perspektive – Frieden, Land, Arbeiterkontrolle und kollektive Selbstbestimmung – zunichte zu machen. Das war der reale Kern der »Bolschewismus-Psychose«, auf die Klaus Gietinger in seiner Arbeit immer wieder hinweist.
Der internationale sozialrevolutionäre Aufbruch der Jahre 1917 bis 1921 scheiterte somit fast überall am entschlossenen Auftreten der Konterrevolution. Selbst die politischen und sozialreformerischen Zugeständnisse – allgemeines Wahlrecht, Achtstundentag, Ausbau der sozialen Sicherungssysteme – waren häufig nur eng befristet und wurden bald wieder zurückgenommen; sogar mehr oder weniger direkte Übergänge zur Institutionalisierung der Konterrevolution waren – etwa in Ungarn und Italien – zu beobachten. In den USA setzte sich eine rigide Open-Shop-Politik durch, die mit extrem restriktiven Einwanderungsbestimmungen kombiniert war, und in Sowjetrussland begann die Rote Armee 1920/21 offen, gegen die um ihre sozialen Errungenschaften kämpfenden Bauern und Arbeiter vorzugehen.
Der Winter, der sich in Deutschland zu Beginn der 1920er Jahre wieder ausbreitete, war somit kein Ausnahmephänomen. Und doch gab es ein strukturelles Merkmal, das in allen anderen Szenarien der revolutionären Nachkriegskrise fehlte: das uneingeschränkte Paktieren der deutschen Sozialdemokratie mit der militärischen Konterrevolution und ihre gemeinsame Frontstellung gegen die Unterklassen. In dieser Hinsicht stand die deutsche Sozialdemokratie völlig allein da – so allein wie im Juli/August 1914, als sie alle Angebote ihrer Schwesterparteien in Frankreich und anderswo in den Wind schlug und einen transnationalen Generalstreik gegen die Entfesselung des Ersten Weltkriegs verhindert hatte.
Als Klaus Gietinger vor acht Jahren bei der Edition Nautilus seine wegweisende Studie über Waldemar Pabst, die militärische Schlüsselfigur der deutschen Konterrevolution, veröffentlichte, schlug ich der Historischen Kommission der SPD in meinem Vorwort vor, den Namensgeber ihrer Parteistiftung durch eine allseits respektierte andere Führungspersönlichkeit zu ersetzen. Ich stieß auf lebhafte Ablehnung. Aber die Erinnerungskultur ist ein recht langsames Gefährt, und die Novemberrevolution muss in ihr erst noch ihren Platz finden. Deshalb möchte ich an dieser Stelle meinen Vorschlag auf Umbenennung der Friedrich-Ebert-Stiftung erneuern und um eine weitere Empfehlung ergänzen. Wie wäre es, wenn die Historische Kommission ein Handbuch mit den Kurzbiografien aller jener 4500 bis 5000 Menschen, die unter der Mitverantwortung der SPD dem Weißen Terror der Jahre 1918 bis 1920 zum Opfer fielen, herausbringt? Und wenn sie dazu auch noch die Adressen der Nachkommen ermittelt, dann wäre es dem Parteivorsitzenden möglich, sie – bei gleichzeitiger Überreichung eines Widmungsexemplars – um Entschuldigung zu bitten.
Karl Heinz Roth, im November 2017
»Wenn die Wahlkampfstrategen der CDU/CSU die SPD jetzt auch nur in die Nähe von Gewalttätern rücken, verletzen sie damit die Ehre einer Partei, deren Mitglieder in ihrer über 150-jährigen Geschichte immer von links- und rechtsaußen bedroht, verfolgt und umgebracht wurden. Die SPD ist die einzige Partei in Deutschland, die keine Belehrungen im Kampf gegen Terroristen braucht – egal, ob sie von links oder rechts kommen.«
Sigmar Gabriel, Außenminister der BRD, am 11. Juli 2017, nach dem G20-Gipfel in Hamburg
Einleitung
»Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande.«¹ Die Prophezeiung von Karl Marx und Friedrich Engels, 1848 im Kommunistischen Manifest mit Chuzpe verkündet, erfüllte sich zu ihren Lebzeiten nicht. Weder im selben Jahr des ersten deutschen bürgerlichen Revolutionsversuches noch später. Im Gegenteil, die Eisenbahn wurde entscheidend für die Planung eines Weltkrieges. Die deutsche Militärführung und die deutsche Reichsleitung sahen 1914 in der Eisenbahn das wichtigste Mittel, um einen Angriffskrieg zu gewinnen, von dem sie wussten, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Weltkrieg führen würde. Mit nicht zu überbietender Arroganz glaubten die deutschen Militärstrategen, dass die russischen Eisenbahnen wesentlich schlechter seien als die deutschen und daher die Mobilisierung des gigantischen deutschen Militärapparates, eines Massenheeres von Millionen Soldaten und Abertausenden Kriegswaffen, wesentlich schneller vonstatten ginge als die des russischen. Und daher wollte man in einem Blitzkrieg erst die französische Armee im Westen schlagen, um dann die Russen im Osten niederzuwalzen. Siegestrunken – aufgrund des raschen Vormarsches durch Belgien – reiste in der Nacht vom 16. auf den 17. August 1914 die gesamte deutsche Machtelite, die Generäle, der Kanzler, die Regierung und der Kaiser – nur die Kapitalisten fehlten, die aber hatten die Fahrpläne gemacht – in einem einzigen Zug von Berlin ins neue Hauptquartier der Obersten Heeresleitung (OHL) nach Koblenz.² Kein Verschwörer lag am Bahndamm und sprengte die Strecke, wie es Anarchisten vergeblich mit dem Niederwalddenkmal, der riesigen Richtung Frankreich drohenden Germania-Statue, bei Rüdesheim, gut 50 Kilometer südlicher und 30 Jahre zuvor, anlässlich dessen Einweihung versucht hatten³ – das Pulver war nass geworden.
Abb. 1 Niederwalddenkmal
Das der deutschen Militärs 1914 war trocken. Und einige Bohemiens und Anarchisten meldeten sich im August 1914 freiwillig⁴ – im Gegensatz zu den meisten deutschen Arbeitern, die, entgegen überholter Geschichtsschreibung, gar nicht begeistert waren über die Fahrt nach Paris, zu der es für Millionen von Soldaten keine Rückfahrkarte mehr brauchte.
Doch das Kalkül ging nicht auf. Die russischen Eisenbahnen waren schneller und besser als vermutet, und die deutschen Bahnen blieben vor Paris stecken.
Der entstandene Zweifrontenkrieg weitete sich zum Krieg mit Fronten in aller Welt. Hier erfüllte sich eine andere Prophezeiung, 1887 von Friedrich Engels gemacht: »Und endlich ist kein andrer Krieg für Preußen-Deutschland mehr möglich als ein Weltkrieg, und zwar ein Weltkrieg von einer bisher nie geahnten Ausdehnung und Heftigkeit. Acht bis zehn Millionen Soldaten werden sich untereinander abwürgen und dabei ganz Europa so kahlfressen, wie noch nie ein Heuschreckenschwarm. Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet; Hungersnot, Seuchen, allgemeine, durch akute Not hervorgerufene Verwilderung der Heere wie der Volksmassen.«⁵
Tatsächlich war, vier Jahre nachdem die ersten deutschen Militärzüge Richtung Belgien und Frankreich gerollt waren, im Herbst 1918 dieser Weltkrieg für die deutschen Armeen nicht mehr zu gewinnen. In Frankreich saßen inzwischen außer französischen, englischen, australischen, indischen, burmesischen und afrikanischen auch immer mehr US-amerikanische Soldaten in Zügen und rollten an die Front.
Da setzte die OHL Anfang November 1918 einen Zivilisten in einen Zug. Der rollte sehr langsam – wie von der französischen Militärführung befohlen – durch verwüstetes Kriegsgebiet und brachte den Zentrumsabgeordneten Matthias Erzberger an einen ihm unbekannten Ort im Wald, den die deutschen Militäreisenbahnen nie erreicht hatten: Compiègne. Dort musste er den Waffenstillstand – im Auftrag der Regierung und der deutschen Obersten Heeresleitung – unterzeichnen.
Zur gleichen Zeit machten sich Tausende blau gekleidete deutsche Matrosen mit roten Fahnen in grünen Zügen auf den Weg von den Küstenstädten, die sie in einer Revolte in ihre Gewalt gebracht hatten, in alle Winkel des Reiches und verbreiteten in Windeseile ihre Botschaft: »Nieder mit dem Krieg, nieder mit dem Kaiser!« Es schien sich das zu erfüllen, was Marx und Engels 1848 prophezeit hatten: Die Eisenbahn transportierte eine Revolution, und zwar nicht in wenigen Jahren, sondern in wenigen Tagen. Die Massen in München unter Führung von Kurt Eisner (7. November 1918) und die Massen in Berlin unter Anleitung der Revolutionären Obleute (9. November 1918) brachten das zustande, was Engels 1887 prognostiziert hatte: »Zusammenbruch der alten Staaten und ihrer traditionellen Staatsweisheit, derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt.«⁶
Abb. 2 Unterzeichnung des Waffenstillstands – Nachinszenierung für den Bayerischen Rundfunk
Die Kronen purzelten tatsächlich, in Deutschland, in Österreich, in Ungarn und zuvor schon in Russland. Und die deutschen Matrosen, die deutschen revolutionären Massen, hauptsächlich SPD-Anhänger, schienen tatsächlich zu siegen. Die alten Mächte, die alten Militärs wirkten entmachtet. Und der liberale Publizist Theodor Wolff sah gar am Tag danach, am 10. November 1918, »die größte aller Revolutionen«⁷.
Geblieben sind 99 Jahre danach Verdrehungen und Verschüttungen. Von Umsturz ist die Rede und von Zusammenbruch. Oder einfach vom Kriegsende.
So erwähnt der ehemalige DDR-Dissident Markus Meckel (SPD) 2017 in einem Interview über das Kriegsende 1918 die