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Georg Lukács: Texte zum Theater
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eBook456 Seiten5 Stunden

Georg Lukács: Texte zum Theater

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Über dieses E-Book

Georg Lukács gehört zu den herausragenden Denkern des 20. Jahrhunderts. Seine Schriften sind ein Schlüssel zur Ideengeschichte der Moderne und bieten auch Ansätze für die Gegenwart. Ein Bezug auf das Theater durchzieht sein gesamtes Schaffen. Doch die Rezeption seiner Werke ist gekennzeichnet von Brüchen. So war Lukács' differenzierte Ästhetik für marxistische Dogmatiker im Osten in ihrem Beharren auf einen maßgeschneiderten sozialistischen Realismus nicht immer wohlgelitten. Auch im Westen erfreute er sich nur für kurze Zeit einiger Popularität. Entsprechend sind viele Schriften einem breiten Publikum unbekannt.

Dieser Reader mit Texten zum Theater, der zu Lukács' 50. Todestag erscheint und einen vorurteilsfreien Blick ermöglichen soll, macht schwer erhältliche Beiträge wieder zugänglich und erstveröffentlicht auch Fundstücke aus den Archiven. Eine Einleitung von Dietmar Dath bezeugt die ungebrochene Relevanz des Denkens von Lukács.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Juni 2021
ISBN9783957493750
Georg Lukács: Texte zum Theater
Autor

Dietmar Dath

Dietmar Dath, geb. 1970, Schriftsteller und Übersetzer, lebt in Freiburg und Frankfurt am Main. Er war Chefredakteur der Spex (1998-2000) und ist Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zuletzt erschien "Gentzen oder: Betrunken aufräumen".

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    Buchvorschau

    Georg Lukács - Dietmar Dath

    Georg Lukács und das Theater

    »Das Traurige an der jetzigen Lage ist, dass wir, anstatt an dem außerordentlichen Palast des Denkens, den Lukács errichtet hat, weiterzubauen, immerfort noch damit beschäftigt und gezwungen sind, diese elende Pepsicola-Reklame aus dem Weg zu räumen. Wie Lukács müssen wir Zeit verschwenden, die Décadence zu widerlegen, anstatt den Realismus, was unsere ausschließliche Aufgabe sein sollte, besser zu begründen.«

    Peter Hacks

    Georg Lukács (1885–1971) hat das ästhetische Denken des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderer geprägt. Sein frühes Werk »Die Theorie des Romans« gilt noch heute als Klassiker einer geschichtsphilosophischen Ästhetik und beeinflusste eine gesamte Generation, mit »Geschichte und Klassenbewusstsein« verfasste er ein Schlüsselwerk des westlichen Marxismus. Zeitlebens interessierte sich Lukács für das Theater als Kunstform – von seinen Anfängen als Theaterkritiker über Schriften wie »Zur Soziologie des modernen Dramas« bis zu den geistreichen Studien über einzelne Theaterautoren. Verweise auf das Theater finden sich in all seinen ästhetischen Schriften, wie auch die Auseinandersetzung mit einem Theaterneuerer wie Bertolt Brecht beispielsweise in den Debatten um den Realismus in den 1930er Jahren von kaum zu unterschätzender Bedeutung war. Doch spielt Lukács heute für das Theater kaum mehr eine Rolle – wie auch seine späte systematische Ästhetik kaum eine Würdigung erfahren hat. Dem vorliegenden Band liegt die Überzeugung zugrunde, dass es sich lohnt, Lukács und sein Programm eines dialektischen Materialismus für das ästhetische Denken und das Theater wiederzuentdecken.

    Georg Lukács’ Texte zum Theater sammeln zu wollen ist ein fast maßloses Anliegen. Wo anfangen – und wo ein Ende finden? Der vorliegende Reader unterscheidet zwischen Texten zur Ästhetik, zum Realismus und zur Theatergeschichte. Doch schon bei der Lektüre der hier getroffenen Auswahl dürfte auffallen, dass diese Aspekte im Werk von Lukács eng zusammenhängen, aber jeweils andere Schwerpunkte gesetzt werden. Wie bei jedem anthologischen Arbeiten standen wir auch für die Erstellung des vorliegenden Buchs vor der Herausforderung, nicht nur eine Auswahl zu treffen, sondern auch – auf hoffentlich kluge Weise – Auslassungen vorzunehmen. Die gesammelten Texte stammen aus den 1930er bis 1960er Jahren, klammern also das Frühwerk aus. Auch Wesentliches musste der Beschränkung zum Opfer fallen. Anderes, das Aufnahme gefunden hat, ist nicht (nur) für das Theater und seine Anhänger geschrieben worden, sondern reicht darüber hinaus und betrifft weitere oder sämtliche Künste. Die hier abgedruckten Schriften sind eine Auswahl derjenigen Texte, von deren Gültigkeit für eine reflektierte Theaterkunst wir überzeugt sind.

    Die Rezeption von Lukács’ Werken ist von Brüchen und Rückschlägen gekennzeichnet. Seine intellektuelle Eigenständigkeit innerhalb der kommunistischen Bewegung war für Dogmatiker im Osten teils schwer erträglich, im Westen erfreute er sich sowieso nur einer kurzen Beliebtheit. Sowohl antisemitisches Ressentiment und antikommunistische Engstirnigkeit als auch bürgerliches Vorurteil und stures Beharren auf einem maßgeschneiderten »sozialistischen Realismus« machten es dem Philosophen schwer. Im heutigen Ungarn wird Lukács’ aufklärerisches Denken in der Tradition des jüdisch-europäischen Humanismus verdrängt und bekämpft. Eine Statue des Philosophen in Budapest wurde abgebaut, das Archiv mit seiner Nachlassbibliothek und den Manuskripten wurde für die Öffentlichkeit verschlossen und das Personal entlassen. Aber auch hierzulande kommt Lukács akademisch kaum noch vor, seine Schriften sind darüber hinaus kaum bekannt und teils schwer zugänglich. Anlässlich des 50. Todestags von Georg Lukács soll es also nicht nur um das Gedenken gehen, sondern auch um eine Wiederaneignung seines Denkens. Eine lebendige Auseinandersetzung geht in die Diskussion, sucht nach Anschlüssen und unabgegoltener Aktualität.

    Wir danken dem Hauptstadtkulturfonds für die großzügige Förderung des Gesamtprojekts »Re-reading Lukács – staging theory. Georg Lukács und das Theater«. Gedankt sei außerdem dem Literaturforum im Brecht-Haus und dem Verlag Theater der Zeit für die Zusammenarbeit, dem Aisthesis Verlag und der Erbengemeinschaft von Georg Lukács für die Abdruckgenehmigung und die Unterstützung, Dietmar Dath und Bernd Stegemann für Ihre Beiträge und Anregungen, allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Werkstatttage im Literaturforum im Brecht-Haus zum Thema »Georg Lukács und das Theater« im Juni 2021 für ihre Bereitschaft, sich mit den Schriften des ungarischen Philosophen auseinanderzusetzen und noch immer relevante Fragen an Kunst und Gesellschaft wieder in die Öffentlichkeit zu tragen. Und mit Thomas Brasch gesprochen: Wir danken den Verhältnissen für ihre Widersprüche.

    Jakob Hayner und Erik Zielke

    Berlin, Mai 2021

    Dietmar Dath

    Das Spiel der rechten und der linken Hand Von ästhetischer Arbeit bei Georg Lukács

    I. Ein unmöglicher Job

    Es gibt im Kapitalismus keine Gesellschaftswissenschaften. Es kann da auch keine geben, ob sie nun von Wirtschaft oder Kunst handeln sollen. Wirtschaftskunde ist eine Gesellschaftswissenschaft; sie redet davon, wie Gesellschaften das Nötige und Unnötige des Lebens erzeugen, wie sie es verteilen, wie sie sich reproduzieren. Ästhetik ist eine Gesellschaftswissenschaft; sie redet davon, wie Gesellschaften das Erbauliche und das Unterhaltsame der Kultur erzeugen, verteilen und reproduzieren. Das Fehlen einer Wirtschaftskunde ist für eine Gesellschaft schlimmer als das Fehlen einer Ästhetik: Leute, die nicht wissen, wie und wovon sie leben, sind noch dümmer und also für sich wie andere gefährlicher als Leute, die bloß nicht wissen, was ihnen so alles Hübsches oder Grausiges einfällt und was sie, wenn andere es ihnen zeigen, innerlich bewegt oder anderweitig anregt.

    Für den Imperialismus gilt, was ich über den Kapitalismus gerade gesagt habe, in bis zum Blödsinn gesteigertem Maß. Dass Kapitalismus und Imperialismus keine Gesellschaftswissenschaften zulassen, heißt nicht, dass niemand Kapitalismus und Imperialismus erforschen kann. Den letzteren, der jetzt herrscht, haben zum Beispiel Rosa Luxemburg (»Die Akkumulation des Kapitals«, 1913), Wladimir Iljitsch Lenin (»Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus«, 1917) und Eugen Varga (»Die Krise der kapitalistischen Weltwirtschaft«, 1921) schon vor hundert Jahren in seinen Grundzügen beschrieben und erklärt. Irre ich mich also? Sind denn diese Bücher nicht im Kapitalismus und in seiner verschärften und verhärteten Mutante, dem Imperialismus, geschrieben worden? Doch, aber dass und wie sie Ausnahmen von der Regel bilden, dass es in diesen Systemen keine Gesellschaftswissenschaften geben kann, versteht nur, wer den Grund der Regel selbst versteht.

    Der Grund, warum es im Imperialismus und im Kapitalismus keine Gesellschaftswissenschaften geben kann, ist logisch schlicht derselbe wie der Grund, warum es in den bestbewaffneten und brutalsten Gegenden von Mexico City, Chicago, Detroit oder Palermo kein von der ortsansässigen Bevölkerung betriebenes Institut für Bandenwissenschaften geben kann, jedenfalls keins, dessen Ergebnisse besonders wissenschaftlich sind, nämlich keine Rücksicht nehmen auf die Empfindlichkeiten der Banden. Man erforscht besser keine Leute, die das nicht wollen und ihrem Unwillen mit Gewalt Nachdruck verschaffen können. Im Kapitalismus, der historisch notwendig, in vielem fortschrittlich und sofort böse war, als er auf die Welt kam, herrschen sehr viele Banden. Im Imperialismus wiederum, der ebenfalls historisch notwendig, in leider nur noch sehr wenigen Aspekten fortschrittlich und von Geburt an verrückt war, herrschen deutlich weniger Banden, aber dafür erheblich hässlichere.

    Moment. Zurück. Anders. Man könnte ohne Verletzung der Logik natürlich doch ein wissenschaftlich seriöses Institut für Bandenwissenschaften in den bestbewaffneten und brutalsten Gegenden von Mexico City, Chicago, Detroit oder Palermo einrichten. Dafür bräuchte man dann allerdings einen ungeheuren, wahrscheinlich geradezu militärisch organisierten, womöglich mit Kriegswaffen gerüsteten Polizeischutz.

    Genau so kann man auch Gesellschaftswissenschaften im Kapitalismus und im Imperialismus treiben. Den Polizeischutz dafür gewährt, wenn das klappt, teils symbolisch (gegen Publikationsblockaden, Rufmord, Debattenverweigerung und Totschweigen), in ernsten Zeiten aber auch ganz handgreiflich, am besten eine kommunistische Partei oder, noch besser, eine kommunistische Internationale. Unterm Schirm solchen Schutzes also haben Rosa Luxemburg, Wladimir Iljitsch Lenin und Eugen Varga zutreffende Wirtschaftskunde und Imperialismusanalyse getrieben. Und unterm Schirm solchen Schutzes hat ab 1919 Georg Lukács Ästhetik getrieben (sowie manch anderes, das oft an Gesellschaftswissenschaft grenzte, zum Beispiel Philosophie).

    Es war seinerzeit nicht leicht und nicht lustig, sich von der KP schützen zu lassen. Leute, die sich in diesen Schutz begaben, mussten oft ihrerseits die Partei schützen, nicht selten mit schlechtem Dank dafür. Die Parteien begingen Fehler und Ärgeres; die Menschen, die auf sie angewiesen waren, mussten zwischen Legalität, Illegalität, Revolution und Konterrevolution, in Krieg und Faschismus überleben. Ein Vierteljahrhundert Irrsinn: Lukács gehörte der ungarischen KP an, erlebte Revolution und Konterrevolution, war in der Emigration Mitglied der österreichischen, dann der deutschen, sogar der sowjetischen KP, der KPD gehörte er bis 1945 an, dann gab’s wieder eine ungarische Partei für ihn. Dass diese transferreichen Loyalitäten seinem Denken und Wirken Resonanz und Schutz boten, ist zwar wahr, aber geruckelt hat’s, wie man an den Sprüngen in der Zugehörigkeit sieht, in diesem Schutz schon ziemlich.

    Denken und Wirken? Vor seiner kommunistischen Zeit und in deren Anfangszeit war Lukács ein eher impressionistischer Denker, begeistert von der zerfledderten Sorte Kulturkritik, die Alfred Kerr, eine Art in Aphorismen und Scherzen und halbfertigen Ideen plappernder Twitter-Pionier ante datum, in deutschen Zeitungen pflegte. Um ernsthafteres Grübeln bemühte sich Lukács in diesen Lehrjahren freilich auch, das lernte er dann bei Leuten wie Georg Simmel und Max Weber. Schließlich kam die Revolution nach Ungarn und Lukács lief mitten hinein. Der Oktoberumsturz in Russland war erst zwei Jahre her, seine bolschewistische Führung lernte das Schwimmen im unruhigen Wasser und diejenigen ihrer Kader, die sich in Ungarn oder weiter westlich blicken ließen, um der sozialistischen Weltrevolution auf die Beine zu helfen, mit der sie, weil sie Marx gelesen hatten, stündlich rechneten, hatten von den anstehenden Aufgaben meist ebenso wenig Ahnung wie diejenigen, die sich von ihnen Unterweisung versprachen. Man lernte daher voneinander und gegeneinander, im harten Gegenwind der Umstände, zu vieles war fast Zufall: Lukács etwa wurde, wie er selbst viel später vermutete, wohl nur deshalb Volkskommissar für Unterrichtswesen in der Regierung des Kommunisten Béla Kun, weil er als Autor und Kritiker unter den Intellektuellen halbwegs bekannt war, die man für bestimmte Bereiche des einzurichtenden neuen Lebens brauchte.

    Die amtliche Entscheidung für den Mann mit dem bekannten Namen war demnach nicht aus theoretischen, sondern grob öffentlichkeitsorientierten, also politisch-praktischen Gründen gefallen. Kommunisten dachten damals oft unbeholfen, aber immer praktisch. Lenin hatte ihnen das mit und seit seiner Schrift »Was tun?« (1902) auf eine Art eingebimst, die sogar Intellektuelle verstehen konnten.

    Praktisches Denken bedeutet Anerkennung der Tatsache, dass Gedanken sich an und in der Welt bewähren müssen, wenn sie über den Reiz des Augenblickseinfalls hinaus Bestand und Geltung haben wollen. Lukács erinnert sich noch als Greis an die Bedeutung, die dieses Kriterium nicht erst in seinen politischen Bewährungsproben, sondern schon in seiner vor- und frühkritischen Zeit, ja sogar bei Ausflügen ins Schöngeistige, etwa in die Theaterwelt für ihn gehabt hat – bis ins hohe Alter lobte er etwa einen Schauspieler namens Pethes, der damals großen Eindruck auf ihn machte, habe jener doch »ein untrügliches Urteilsvermögen« fürs praktisch Szenische besessen: »Wenn er sagte, die rechte Hand müsse emporgehoben und die linke Hand dürfe nicht herabgesenkt werden, dann hatte er ganz sicher hundertprozentig recht.«¹ Lukács sagt, ihm sei im Vergleich mit Pethes damals aufgefallen, dass ihm selbst das Sensorium für derlei abging, und er begriff, was das für seine frühe unerwiderte Liebe zur Bühne, deren Kunstkontext er sich gerade als Theatervereinsmann genähert hatte, leider bedeuten musste: »Außer der Organisation habe ich keine Tätigkeit ausgeübt. In dieser kurzen Laufbahn erlebte ich auch zwei Enttäuschungen. Zum einen wurde mir klar, dass ich kein Schriftsteller sei, und zum anderen wurde mir klar, dass ich kein Regisseur sei. Mir wurde bewusst, dass ich zwar den Zusammenhang von Idee und dramatischer Handlung sehr gut erfassen konnte, dass ich aber keinerlei Begabung in der Erkenntnis dessen besaß, dass es in gewisser Hinsicht von entscheidender Bedeutung sei, ob ein Schauspieler die rechte oder die linke Hand emporzuheben hatte.«²

    II. Ein unbesiegbarer Dreizack

    Die Besonderheit der Kunst, also auch des Theaters, unter allen Menschenbeschäftigungen betrifft den bizarren Punkt, dass ihr Praktisches etwas Theoretisches ist: der sinnliche Schein einer unsinnlichen Idee. Ein Text ohne Textidee zum Beispiel, ohne etwas, das über Stoff wie Form hinausreicht und beide ineinander blendet, mag eine Reportage sein oder ein Essay, aber ein Kunstwerk kann er nicht werden.

    Wenn man nun das kunstgebotene Ineinander von Theorie (als kunsterklärende Lehre: Gesellschaftstheorie eben, weil Kunst gesellschaftlich erzeugt und erlebt wird) und Praxis (Formbewusstsein, Zweck-Mittel-Reaktionen usw.) nicht präzise genug abwägt, kommt Schwachsinn heraus – wie etwa bei der stumpferen deutschsprachigen Germanistik nach 1945, teils sogar in der DDR, besonders aber nach 1968 im Westen, wenn diese Germanistik etwa bei der Befassung mit Goethe immer nur herausfand, jener sei »ein Fürstenknecht« gewesen. Schlechte Gesellschaftstheorie, schlechte Kunsttheorie: Goethe hielt es mit Provinzfürsten oder der Weltseele Napoleon nicht aus Unterwürfigkeit, sondern gegen die Stände, gegen den Adel, das Mittelalter (wie übrigens Hegel, der Vorbereiter und bis heute stille Teilhaber des Marxismus), so gleichermaßen mit der klassischen Form nicht gegen die Freiheit, sondern gegen das Chaos und das Erbrecht der Gewalt. Wer an Kunst herumdeutet, ohne über hohe Übersicht auf Soziales zu verfügen, wer den Klasseninhalt der ästhetischen Formen mit dem kleinen Hämmerchen oder der schmalen Sichel der Dogmatik in diese hineinzwängt oder aus ihnen herausfummeln will, haut Rundes in Eckiges oder sucht Eckiges in Rundem.

    Lukács wusste, dass es schon im vorkünstlerischen Alltag zwischen dem, was ist, und dem, was man gern hätte, einen Abstand gibt, einen Weltwiderstand gegen das, was wir so träumen oder denken oder fürchten oder wünschen, daher sein lebenslanges Interesse an »Ontologie«, an dem, was ist (und was bürgerliches Denken, weg vom so Seienden, gern in Ideen auflöst oder in grammatische und andere Strukturen oder ins mehr oder weniger freie, alle Strukturen überschreitende Spiel von multivalenten Zeichen-für-immer-wieder-Anderes oder in ein starr als Erkenntnisschema aufs Seiende aufgepfropftes Dogma, das sich womöglich auch noch »neuer Realismus« nennt, oder in Heideggers transkategoriales »Sein« oder in sonst einen Scheiß ohne Henkel, Griff und Deckel – gemeint ist mit all dem Blödsinn immer irgendein verborgener Tausch-, Meinungs- oder Klickwert, denn das Kapital, dem bürgerliches Denken bekanntlich bis in seine höchsten akademischen Höhen jede Sekunde unterworfen bleibt, will nie wissen, was die Dinge sind oder was man damit machen kann, und immer nur, was man dafür kriegt).¹

    Der besagte Abstand ist als Differenz zwischen Idee und Form, aber auch zwischen Überbau und Basis, nicht etwa eine platte Polarität, deren Anziehungs- und Abstoßungsfelder das Kunstwerk spalten müssten, sondern im Gegenteil gerade das, was es zusammenhält. Dass es selbst nicht die Welt ist, aber von ihr handelt, macht das Kunstwerk zum Kunstwerk. Ein anderer marxistischleninistischer Denker der Künste als Lukács, Hans Heinz Holz, beschreibt diesen allgemeinen Abstand und seine Konkretionen aus Anlass von Überlegungen zur speziellen Kunstsorte Satire (der ja die meiste bürgerliche und verfallsbürgerliche Theaterpraxis heute angehört, soweit sie noch politisch oder kritisch auftritt, sie sagt dann ja selten mehr, als der Spott sagt: Guck mal, der Kaiser ist zwar nicht nackt, hat aber eine Nazi-Uniform an): »Die Satire ist eine Kunstform, die, wie alle Kunst, das Ernste vergnüglich inszeniert.«²

    Wirklich »alle Kunst«? Das ist ein großes Wort, hier vor allem scheinbar eine Spur zu graziös gesagt, denn wie »vergnüglich« ist Shakespeares »King Lear«, Picassos »Guernica« oder eine späte Beethoven-Klaviersonate? Wer daran zweifelt, dass das Wort passt, soll sich erinnern: Selbst ein Stück über Schreckliches, irgendwo auf der breiten Skala des Menschlichen, sagen wir: vom gebrochenen Einzelherzen bis zum politischen Massenmord, ist angenehmer zu spielen und angenehmer im Publikum zu erleben als die Erfahrung des je eigenen Herzzerbrechens oder des Ermordetwerdens mit vielen anderen aus politischem Grund sein könnten. Das nur sagt Holz, mit historischer Ironie vor grausigem Horizont (»das Ernste«), wenn er gefasst und tongue-in-cheek »vergnüglich« sagt.

    Der Abstand zwischen Ernstem und Vergnüglichen ist die Körperbedingung der Kunst, ihr Raum; die Tradition nennt ihn »Schein«. Durch ihn hindurchschauen, ohne ihn zu übersehen, ist die theoretische Auseinandersetzung mit Kunst, nichts sonst. Georg Lukács hat dieses Hindurchschauen-ohne-Übersehen mittels dreier Grundsätze vollbracht – Kunstwerkontologie, Kunsteigengesetzlichkeit und Kunstanalysenmaterialismus. Im Einzelnen:

    1.In der Kunstbetrachtung ist der ontologische Akzent vor jeden irgend annehmbaren Betrachtungswinkel zu setzen. Das meint ihre Spielart der wissenschaftlichen Objektivität: Es soll nicht in erster Linie (nur unterstützend, vertiefend, dem Urteil mit Befunden hilfreich) um Ästhetik als eine Lehre vom Schönen oder vom Hässlichen oder vom Genuss oder vom Schrecken oder von der Furcht oder vom Mitleid im künstlerischen Spiel wie in Wahrnehmung und Empfinden des Publikums gehen, auch will sie so nicht erst- oder auch nur vorrangig die Untersuchung der Kunstzwecke im Verhältnis zu den Kunstmitteln leisten, wenn man als Kunstzwecke die Vermittlung von Geschichtskenntnis oder die Kritik an der Flüchtlings- oder Coronapolitik der Regierung betrachtet, und bezweckt ist auch keine Kausaltheorie zur Unterfütterung einer Korrespondenzen- und Korrelationentheorie des Kunsterfolges wie etwa eine Tiefenlehre von den Klicks oder von den Likes oder von den Retweets oder von den Einnahmen im Stream oder eine Statistik der Rate der Beteiligung unterdrückter, ausgegrenzter, eingesperrter, ausgebeuteter oder verwahrloster Menschengruppen an der Kunstpraxis. Es geht um die Werke. Das Werk ist etwas, worin Kunstzwecke, Vorlieben für gewisse Kunstmittel wie deren Tauglichkeit und endlich Qualität und Quantität der Publikumsreaktion, also allerlei subjektiv a) Gesetztes oder b) Erlebtes, sich objektivieren, nicht immer in einem Ding, manchmal auch in einem Vorgang. Aber Ding wie Vorgang lassen sich beobachten und daher unter vorläufiger, selektiver, heuristischer Einklammerung der subjektiven Zuschüsse, Mehrwerte, Voraussetzungen und Resultate seiner Existenz diskutieren. Diese Objektivierung hat gute und miese Seiten: Sie werden von den beiden gebräuchlichen englischen Übersetzungen für das von Lukács gern gebrauchte Wort »Verdinglichung« ausgezeichnet getroffen: a) »reification«, sowas wie »Vergegenständlichung«, ein Geflecht von Bestimmungen wird aufgefasst als eine »res«, eine Sache, der erkennende Job dabei ist dann (logische) Abgrenzung und (genealogische) Herleitung, b) »commodification«, eine Summe von Arbeit wird Ware (dieser zweite Teil wird, je weiter der Imperialismus in seine Hölle vordringt, immer chaotischer, aber nicht uninteressanter: Was ist die Ware bei Netflix – der Film, die Serienfolge, die Serie, das Gesamtabo? Was ist die Ware bei Spotify, der Song als »intellectual property« oder die spezielle Aufnahme, und wie unterscheidet sich diese Ware von der Vinylplatte oder der CD? Was richtet das Non-Fungible Token in dieser Ordnung an? Restituiert es einen älteren Werkbegriff? Erzwingt es einen neuen?). Lukács erzählt im Alter, er habe besagten Akzent aufs Werk schon sehr früh, bereits in seiner vormarxistischen Zeit bewusst gesetzt und dies unter anderem seinem Lehrer Max Weber mitgeteilt – er weiß noch, »dass ich zu Weber einmal gesagt habe, nach Kant sei das ästhetische Urteil das Wesen des Ästhetischen. Ich meinte, dass das ästhetische Urteil keine Priorität besitze, sondern die Priorität komme dem Sein zu. ›Es existieren Kunstwerke. Wie sind sie möglich?‹ Diese Frage stellte ich Max Weber, und sie machte ihm tiefen Eindruck.«¹

    2.Unbedingter Respekt vor der Eigengesetzlichkeit der Kunst ist bei der Analyse mehr noch als beim Kunstschaffen selbst verlangt. Da nämlich das, was im Kunstwerk erscheint, anders als im Kunstwerk gar nicht erscheinen könnte, also die Textidee, das Bildfindungsresultat usw., weil es also im Kunstwerk nicht vornehmlich um das geht, was sich daraus in einen Leitartikel, ein Flugblatt, einen Tweet oder Vlog herüberziehen ließe, wenn man’s angeklickt hat, darf die Kunstbetrachtung die Form des Werkes nicht als ein bloß Äußerliches des am jeweiligen Werk Wesentlichen betrachten, sondern muss sie als wesentlich erkennen und erklären. Wer zum Beispiel nicht weiß (und daher auch nicht sagen kann), wie ein Disney-Superheldenfilm dramaturgisch, inszenatorisch und tricktechnisch funktioniert oder auf welche Weise ein Rap organisiert ist (quer beispielsweise zu vielen klassischen Kriterien der Verslehre), soll der Kunstwissenschaft keinen ideologiekritischen Stiefel davon erzählen, dass der Disney-Film imperialistische Propaganda treibt oder dass der Rap üble Ideologie vermittelt. Das mag nämlich beides stimmen; aber was teilt man, außer Missvergnügen am Imperialismus und Unbehagen angesichts übler Ideologie, eigentlich mit, wenn man nur dies mitteilt, und wieso bedarf es dazu der Kunstdiskussion? Der Titel »Die Eigenart des Ästhetischen« ist im Schaffen Lukács’ keine Arabeske, sondern ein todernstes Wort zur Sache.

    3.Dem Materialismus sensu Marx bleibt eine Kunstbetrachtung auf der historischen Höhe ihres Gegenstands eisern treu, sonst redet sie Blech. »Materialismus« vor Marx war die löbliche gleichzeitige Zurückweisung zweier (miteinander nicht durchweg verträglicher, aber einander im Idealismus oft ergänzender) Unwahrheiten: a) dass die Begriffe und die sie bezeichnenden Dinge identisch seien, b) dass dem Begriff (manchmal als »Struktur« oder »Gottes Wille« oder »Idee« verkleidet) bei der Welterschließung der Primat vor der Eigengesetzlichkeit und Eigenbewegung der vom Begriff bezeichneten Sachen gebühre. Dieser alte (»mechanische«, »atheistische«, »französische«, »aufgeklärte«, »feuerbachsche« usw.) Materialismus sah noch nicht, was dann Marx sah: a) Die eigengesetzliche Materie ist in ständiger Bewegung und Wandlung begriffen, sie lebt in Widersprüchen (deshalb muss der Materialismus dialektisch sein, um der tatsächlichen Welt gerecht werden zu können), und b) diese Bewegung und Wandlung der Materie ist für Menschen nur in historischen Aneignungsprozessen mit- und nachzuvollziehen, das Ding an sich ist nur als in seiner Verwirklichung geschichtlich an die Entfaltung des menschlich-sozialen Stoffwechsels mit der Natur gebundenes Ding für uns überhaupt diskutierbar (deshalb muss der Materialismus historisch sein, um der tatsächlichen Welt gerecht werden zu können). Mit Marx also (man kann das wirklich nicht oft genug wiederholen):

    »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, dass die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde – aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt. Feuerbach will sinnliche, von den Gedankenobjekten wirklich unterschiedene Objekte; aber er fasst die menschliche Tätigkeit selbst nicht als gegenständliche Tätigkeit. (…) Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, d. h. die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit eines Denkens, das sich von der Praxis isoliert, ist eine rein scholastische Frage. (…) Die materialistische Lehre, dass die Menschen Produkte der Umstände und der Erziehung, veränderte Menschen also Produkte anderer Umstände und geänderter Erziehung sind, vergisst, dass die Umstände eben von den Menschen verändert werden und dass der Erzieher selbst erzogen werden muss. Sie kommt daher mit Notwendigkeit dahin, die Gesellschaft in zwei Teile zu sondern, von denen der eine über der Gesellschaft erhaben ist. (Z. B. bei Robert Owen.) Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit kann nur als umwälzende Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«¹

    In diesem Zeichen gibt sich das dritte Gebot für die Kunstbetrachtung als ein stabilisierendes Korrektiv des ersten zu erkennen: Man setzt zwar aus den oben genannten Gründen den Akzent aufs Ding, aufs Werk, aber das ist nur der notwendige Schritt in die Analyse, nicht der hinreichende – »unter der Form des Objekts oder der Anschauung« (Marx) setzt man an, aber wenn man »nur« das tut und die »menschliche sinnliche Tätigkeit« nicht als konstitutiv für den Gegenstandsbereich auffasst, bleibt man in einer französischen, einer mechanischen Kunstbetrachtung stecken. Aus dem dialektischen und historischen Materialismus folgt, weil diese Theorie die »Materie« eben als in praktischer Aneignung begriffene »Welt des Menschen« fasst, ein besonderes Verständnis einer zentralen Kategorie moderner Ästhetik, des Realismus.

    Die Zuschreibung »realistisch« auf ein Kunstwerk meint hier nicht, dass »unter der Form des Objekts oder der Anschauung« der Abdruck einer Welttatsache verstanden wird – es geht nicht um Sachen allein, sondern um ästhetisch vermittelte Sachverhalte, um Tatbestände. Der Gegenstand des Realismus ist damit weiter gefasst als etwa »das, was man fotografieren oder anders aufnehmen und speichern und vervielfältigen kann«; Kunst bleibt offen für eine »unbestimmte Gegenständlichkeit«, wie Lukács das ganz im Sinn der deutschen Klassik in »Die Eigenart des Ästhetischen« fasst. Nur so kann erfüllt werden, was Lukács die »defetischisierende Mission der Kunst« nennt. Wie ist diese Prägung gemeint? Wie kann Kunst Fetische aufheben, beseitigen, überwinden? Bei Marx, auf den sich Lukács mit dieser Wortwahl abermals bezieht, ist ein Fetisch kein Ding, sondern der Irrtum, ein menschliches Verhältnis zu Menschen und Dingen sei eine Eigenschaft der von diesem Verhältnis hervorgebrachten und verarbeiteten Dinge.

    Das berühmteste Beispiel bei Marx, vieldiskutiert, oft zerredet, mitunter ärgerlich mystifiziert, ist der »Warenfetisch«. Das Wort meint nichts Komplizierteres als eine (nicht nur) im Kapitalismus und Imperialismus höchst triviale Alltagstatsache: Die Leute meinen, es sei dem Laptop eigen, dass er einen Preis hat, also eine Ware ist, aber damit »fetischisieren« sie nur den Umstand, dass das Ding kapitalistisch (unter Vernutzung gekaufter Arbeitskraft) produziert und verkauft wird. Die »entfetischisierende Mission der Kunst« nun hängt laut Lukács unmittelbar mit dem »Problem der Bestimmtheit oder Unbestimmtheit der gestalteten Gegenständlichkeit zusammen«, das er unter Verweis auf die Auseinandersetzung mit Genauigkeit und Ungenauigkeit von Dingbeschreibungen in der antiken Epik bei Lessing erörtert: »Das Zepter Agamemnons bleibt in seiner sinnlich-unmittelbaren Gegenständlichkeit weitgehend unbestimmt, dagegen haben wir infolge der Geschichte seines Entstehens, seiner Rolle im Leben der Gesellschaft etc. und einiger weniger Lichtstrahlen, die sein sinnliches Sein andeuten, ein für die evokative Reproduktion der Gesamtlage hinreichend deutliches Bild auch von seiner Objektbeschaffenheit«.²

    Also: Die Epik schildert ihre griffigsten Dinge mimetisch gerade genau genug, dass eine Theaterbearbeitung, eine Statue oder ein Film mit Anregungen fürs Accessoire- und Requisitenmanagement versorgt ist. Diese Künste mögen die Mimesis noch weiter treiben, als die Literatur will und muss – die wirkliche Genauigkeit aller Künste bei der Mimesis aber liegt im Sozialen, in historisch-materialistisch-dialektisch-genealogischer Tiefe. Sie entfaltet damit den Dingschein in der sinnlichen Explikation der menschlich-praktischen Tätigkeit, die sich zum jeweiligen Ding vergegenständlicht hat. Wer so etwas beispielsweise im Theater weiß und nutzt, kommt in den Genuss aller Mächte der Gewerke. Hans Heinz Holz hat diese Auffassung geteilt und in einem bedeutenden Brief an den Dramatiker Peter Hacks abstrakte Kunstleistungen gegen Hacksens Vorwurf verteidigt, jene seien schlechthin »ohne Gegenstand«:

    »Dass alle Kunst letztlich auf Mimesis beruht, habe ich in Band I der Theorie der Bildenden Künste – in Übereinstimmung mit Ihnen – dezidiert gesagt. Jedoch besteht Wirklichkeit, zu der sich die Kunst mimetisch verhält, nicht ausschließlich aus dinglich-gestalthaft wiedererkennbaren Entitäten, sondern eben auch aus abstrakten Verhältnissen (…). Das Verfahren einer Serienproduktion, die Struktur eines multinationalen Konzerns, die Gründung einer Bank statt des Einbruchs in eine Bank sind nicht einfach sinnlich abbildbare Realitäten, aber doch Realitäten. Und es ist nicht meschugge, den Grundriss eines Hauses zu zeichnen, wenn man ein Haus bauen will. Kurz: Es gibt auch eine Mimesis des Abstrakten, und im Bereich der konstruktivistischen Kunst zwischen ›realistischen‹ (d. h. mimetisch begründeten) Werken und bloßen Formspielereien zu unterscheiden, scheint mir kein sinnloses Unterfangen. Ich meine also, Sie fassen Nachahmung qua dinglich-gestalthafter Abbildlichkeit zu eng.«¹

    Die erhellende Idee mit dem »Grundriss eines Hauses« winkt zu Lukács hinüber, hat dieser sich doch über Architektur Gedanken gemacht, die eine ontogenetische Voraussetzung der defetischisierenden Potenz der Kunst benennen, nämlich dass Kunst die Welt in dem Maß »entmenschlichen« muss, in dem sie Natur- und Gesellschaftsgesetzeswirken vermenschlicht, um beides für Menschensinne und Menschensinn darstellen zu können.

    Sie erbringt, wie Lukács sagt, also nicht nur defetischisierende, sondern, diesen vorgeordnet, gar »desanthropomorphisierende« Leistungen. Damit ist bei Lukács gemeint, dass sie ein Gegenmittel gegen den fatalen Umstand bereitstellen, dass die menschliche Sinnenzurüstung, das Sehen, Hören, Tasten etc. die Menschen leicht dazu verführen, die Welt nur an diesen Sinnesdaten entlang zu denken, nur das für Welt zu halten, was sie von ihr nehmen und kriegen. Menschen im Primitivstadium (als Kinder, in Horden, auf der Kulturstufe der Jäger und Sammler …) sind nicht praktisch, sondern, viel schlimmer: pragmatistisch – dass sie die Welt angeht, halten sie für einen Beweis des Aberglaubens, wir gingen umgekehrt auch die Welt an. Wir sind ihr in Wirklichkeit fürchterlich egal (»Eigengesetzlichkeit«), nur liegt das nicht auf unserer Hand, wir müssen es immer erst lernen (durch Schaden zum Beispiel).

    Diverse moderne und modische bürgerliche Szientismen (etwa der Positivismus oder der Neopositivismus) behaupten gern, dieses Lernen ließe sich nur in und als induktive und/oder deduktive Wissenschaft vollziehen. In Wirklichkeit kennen selbst Mythen und Religionen (es geht um die Gottheiten, um das Schicksal o. ä., nicht um den Menschenwillen), erst recht aber, wenn auch subtiler, die Künste diese Lektion. Das Absehen Letzterer von der fälschlich vermenschlichten Wirklichkeit, ihr Hinausdenken über das »schlechte Besondere« der unter unreflektierte Zweckbestimmungen gesetzten Alltäglichkeiten hat Lukács faszinierenderweise nicht an irgendwelchen Erzeugnissen des eindeutig Zwecken und Gebrauchswerten verschlossenen L’art pour l’art aufgezeigt, sondern ausgerechnet an einer im Banalbewusstsein besonders stark mit Zwecken verbundenen Kunst, eben der Baukunst – sie lebe, schrieb er, nämlich davon, die anthropomorphisierende Raumbestimmung nach zufällig-persönlichen Kriterien wie »vor mir, rechts von mir, über mir« mathematisch zu überwinden, ihre inneren Zusammenhänge müssten »sowohl einen erkenntnismäßigen wie einen ästhetischen Charakter haben«, denn ihre »auf desanthropomorphisierende Widerspiegelung basierte Erkenntnis bestimmt die objektiv möglichen und notwendigen Proportionen etc. des erstrebten Gleichgewichts der widerstreitenden Naturkräfte in ihrer Unterordnung unter menschliche Zwecke. Die Allgemeinheit solchen Erfassens geht zwangsläufig über die Verallgemeinerung durch die Sprache hinaus, erfordert den abstrakten Ausdruck von Geometrie und Mathematik etc.«², und der führe »über die Unmittelbarkeit des anthropomorphisierenden Alltags« hinaus: Schon »die Geometrie der Fläche rechnet mit anthropomorphisierenden Bestimmungen wie rechts-links, vorn-hinten radikal ab«³, und wer da jetzt »Bühnenbild am Theater«, »Einstellung beim Film« oder »3-D-Software in der VR« denkt, hat’s verstanden.

    Wir können eine denkbare Arbeit der Kunst, wenn sie von Menschen gar nicht zu leisten ist, weil sie das Kunstvermögen übers Menschliche hinaustreibt (was durchaus zur Kunst gehört: Kunst zeigt ja auch, was man sonst nicht sieht etc., gerade darin ist sie Versinnlichung der Idee und der Fingerzeig aufs Ideal) nur dann den heute bei den meisten Künsten (selbst der Literatur) involvierten Maschinen übergeben, wenn wir zuvor die spezifisch künstlerische Widerspiegelungs-, d. h. Weltaneignungsvernunft so weit von der menschlichen Sinnesapparatur gelöst, sie soweit objektiviert haben, dass sie sich an diesen Maschinen als historisch vergegenständlichte Arbeit der Künste erweisen kann. Auch darin ist die Kunst neuerlich, was sie auf ihren Gipfeln ohnehin stets war (und was den Marxismus-Leninismus wie jede emanzipatorische Theorie und Praxis an ihr brennend zu interessieren hat): Vorschein der willentlichen Einhegung des Reichs der Notwendigkeit zugunsten des Reichs der Freiheit.

    III. Eine unerträgliche Welt

    In der kulturinteressierten deutschsprachigen Öffentlichkeit der Gegenwart genießt die Kunstlehre von Georg Lukács keinen guten Ruf. Es geht ihr damit wenig besser als seiner politischen Philosophie oder überhaupt dem Marxismus-Leninismus. All das gilt als hüftsteif, starrsinnig, dogmatisch, unlebendig, alt, überlebt. Diese Meinung ist nicht vom Himmel gefallen. Sie wurde von Teilen der (vor allem) westdeutschen Linken in den 50er, 60er, 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hergestellt und verbreitet, seither auch ein paarmal vergröbert und vereinfacht, stammt aber

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