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Lob des Realismus – Die Debatte
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eBook267 Seiten3 Stunden

Lob des Realismus – Die Debatte

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Über dieses E-Book

Wie kann Kunst die sich zuspitzenden Widersprüche der Gegenwart erkennbar machen? Mit dieser Frage hat sich der Realismus zu allen Zeiten beschäftigt. "Lob des Realismus" von Bernd Stegemann hat eine weitreichende Debatte um einen neuen Realismus angestoßen.

Essays und Gespräche von:

Rolf Bossart
Heinz Bude
Wolfgang Engler
Jette Gindner
Nicole Gronemeyer
Boris Groys
Jakob Hayner
Alexander Kluge
Simon Kubisch
Peter Laudenbach
André Leipold
Thomas Ostermeier
Armin Petras
Milo Rau
Kathrin Röggla
Eugen Ruge
Enno Stahl
Bernd Stegemann
Wolfgang Streeck
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Okt. 2017
ISBN9783957491312
Lob des Realismus – Die Debatte
Autor

Bernd Stegemann

Bernd Stegemann ist Vorsitzender der Erich Maria Remarque-Gesellschaft e.V.

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    Buchvorschau

    Lob des Realismus – Die Debatte - Bernd Stegemann

    2015.

    I.

    Es geht wieder um den Realismus

    Wolfgang Engler

    Es geht (wieder) um den Realismus

    Die Zersplitterung des Sozialen und ihre Überwindung

    1

    „Am Ufer eines breiten Stromes, oder vielleicht auch am Abhang eines steilen Berges, steht eine Reihe von Statuen. Sie sind aus Marmor. Sie können ihre Glieder nicht bewegen. Aber sie haben Augen und können sehen. Vielleicht auch Ohren, die hören. Und sie können denken. Sie haben ‚Verstand‘. Man kann annehmen, daß sie einander nicht sehen, auch wenn sie wohl wissen, daß andere existieren. Jede steht für sich. Ganz für sich und allein nimmt jede der Statuen wahr, daß etwas auf der anderen Seite des Stromes, oder des Abgrunds, vor sich geht; sie bildet sich Vorstellungen von dem, was da vor sich geht, und grübelt darüber nach, wieweit diese Vorstellungen dem, was vor sich geht, entsprechen. Manche denken, solche Ideen spiegeln einfach die Vorgänge auf der anderen Seite wider. Andere denken, vieles an ihnen ist eine Zutat des eigenen Verstandes; letzten Endes kann man nicht wissen, was wirklich drüben vor sich geht. Der Abgrund ist zu tief. Die Kluft ist unüberbrückbar."¹

    2

    Was, wenn die Statuen außer Augen und Ohren noch Münder besäßen und sprechen könnten, laut genug, um sich mit den Nachbarn und weiteren in der Reihe zu verständigen? Dann ließe sich herausfinden, was andere sehen und hören. Skulptur für Skulptur würde zusammengetragen, was sich aus den jeweiligen Standorten an Eindrücken aufdrängt und zu diesen oder jenen Mutmaßungen führt. Die Ungewissheit über das, was in der Ferne letztlich vor sich geht, wiche allein dadurch nicht. Um die „Wahrheit" zu erfahren, müssten die Statuen aufhören, Statuen zu sein, ihre Starrheit überwinden, zum anderen Ufer übersetzen oder den Abhang hinuntersteigen. Womöglich aber wiche das beklemmende Gefühl, in der eigenen Wahrnehmung, dem eigenen Urteil wie in einem Käfig eingesperrt zu sein. Dort ging tatsächlich etwas vonstatten, sagte sich jede der Statuen, und einen Zipfel davon hatte ich, wie verschwommen und vage auch immer, vermutlich erhascht.

    Aber vielleicht wäre auch das Gegenteil der Fall, um sich greifende Verwirrung und Verunsicherung infolge eines unschlichtbaren Widerstreits der Deutungen. Dann wüchsen die Zweifel in die Tauglichkeit des eigenen Verstandes, erschiene dieser als Quelle aller Täuschungen und Missverständnisse, als Betrüger, und die Statuen mutierten zu postmodernen Philosophen: Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen ohne Wahrheitsanspruch. Ihr Bild von sich gliche dem Bild, das diese Philosophen vom Menschen als einer „gescheiterten Spezies" zeichnen. Gerade weil Menschen sich Weltzusammenhänge nur als die Wesen anzueignen vermögen, die sie sind, denkend, begrifflich, Modelle bildend, entginge ihnen, wie diese Zusammenhänge an und für sich, unabhängig von diesen Konstrukten beschaffen sind. Die Verfasstheit von Lebewesen, die Conditio humana in diesem Fall, zur Ursache ihrer Weltentfremdung umzudeuten, ist wahrlich bizarr. Tatsächlich ist das vermeintliche Paradox Wort für Wort ein Argument für und nicht gegen die (mögliche) Realitätsnähe menschlicher Vorstellungen. „Es ist unbestreitbar, dass wir die Welt ‚vom Standpunkt‘ eines Menschen sehen, wie Kant gesagt hat. Doch bedeutet dies nicht, dass wir sie damit nicht erkennen können. Wir erkennen eben vom Standpunkt eines Menschen, wie die Welt an sich ist."²

    3

    Nur sind dieser Menschen und folglich auch ihrer Standpunkte viele, unvorstellbar viele, wenn man auf die Menschheit blickt. Wie gelangt man da zu einem überindividuellen, gemeinschaftlichen Realitätsverständnis? Was verbürgt dessen Stichhaltigkeit? Wie entkommt man dem Käfig, den Idolen des Stammes, der Höhle, des Marktes, des Theaters aus Francis Bacons „Novum Organum"? Das ist weder möglich noch nötig, lautet der Bescheid der Postmoderne. Nicht möglich aus Gründen, die die postmoderne (poststrukturalistische, konstruktivistische) Philosophie vor Augen führt, nicht nötig aufgrund der Arrangements der postmodernen Konstellation. Der Käfig wird zur Heimat, zum Hort der Selbstbehauptung, Selbstverwirklichung. Die Parabel der denkenden, sprechenden Statuen lanciert das Bild des Menschen als eines Homo clausus, eines von allen anderen Menschen abgetrennten, in seine eigene Welt gebannten Individuums. Die Postmoderne verklärt die Trauer, die dieses Bild hervorruft, zur Melancholie. Etwas ging verloren, aber was genau, ist schwer zu sagen; das Verlorene wiederzugewinnen ist offenkundig aussichtslos. „Man muss die Hoffnungslosigkeit als solche hinnehmen, von ihr im Denken ausgehen und sich leiten lassen, beschrieb Jean-François Lyotard diese postmoderne Mentalität, und: „Was machen wir, wenn wir keinen Horizont der Emanzipation haben, wo bieten wir Widerstand? „Im Hinterfragen der Regeln von Kunst", lautete die Antwort.³ Das „Hinterfragen der Regeln von Gesellschaft" steht seither nicht mehr auf dem Programm postmoderner Theoretiker.

    4

    Diesen Regeln auf die Spur zu kommen, verlangt unter den obwaltenden Verhältnissen gehörige Anstrengung. Sie zu entmutigen, geschieht so gut wie alles. „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen und Familien, der Ausspruch stammt von Margaret Thatcher, und die musste es wissen. Die Gesellschaft in eine Ansammlung isolierter Einzelner zu verwandeln, die jenseits von Stand und Klasse lebten (und dachten), war schließlich ihr Projekt. Die systematische Schwächung und gewaltsame Zerschlagung von Organisationen der Arbeiterschaft, begleitet von einer Schockwelle der Privatisierung, bereitete den Boden für die Pflugscharen des neoliberalen Unternehmertums. Die Arbeit selbst wurde in eine kaum mehr überschaubare Vielfalt von Arbeitssituationen, Arbeiterlagen aufgespalten. Wo immer diese Methode zum Einsatz kam, entstanden Risse, Spaltungen zwischen Zentrum und Peripherie, Stammbelegschaften einerseits, Leih-, Zeit-, Hilfsarbeitern, Beschäftigten mit Werkverträgen, illegal in Dienst Gestellten ohne alle Rechte andererseits. Jede neue Kategorie abhängig Beschäftigter verschleierte zusätzlich die ungeheure Kluft, die sich zwischen Arbeitsvolk und Arbeitsherren weltweit auftat. Das Gemeinsame all dieser Formen, Erwerbsarbeit unter dem Kommando des Kapitals zu sein, trat in den Hintergrund. Die soziale Realität per se, Arbeit, löste sich mehr und mehr in scheinbar inkommensurable Realitäten auf. Unter den einzelnen Gruppen machte sich jener „kollektive Individualismus breit, den Alexis de Tocqueville zum Kennzeichen der fragmentierten spätabsolutistischen Gesellschaften erhoben hatte. Die Zersplitterung des Realen bildet den objektiven Vorwurf für jeden zeitgemäßen Realismus.

    Sie durchdringt, dank der Finessen des „aktivierenden Sozialstaats", auch die heutige Erfahrung von Arbeitslosigkeit. Die penible Prüfung von Qualifikation, Ersparnissen, Wohnverhältnissen, Partnerschaften etc. erzeugt Abertausende von Sonderfällen. Die Norm verflüchtigt sich in ihre Abweichungen, und in den Sozialgerichten stapeln sich die Klagen, weil keiner mehr durchsieht. Aber lieber das als Klarsicht der Betroffenen hinsichtlich der Gründe ihrer Lage und Behandlung.

    Gleich dem Lohnarbeiter und dem Arbeitslosen wurde auch der Schuldner zur Sozialfigur mit endlos vielen Gesichtern. „Pleite gehen ist etwas Höchstpersönliches", war kürzlich in der Online-Ausgabe der FAZ zu lesen. Gut so, da bleibt den Schuldnern bei ihrem verständlichen Bemühen, den je eigenen Kopf noch aus der Schlinge zu ziehen, die Mühe erspart, die gesellschaftliche Logik der Verschuldung aufzuspüren.

    5

    Diese Logik bliebe dem Bewusstsein auch dann verschlossen, wenn „empathische Theaterschaffende eine Produktion unter dieses Thema stellten und Menschen aus dem „wirklichen Leben auf eine Bühne bäten, um in einem wie immer gearteten Arrangement über ihre Erfahrungen zu berichten. Die Realität der postmodernen Realitätsverleugnung lebt genau von diesem Zugleich, diesem Nebeneinander, von diesem großen Und, dem Verknüpfungsmodus der Nachrichten. Mit der Methode von Jägern und Sammlern, die nach „Experten aus dem Alltag" fischen, kommt man dem Hintergrund dieser Erfahrungen nicht bei.

    Hoch mobil gemachte Individuen, auf Trab gebrachte Statuen, sind auf getrennten Bahnen unterwegs, in voneinander separierten Räumen von Wahrnehmung, Denken, Handeln. Sie bilden verselbständigte Momente eines verborgenen Prozesses, der sich als „geschlossener Zusammenhang, als „ein Ganzes, so wie Georg Lukács das vorschwebte, ebenso wenig rekonstruieren lässt wie unter Ausklammerung des Bewusstseins der Akteure.⁴ – Das den Blicken Verborgene postmodern-neoliberaler Gesellschaften existiert als Pool von Strategien, als Produktionsstätte immer neuer Kniffe, Klassifizierungen, Vorstöße, Frontverschiebungen, vermittels derer soziale Trennungen erprobt, durchgesetzt, verfeinert werden. Was hier tobt, ist ein Kampf um die Köpfe, die, der herrschenden Absicht gemäß, weder nach links noch nach rechts schauen sollen, um Gemeinsamkeiten mit ihresgleichen zu entdecken, die tiefer reichen als die offen zutage tretenden Differenzen. Die Fragerichtung zu verändern, von: „Was trennt mich von den anderen? zu: „Was verbindet mich mit ihnen?, ist der erste Schritt auf dem langen Weg zur Entthronung der neoliberalen Ideologie, der einzig verbliebenen „großen Erzählung" aus dem 20. Jahrhundert. Realisten im Zeitalter der Postmoderne arbeiten zuerst und vor allem an der Wiederherstellung des sozialen Sinns.

    Inmitten ihres Kampfs gegen die britischen Arbeiter nahm Margaret Thatcher eine kleine Auszeit und reiste zu einem Kurzurlaub in die Schweiz. Aber sie kam nicht recht zur Ruhe. Aus London wurden ihr die jeweils neuesten Zahlen zu Festnahmen und Verurteilungen aufmüpfiger Gewerkschaftler gemeldet. Und dann sieht sie Gespenster: „Zuweilen glaubte ich am Ende eines Tages, ich müßte nur aus dem Fenster blicken, dann würde ich Bergleute aus Yorkshire durch die Schweizer Alpen marschieren sehen. Und weder die wunderbare Szenerie der Berglandschaft noch meine Lieblingslektüre – Thriller von Frederick Forsyth und John le Carré – verschafften mir Ablenkung."

    Meryl Streep als Margaret Thatcher in „The Iron Lady" in Situationen wie diesen – ein Gespenst des Kapitals, das Gespenster sieht –, das hätte den aufdringlichen Naturalismus dieses Films vielleicht gekillt.

    6

    Realitäts-, Authentizitätseffekte zu produzieren, ohne das Zugrundeliegende darin aufscheinen zu lassen, verrät keine realistische Haltung. Die im Gegenwartstheater so beliebten Stadtrundgänge, Wohnungsbesuche, bei denen das Publikum von Station zu Station eilt, Arbeitslosen, Asylanten, Prostituierten etc. begegnet, die ihre „wahre Geschichte aus ihrem Milieu heraus erzählen, reformuliert das Echtheitsdogma der Postmoderne mit pseudokünstlerischen Mitteln. Eine bloße Zusammenschau der Phänomene in der Hoffnung, dass diese sich wechselseitig kommentieren, einen Assoziationsraum bilden, in dem jeder sich seinen Teil denkt, ist eine Kapitulation vor der Beliebigkeit, Ausdruck von Denkfaulheit zudem. „Dürfen sich die ‚Edelsten der Nation‘ nur auf Kultivierung ihrer Gefühle beschränken und im übrigen ahnungslose Kerle sein, ohne Kenntnisse und Erkenntnisse?, mokierte sich George Grosz im Jahr 1925, und fuhr fort: „Wenn ja, dann haben die Künstler recht, die glauben, um revolutionär zu sein, genüge es, jahraus, jahrein zu pinseln und auf eine bessere Zukunft zu hoffen. – Pinseln und hoffen, installieren und hoffen, arrangieren und hoffen – samt und sonders Fluchten vor der Realität, vor dem, was „dahintersteckt, im Namen derselben.

    Das Steckenbleiben in der Unmittelbarkeit, das Genüsslich-in-ihr-sich-Ausbreiten, spielt den Doxa der Postmoderne bewusstlos in die Hände. Desgleichen die Auffassung, der zufolge diese Doxa (Sei du flexibel, kreativ, allzeit konsumbereit!) vollständig vom Denken der Individuen zumindest der westlichen Hemisphäre Besitz ergriffen hätten. Träfe das zu, hätte der neoliberale Kapitalismus über alle Gegenkräfte geistiger wie praktischer Art triumphiert, was könnte die Kritik an ihm überhaupt noch anderes leisten, als genau das vorzuführen? Endspiele einer Gesellschaftsform, die keine Totengräber findet⁶ und die Menschen zu ebenso ohnmächtigen wie geschwätzigen Zuschauern dieses Selbstmords auf Raten degradiert – Literatur und Dramatik unserer Tage beziehen daraus nur allzu oft ihre Raison d’Être. Jelinekeske Textflächen, die kein Atemschöpfen lassen, endloses Geriesel der Worte, hilfloses Gestammel, das als Manifestation kaputten Denkens zu keinem Beschluss mehr kommt. So unterzeichnet man – indes man sich ihnen überlegen wähnt – seine höchstpersönliche Unterwerfung unter die Mächte der Welt.

    7

    Tatsächlich stehen die Dinge anders. Der Kreis aus sozialen Strukturen, den Positionen, die die Einzelnen darin einnehmen, sowie den Dispositionen, vermöge derer sie diese Positionen ausfüllen und die Strukturen reproduzieren, ist nicht geschlossen. Mitunter dämmert sogar eilfertigen (Mit-)Tätern der neoliberalen Weltordnung, dass und wie sie zu Tätern wurden, die Opfer produzieren. – Bald nach dem Ausbruch der jüngsten globalen Finanz- und Wirtschaftskrise nahm eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern Kontakt zu Akteuren der Finanzwirtschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf. Die Recherche⁷ förderte bekannte Ausflüchte zutage, die die Schwäche der menschlichen Natur, die Gier des Menschen für den Crash verantwortlich machten. Dazwischen flackert jedoch immer wieder die Erkenntnis auf, dass der Crash systemischer Natur war, dass die ihn auslösenden Verhaltensweisen treibhausmäßig gezüchtet wurden. „Wenn einer nicht extrem ethisch veranlagt ist, dann macht er bei falsch gesetzten Anreizen fast alles […]. Egal, was für ein Produkt es ist. „Es gibt ja auch einen heftigen Wettbewerb unter den Beteiligten. Wer das meiste Geld verdient, der ist der Tollste und Beste. Und so sind auch die Anreizsysteme ausgelegt. Das Kriterium für Güte ist einfach: Es geht tatsächlich nur um das Geld. Man liest glasklare Analysen des Zusammenbruchsszenarios wie die folgende: „Da ist eine gigantische Zahlengläubigkeit, eine gigantische Formelgläubigkeit, eine gigantische Modellgläubigkeit. Ich hab manchmal den Eindruck, wir haben da so eine Art neue Kirche, so eine Art Finanzkirche, eine Finanzreligion erfunden, in der alle gläubig sind und keiner mehr was weiß."

    Auch Skrupel melden sich zu Wort: „Ich glaube, wir müssen uns dafür entschuldigen, dass wir zu viel wollten und zu wenig nachhaltig arbeiteten. „Ich muss das ganz persönlich hinterfragen: Wie habe ich durch mein persönliches Tun oder Nichtstun dazu beigetragen? Habe ich für mich persönlich auch eine Lektion abzuleiten, ja? „Wie kriegt man es hin, dass wir verantwortlich mit unseren Geschäften umgehen?", fragt einer und weiß es nicht.

    8

    Die Äußerungen kommen aus dem Epizentrum des Bebens. Man kann sie als Hilferufe lesen, als Rufe an eine abwesende Instanz, die Politik, doch endlich einzuschreiten. Aber es schritt niemand ein. Das Material wirft unausgesprochen die Schuldfrage auf. Nicht alle sind gleichermaßen verantwortlich für das Desaster, das sich jederzeit wiederholen kann. Einige tragen mehr Verantwortung als die anderen, erheblich mehr. Sie weigern sich, das anzuerkennen, und deshalb gehören sie zu ihrem Schutzpatron verjagt, zum Teufel. Mehr noch als eine Methode oder einen bestimmten Stil zu umschreiben, meint Realismus eine Haltung der sozialen Welt gegenüber. Der Realist nimmt soziale Tatsachen nicht einfach zur Kenntnis und bildet sie schon gar nicht ab. Er begreift diese vielmehr in ihrem originären Sinn, als Tat sachen, als von Menschen produzierte und legitimierte Verhältnisse, und schürt den Zorn auf jene, die sich im Namen von Sachzwängen gegen den Geist der Gesellschaft verschwören. In diesem letzthin politischen Sinn geht es heute – wieder – um den Realismus.

    1Norbert Elias: Die Gesellschaft der Individuen, Frankfurt am Main 1987, S. 157.

    2 Markus Gabriel: Warum es die Welt nicht gibt, Berlin 2013, S. 125. Im selben Sinn: Maurizio Ferraris: Manifest des neuen Realismus, Frankfurt am Main 2014, S. 32.

    3Jean-François Lyotard: Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 38 f. und S. 69.

    4Für Lukács lautete die Kardinalfrage, „ob der ‚geschlossene Zusammenhang‘, die ‚Totalität‘ des kapitalistischen Systems, der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Einheit von Wirtschaft und Ideologie objektiv, unabhängig vom Bewußtsein, in der Wirklichkeit ein Ganzes bildet. Zitiert nach: Georg Lukács: „Es geht um den Realismus (1938), in: ders.: Essays über Realismus, Berlin 1948, S. 132.

    5Margaret Thatcher: Downing Street No. 10. Die Erinnerungen, Düsseldorf 1993, S. 515.

    6„Es sieht so aus, als desorganisiere der desorganisierte Kapitalismus nicht nur sich selbst, sondern gleichzeitig auch seine Gegenkräfte, wodurch er diese der Fähigkeit beraubt, ihn entweder zu überwinden oder, alternativ, zu retten. Damit der Kapitalismus sein Ende findet, muss er deshalb selbst für seine Zerstörung sorgen – und genau das erleben wir heute. Wolfgang Streeck: „Wie wird der Kapitalismus enden?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, März 2015.

    7Claudia Honegger/Sighard Neckel/Chantal Magnin (Hg.): Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt, Berlin 2010. Diefolgenden Zitate sind dem Kapitel „Anstandsbühne" entnommen.

    Eugen Ruge

    Die andere Art des Wissens

    Ein Plädoyer für das Erzählen

    1

    Mein erster Nennen-wir-es-Roman – etwa 100 Seiten, die ich Mitte der Achtziger schrieb – hieß „Heimweh" und war, so würde ich rückblickend sagen, ein postmodernes Stück Literatur. Er entlarvte sich auf Schritt und Tritt als Konstruktion, führte Handlungen aus, die er wieder zurücknahm, und kultivierte den Sprachekel im Angesicht der Realität. Damals, nach indoktrinierenden Marxismuslektionen und im gefühlten Stillstand der Zeit, war mir alles recht, was irgendwie dem Ganzen zuwiderlief; was der festgefügten Welt, die mich umgab, gedanklichen Schaden zufügte. Die Zeit schrie danach, Gewissheiten zu zertrümmern, und es war wunderbar, in der Krise zu sein – inmitten von so viel Optimismus. Veröffentlicht wurde der Text selbstverständlich nicht. Obwohl er keineswegs vordergründig politisch war, konnte der Lektor des Mitteldeutschen Verlages nur den Kopf schütteln …

    Will sagen: Bei aller Schwäche der poststrukturalistischen und postmodernistischen Theorie, bei all ihrer Ungenauigkeit und

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