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Die Philosophen des Krieges: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 9
Die Philosophen des Krieges: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 9
Die Philosophen des Krieges: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 9
eBook333 Seiten4 Stunden

Die Philosophen des Krieges: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 9

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Über dieses E-Book

Der zwölfbändige Zyklus "Ein Tanz zur Musik der Zeit" —­ aufgrund­ seiner inhaltlichen­ wie formalen Gestaltung immer wieder mit Mar­cel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" verglichen —­ gilt­ als­ das­ Hauptwerk des­ britischen Schriftstellers Anthony Powell und gehört zu den bedeutendsten Romanwerken des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von ­dem ­gleichnamigen Bild des französischen Barockmalers Nicolas Poussin, zeichnet der Zyklus ein facettenreiches Bild der englischen Upperclass vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die späten sechziger Jahre. Aus der Perspektive des mit typisch britischem Humor und Understatement ausgestatteten Ich­-Erzählers Jenkins — der durch so­ manche­ biografische­ Parallele­ wie­ Powells­ Alter ­Ego­ anmutet — bietet der "Tanz" eine Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Erinnerungen, die einen einzigartigen und auf­schlussreichen Einblick geben in die Gedanken­welt der in England nach wie vor tonangebenden Gesellschaftsschicht mit ihren durchaus merkwürdigen Lebensgewohnheiten.
SpracheDeutsch
HerausgeberElfenbein Verlag
Erscheinungsdatum9. Mai 2017
ISBN9783941184848
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    Buchvorschau

    Die Philosophen des Krieges - Anthony Powell

    (Druckausgabe)

    1

    Gegen Morgen ertönte die Klingel des Fernschreibers.

    Es konnte eine ganze Nacht vergehen, ohne dass man von einem solchen Ruf geweckt wurde, denn hier, anders als bei den Verbänden, fiel es nicht in meine Verantwortlichkeit, nachts um vier aufzustehen und von dem geheimen Radiosender »Spinne«, der immer in den frühen Morgenstunden aktiv wurde, ein Diktat aufzunehmen – irgendeine kurze, nicht identifizierbare Passage meist mittelmäßiger Prosa. Wenn einen nicht Luftangriffe daran hinderten, war Schlaf genug zu bekommen, obwohl die unaufhörlichen Vibrationen einer oder beider der Maschinen im Nebenraum – fortwährend verhaltene Gefühlsströme summend, die ihnen von einer ständig wechselnden Bedienung eingegeben wurden – die gleiche geistige Ruhelosigkeit anzeigten, die einen auch in dem Zimmer des diensthabenden Offiziers umgetrieben hatte. Gequälte, aggressive Schatten, endemisch hier wie Ghuls auf einem arabischen Friedhof, verweilten auf ewig in solchen Zellen und drängten jedem der wechselnden Besucher ihre Sorgen und Ängste auf, trieben ihn aus seinem Bett, seinem Zimmer, drangen ein in seine Träume, verzerrten sie. Hin und wieder streikte ein Fernschreiber. Dann spie er plötzlich nicht länger seine breiten Papierschübe aus, die stattdessen zerknüllt mitten in der Luft zum Stillstand kamen wie das Wasser eines gefrorenen Katarakts. Ein Papierstau war vielleicht auch jetzt der Grund für den Ruf. Es lag jedoch näher, dass das Klingeln eine Nachricht anzeigte, die sofortiges Handeln verlangte. Ich ging hinüber, um nachzusehen.

    Die ausgefransten Großbuchstaben des grauen Typoskripts übermittelten die Information, dass kleine polnische Abteilungen dabei waren, die russische Grenze zum Iran zu überschreiten, jeweils nur einige wenige Männer, aber genug, um darauf hinzudeuten, dass eine Art Evakuierung begonnen hatte. Es handelte sich um eine Nachricht, die für uns von großer Wichtigkeit war. Wir hatten sie schon lange erwartet. Zuerst dachte ich, ich müsse sofort Oberst Finn in seiner Wohnung anrufen, entschied dann aber nach einigen Überlegungen, dass er, da es schon fast Tag wurde, das Fernschreiben in wenigen Stunden auf seinem Schreibtisch vorfinden würde. Ohne dass Konsultationen stattgefunden hatten, konnte sowieso nichts Effektives unternommen werden. Außerdem, da er am Abend zuvor bis spät gearbeitet hatte – es war nach elf gewesen, als ich ihn mit schweren Schritten, wie der nach Karthago zurückkehrende Regulus, die Treppe hinuntergehen sah –, verdiente Finn jeden Augenblick der Ruhe, den er bekommen konnte. Ich ging zurück ins Bett. Die Fernschreiber surrten weiter ihre Beschwörungsformeln heraus, mürrisch und monoton, doch nicht ohne die Bedrohung eines plötzlichen, unkontrollierten Anfalls von Verrücktheit. Es gelang mir jedoch nicht mehr, die Bruchstücke meines gestörten Schlafs wieder zusammen­zu­setzen. Ich musste schließlich den Versuch aufgeben und mich dem Tag stellen. Auf dem Weg zum Rasieren hielt ich in dem Zim­mer der Abteilung an, die für die hereinkommenden Sig­nale zuständig war. Während der Einsatzzeit stand man unter dem Befehl des jeweils dort diensthabenden Offiziers, welchen Rang auch immer er bekleidete. Bei dieser Gelegenheit handelte es sich um einen fast zwergenhaften Leutnant mittleren Alters mit langen Armen, kurzen Beinen und einem gedrungenen Körper, der am Abend zuvor auf seinen ihm den Vorschriften nach zustehenden Rechten – auf die jene, die die Dinge gelassener nahmen, immer verzichteten – bestanden hatte, dass ihm beim Verteilen der Post geholfen werde. Während er verdrießlich die langen dunklen Korridore entlanggeeilt war und die heißen Nachrichten aufgeteilt hatte, um die Eingangskörbe für den Tagesanbruch zu füllen, schien er einer aus der Schar der Kobolde in Christina Rossettis »Goblin Market« zu sein. Als ich jetzt die Tür zu dem Zimmer öffnete, konnte ich ihn jedoch präziser identifizieren. Der Vorhang hatte sich augenscheinlich gerade zum dritten Teil des »Ring« – Mime in seiner Schmiede – geöffnet und gab den Blick auf den verhutzelten Leutnant in Hemdärmeln frei, wie er sich gerade über einen Tisch beugte und mit absolut fieberhafter Energie an einem Gegenstand herumrieb.

    »Guten Morgen.«

    Er verhehlte nicht eine gewisse Gereiztheit angesichts der Unterbrechung der Vorstellung an einem so entscheidenden Punkt – nur wenige Sekunden bevor er mit einem Schwall gutturaler Tenornoten die einführende Klage eröffnen würde:

    »Zwangvolle Plage! / Müh ohne Zweck! / Das beste Schwert, / das je ich geschweißt …«

    Doch er unterbrach für eine kurze Weile seine undankbare Aufgabe, hielt das Poliertuch allerdings weiter mit seinen klauenartigen Fingern umklammert. Es war natürlich nicht Siegfrieds Schwert, dem er sich mit so großer Aufmerksamkeit widmete (Geschäfte machend mit dem Feind sozusagen), sondern jener inzwischen von fast allen getragene – möglicherweise indische – Beitrag zur militärischen Bekleidung, der Sam-Browne-Gürtel, zweifellos sein eigener, dessen abgekoppelter Schulterriemen auf einem anderen Tisch seiner Behandlung harrte.

    »Kann ich das Telegramm über die Polen bekommen, die die UdSSR verlassen?«

    Der unten auf der Nachricht angeführte Verteiler pflegte die unmittelbar mit dem Thema zu befassenden Stellen zu nennen. Als er eher widerstrebend die Ernte der Nacht hervorholte, hielt er, wie ein vorsichtiger Pokerspieler seine Karten, das Bündel der Telegramme eng an seiner Brust, damit, während er es durchblätterte, kein anderes Auge ihre Sicherheit gefährde. Das gewünschte Papier befand sich ganz unten in dem Stapel. Nachdem er die Empfänger notiert hatte, unterhielten wir uns noch darüber, welcher der Waschräume in dem Gebäude der am wenigsten abschreckende sei, und stimmten im Prinzip darin überein, dass es zwischen den existierenden Wahlmöglichkeiten keinen großen Unterschied gebe. Mit einem verzweifelten Kopfschütteln, das entweder der Vorstellung von Reihen schmieriger Waschbecken galt oder seiner eigenen unentwegten Frustration als Schwertschmied (oder Lederbearbeiter, besser gesagt), wandte sich Mime wieder dem Sam-Browne zu. Dann verschloss die Tür den Blick auf ein immerwährendes Polieren. Draußen auf dem Flur erhob sich, durch die Besen der frühmorgendlichen Putztruppe zu Wolken aufgewirbelt und in den Augen brennend wie Pfeffer, der Staub uralter Zeiten. Boten in schäbigen blauen Uniformen, eine Rasse grob und unhöflich bis fast auf den letzten Mann, schlurften jetzt gähnend und einander anknurrend umher. Theoretisch dauerte mein Nachtdienst bis neun Uhr, aber da der Nibelunge mir zugestanden hatte, dass die Lehnstreue ihm und seinem Klan gegenüber inzwischen in genügendem Maße abgeleistet sei, zog ich mich an und machte mich, froh, wieder einmal aus dieser wiederkehrenden nächtlichen Vasallenpflicht entlassen zu sein, auf den Weg zum Frühstück. Zusätzlich zu den stimulierenden Neuigkeiten, die über den Fernschreiber gekommen waren, galt es noch über Dinge nachzudenken, die am Tag zuvor passiert waren.

    Ein wolkenverhangener Himmel brütete über Reihen von überfüllten Bussen, die die Whitehall entlangrumpelten. Singapur war fünf oder sechs Wochen zuvor gefallen. Da man auf offizieller Seite eine nachteilige Wirkung auf die öffentliche Moral befürchtete, waren die japanischen Exzesse dort heruntergespielt worden, doch alle, die Zugang zu den in relativ begrenzter Zahl zirkulierenden Dokumenten hatten, wussten, was wirklich vor sich ging. Ein Rückzug aus Birma stand unmittelbar bevor. In London pflegten die Luftangriffe, die insgesamt gesehen nachgelassen hatten, von Zeit zu Zeit wie eine unheilbare Krankheit wieder auszubrechen. Es war eine gute Nachricht, dass es den Polen endlich erlaubt sei, Russland zu verlassen. Etwas Aufmunterndes war höchst willkommen. Die Sache hatte besonderen Bezug zu meinen eigenen veränderten Umständen.

    Neun oder zehn Monate zuvor war ich zu einer kleinen, ziemlich in sich abgeschlossenen Gruppierung innerhalb des Generalstabs abgeordnet worden. Einschließlich Finns selbst, eines Oberstleutnants, bestand das Personal der Sektion aus etwas weniger als einem Dutzend Offiziere. Nach einer kurzen Probezeit zum Hauptmann ernannt, war ich »aus Gründen administrativer Zweckmäßigkeit« zum Nachrichtencorps versetzt worden. Wie die meisten derer, die auf eine frühere militärische Inkarnation verweisen konnten, trug auch ich, weil ich ohne besonderen Grund annahm, mit ihnen ginge ein erhöhtes Prestige einher, die Abzeichen meines früheren Linienregiments weiter. Pennistone zum Beispiel, kürzlich zum Major befördert, gab nicht einmal seine anonymen Löwe-und-Einhorn-Abzeichen auf, unter denen er in die Armee eingetreten war. Ich war jetzt Pennistones Assistent für die Liaison mit Polen. Die übrigen Mitglieder der Abteilung kümmerten sich entweder um die anderen ursprünglichen Alliierten – Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Norwegen, Tschechoslowakei – oder um die neutralen Länder (von denen sich einige von Zeit zu Zeit in Alliierte oder Feinde verwandelten), insgesamt fast zwanzig an der Zahl, die sich eines Militärattachés rühmten.

    Die Militärattachés waren die für uns wichtigsten Leute. Sie bildeten die Kanäle, über die unsere Arbeit geleitet wurde. Nur bei drei der alliierten Mächte war das anders. Diese Ausnahmen waren France Libre, die Amerikaner und die Russen. Nur wenn es sich um die ureigensten Aufgaben eines Militärattachés handelte – Routineeinladungen zu Manövern und dergleichen –, war Finn mit diesem Trio befasst. Für diese drei Mächte bestanden besondere Missionen: für die Amerikaner und Russen wegen des schieren Umfangs an Arbeit, der mit jenen verbunden war; für France Libre aus dem guten Grund, dass es ihnen an einer Botschaft und folglich auch an dem dazugehörenden Militärattaché fehlte. Die Vichy-Regierung wurde, anders als von den Deutschen eingesetzte Marionettenregime in anderen besetzten Ländern, immer noch von Großbritannien als die Regierung Frankreichs anerkannt, obwohl sie natürlich am britischen Königshof diplomatisch nicht vertreten war. Pennistone hatte mir einen großen Teil dieser Lage erklärt, als wir uns ein Jahr zuvor in der Mission von France Libre selbst trafen, wo Finn, damals noch Major, mich für einen Posten interviewt hatte, den ich dann aber nicht erhielt. Dieses Gespräch hatte mich jedoch schließlich zu der Abteilung gebracht. Es ist allerdings fraglich, ob das so gekommen wäre, wenn Finn selbst sich nicht dazu entschlossen hätte, seine Beförderung anzunehmen, die er in der Vergangenheit so häufig abgelehnt hatte. Vielleicht hätte mich Pennistone aber sowieso in die Abteilung geholt. Man kann dem wohl nicht entgehen, was sein muss.

    »Finns Gutmütigkeit macht ihn verletzbar«, sagte Pennistone. »Aber er kann immer auf seine Taubheit und sein Victoria-Kreuz zurückgreifen, wenn es hart auf hart kommt.«

    Zweifellos scheute sich Finn nicht, eines dieser Attribute, oder beide, entschieden zu seinem Vorteil einzusetzen, wenn die Situation das erforderte, aber ihm standen auch noch andere Waffen zur Verfügung, und es war äußerst schwierig, an ihm vorbeizukommen, wenn es zu Konflikten kam. Niemand wusste, warum genau er seine Meinung geändert und eine Beförderung akzeptiert hatte. Falls er es bis zu jenem Moment vorgezogen hatte, in seinem Alter (aber wie alt er wirklich war, blieb eines seiner Geheimnisse) zu schwerer Verantwortung, zu komplizierten Pflichten aus dem Wege zu gehen, so fand er sich jetzt mit Arbeit konfrontiert, die gleichermaßen äußerst verschiedenartig und anspruchsvoll war. Es bestand vielleicht eine gewisse Parallele zu dem Obergefreiten Gittins, dem Lagerhalter in meinem früheren Bataillon, einem Mann ähnlich ausgeprägten Charakters, der, zweifellos bis zum Schluss, einen Job, den er mochte und durch und durch beherrschte, der Unsicherheit eines Aufstiegs vorzog. Möglicherweise hatte Finn das äußerlich Pittoreske an seinen Pflichten, an den Menschen, mit denen er nun in Kontakt kam, mehr angezogen, als er zugeben würde. Das mochte durchaus so sein, aber Finn gestand nie etwas ein, außer seiner Taubheit und seinem Victoria-Kreuz; selbst nicht, was seine Initiale ›L‹ bedeutete, obwohl er stets lächelte, wenn diese Frage aufkam, so als ob er sich schon dar­auf freue, eines Tages seinen Vornamen in einem höchst wir­kungsvollen Moment bekanntzugeben.

    »Finns ungewöhnliches Französisch ist ganz schön berühmt in Paris«, sagte Pennistone. »Er hat es in einen großen Vorteil verwandelt.«

    Pennistone, kompetent, ja brillant darin, philosophische Feinheiten oder nebensächliche Details offizieller Dialektik zu erklären, war völlig unfähig, einen klaren Bericht von seinem eigenen vergangenen oder gegenwärtigen täglichen Leben zu geben, so dass es unergründlich blieb, wie er und Finn sich in Paris kennengelernt hatten. Wahrscheinlich war das zu einer Zeit gewesen, bevor Pennistone die Geschäftswelt aufgegeben hatte, um ein Buch über Descartes – vielleicht war es auch Gassendi – zu schreiben; und möglicherweise ging es darum, dass Pennistone Finns Büro mit Textilien ausstatten sollte. Finn war offensichtlich sowohl im Frieden als auch im Krieg ein sehr gewiefter Mann, so dass er wohl Pennistone selbst dann als seinen Assistenten aufgestöbert hätte, wenn dieser nicht bereits einer der Offiziere der Sektion, sondern vielmehr in der entferntesten Nische der militärischen Maschinerie verborgen gewesen wäre. Pennistone erfreute sich eindeutig einer Sonderstellung bei Finns Lagebesprechungen, und das gewiss nicht allein, weil er mehrere Sprachen fließend beherrschte.

    »Warum hat denn Finn die Bankenwelt verlassen und ist in die Kosmetikindustrie gegangen?«

    »Hat er nicht irgendwelche Familienbeteiligungen geerbt? Ich weiß es nicht. Seine Tochter ist mit einem Franzosen verheiratet, der in der britischen Armee dient – wie es ja einige wegen ihrer politischen Abneigung gegenüber de Gaulle tun –, aber Finn hält seine Frau und seine Kinder im Verborgenen.«

    »Warum tut er das?«

    Pennistone lachte.

    »Meine Theorie ist, weil die Gegenwart von Verwandten, welcher Art auch immer, Finns Funktionsweise als eines völlig ungebundenen Individuums beeinträchtigen würde, als einer Art Idealgestalt – zumindest in seinen eigenen Augen im Hinblick auf seine eigenen besonderen Aufgaben –, als eines Menschen, für den ein Anhang wie Frau und Kinder nur eine Behinderung sein könnte. Narzissmus, vielleicht die beste Art von Narzissmus. Ich bin mir nicht sicher, ob er nicht Recht hat, sich so zu verhalten.«

    Ich verstand, was Pennistone meinte, und auch, warum er und Finn so gut miteinander auskamen, was auf den ersten Blick erstaunlich war, da Finn wahrscheinlich noch nie etwas von Descartes gehört hatte, von Gassendi ganz zu schweigen. Er sei kein großer Leser, pflegte er immer zu sagen. Jene schwungvoll selbstbewusste Form, die er seinem für die Öffentlichkeit bestimmten Bild von sich zu geben für erforderlich hielt, war von einer solchen geschliffenen Perfektion, dass selbst die Kritischsten keinen Anstoß daran nehmen konnten. Möglicherweise hatte sich Mrs. Finn in dieser Hinsicht als die Ausnahme erwiesen, was zu einem Mangel an Harmonie in ihrem häuslichen Leben geführt hatte. Helden sind berüchtigt dafür, dass es schwer ist, mit ihnen zusammenzuleben. Wenn Finn einmal über Dinge sprach, die nicht dienstlich bedingt waren, neigte er dazu, anekdotisch von seinen Erfahrungen im ersten Weltkrieg zu erzählen, von Lieblingsgeschichten wie dem Fall, dass er während eines Aufenthalts bei einem Marsch den Feldarzt dazu überredet hatte, ihm einen schmerzenden Backenzahn zu ziehen. Zahlreichen Schlucken Rums folgten erdbebenartige Erschütterungen. Finn begleitete seine Erzählung mit angemessenen Gesten und mimischem Spiel, die in ihrer Art durchaus erschreckend waren und unbestreitbar versteckte schauspielerische Fähigkeiten erkennen ließen. Der Höhepunkt kam fast als ein Flüstern heraus.

    »Der Feldarzt hat Scheiße gebaut. Er hat den falschen Zahn gezogen.«

    Hätte Finn wirklich die Bühne statt des Krieges und der Geschäftswelt zu seinem Beruf gewählt, wäre er seiner äußeren Erscheinung wegen auf ›Charakterrollen‹ beschränkt gewesen. Ein im oberflächlichen Sinne gutes Aussehen ging ihm völlig ab. Kurz, breit und bartlos schien sein Kopf aus dem Stoßzahn eines Elefanten geschnitzt, wobei das ganze massige Elfenbeinhorn mehr oder weniger vollständig in seiner ursprünglichen Form belassen worden war, die Augen tief eingraben in den Schaft, der Rest der Wölbung eingenommen von seinen anderen Gesichtszügen, die in eine absolut kolossale Nase ausliefen, die sich direkt von dem völlig kahlen Schädel nach vorn streckte. Die Nase war absurd, grotesk, ein Gag, eine Maske aus einer Komödie von Goldini. Einige Tage vor der Fernschreiber-Neuigkeit über die Evakuierung der Polen hatte er mich zu sich bestellt.

    »Da David noch in Schottland ist«, sagte er, »möchte ich, dass Sie an einer Sitzung im Kabinettbüro teilnehmen. Erklären Sie denen mal, dass ein polnischer General ganz anders gestrickt sein kann als ein anderer.«

    Die Polen bildeten das bei weitem größte Truppenkontingent unter den Alliierten im Vereinigten Königreich. Sie beliefen sich auf ein Corps von etwa zwanzigtausend Soldaten und waren in Schottland stationiert, wo Pennistone sich gerade auf einer eine Woche dauernden Dienstreise befand, um die Armee persönlich in Augenschein zu nehmen und um Kontakte mit dem Britischen Liaison-Hauptquartier zu knüpfen, das ihr angeschlossen war. Die anderen Alliierten in diesem Land konnten jeweils nur zwei- oder dreitausend Männer aufbieten, obwohl einige von ihnen militärisch gesehen genauso nützliche, wenn nicht nützlichere, Karten hielten: die Belgier zum Beispiel, die immer noch den Kongo kontrollierten, oder die Norweger mit ihrer großen und leistungsfähigen Handelsflotte. Aber die Größe des polnischen Corps und die Tatsache, dass von den Polen, die dieses Land erreicht hatten, der proportio­nale Anteil an Offizieren größer war als der der Angehörigen niedrigerer Ränge, trugen dazu bei, die Komplexität polnischer politischer Auffassungen zu verstärken. Einige unserer eigenen offiziellen Stellen hatten nur ein geringes Verständnis für die Bedeutung dieses schwierigen Aspekts aller alliierten Beziehungen. Dort, wo das Missverständnis am größten, am verheerendsten war, hielt man die Polen für eine den Russen nicht unähnliche Rasse; ja, einige glaubten, sie seien kaum auseinanderzuhalten. Selbst Abteilungen, die in dieser Hinsicht besser informiert waren als die Zensurbehörde – der es stets als eine völlige und chaotische Überraschung erschien, dass Polen einander Briefe schrieben, in denen sie Gefühle gegenüber der UdSSR ausdrückten, die man alles andere als freundlich nennen musste –, waren manchmal ratlos angesichts der internen Konflikte bei den Alliierten, Konflikte, die unseren eigenen, in vieler Hinsicht ungewöhnlichen Vorstellungen vom Führen einer Armee, fremd waren.

    »Die Polen selbst haben einen Witz über ihre Generäle: Sie seien entweder sozial oder sozialistisch«, sagte Finn. »Ich wünschte nur, es wäre so einfach. Ich nehme an, Sie wissen ausreichend Bescheid, Nicholas. Wenn nicht, fragen Sie bei der Landessektion nach oder bei unserem Botschafter bei denen. Dies ist einer von Widmerpools Ausschüssen. Haben Sie schon von Widmerpool gehört?«

    »Ja, Sir, ich …«

    »Hatten mit ihm zu tun?«

    »Ziemlich oft, ich …«

    »Einige Leute finden ihn …«

    Finn hielt inne und machte ein ernstes Gesicht. Er muss zu dem Entschluss gekommen sein, unpräzise bleiben zu wollen, denn er beendete den Satz nicht.

    »Ist sehr aktiv, Widmerpool«, fuhr er fort. »Nicht jeder mag ihn – ich meine, wo er ist. Wenn Sie ihm schon begegnet sind, werden Sie wissen, wie die Dinge anzugehen sind. Sie müssen alle Informationen völlig parat haben. Eine Menge Notizen, auf die Sie zurückgreifen können. Wir wollen sie nicht enttäuschen. Möglicherweise wird auch Farebrother da sein. Er hat gewisse Verbindungen mit den Polen bei diesen geheimen Spielchen, die stattfinden. Farebrother hat viel Charme, das weiß ich wohl, aber Sie müssen dem widerstehen, Nicholas. Sehen Sie zu, dass er uns nicht in irgendwelche Aktivitäten seiner Leute verwickelt.«

    »Nein, Sir. Natürlich nicht. Ist es Oberst Widmerpool?«

    »Er ist ein Halboberst – großer Gott, ich hab die ganze Zeit Hlava warten lassen. Er muss sofort hochkommen. Am besten ist, Sie rufen David in Schottland an und sagen ihm, Sie vertreten ihn bei diesem Treffen im Kabinettbüro. Vielleicht kann er noch etwas beitragen. Machen Sie einen guten Eindruck, Nicholas. Zeigen Sie denen, dass wir unser Geschäft verstehen.«

    Tatsächlich war Finn von dem Gedanken an das Kabinettbüro ziemlich eingeschüchtert. Ich war selbst ein wenig eingeschüchtert. Die Warnung vor Farebrother, von dem ich bereits mehrere Male gehört hatte, er sei Oberstleutnant in einer der geheimen Organisationen, drückte das Prinzip, ja fast die Obsession Finns aus, zu jedwedem Zentrum verdeckter Kriegsführung eine möglichst große Distanz zu halten. Er glaubte, und zweifellos mit gutem Grund, dass mit normalen Liaison-Pflichten betraute Offiziere, wenn sie in Gewässern schwammen oder auch nur gelegentlich kurz in sie eintauchten, die von unterschiedlichen und zweifelhaften Strömen getrübt waren, die, manchmal ziemlich leichtfertig, von solchen dunklen und mysteriösen Quellen gerne in sie eingeleitet wurden, riskierten, ihr Vertrauen in sich selbst vis-à-vis den Alliierten, mit denen sie täglich zusammenarbeiteten, zu untergraben. Geheime Machenschaften der befremdlichsten Art mochten in einem totalen Krieg unumgänglich sein; sie sollten dennoch von denen, die einen anderen Job machten, vermieden werden, und zwar sowohl vom Standpunkt der Sicherheit als auch von jedem anderen Standpunkt aus gesehen. Das war Finns Meinung. Man konnte sie für eine bloße Theorie halten oder nicht. In seinem eigenen Stab musste man ihr folgen. Natürlich konnte nicht jedem Kontakt mit einer geheimen Einheit ausgewichen werden, denn in Bezug auf jeden beliebigen Alliierten existierten zwangsläufig gemeinsame Ebenen der Administration im Zusammenhang mit Routineaufgaben und solchen exzeptioneller Art, beispielsweise beim Transfer von Einzelpersonen oder Gruppen in Umständen, in denen die Veränderung dem Liaison-Offizier bekannt sein musste. Dennoch, im Großen und Ganzen sah Finns Abteilung bemerkenswert wenig von diesen finsteren Abzweigungen von der Hauptstraße militärischer Operationen; und er selbst warf jedem ihrer Repräsentanten, sei er männlichen oder weiblichen Geschlechts, in Uniform oder en civile, Blicke tiefster Missbilligung zu, wenn er ihnen in unserem Zimmer begegnete, was gelegentlich passierte.

    Das Treffen sollte in einem der großen Gebäude am Par­liament-Square-Ende der Whitehall stattfinden. Ich hatte mich am vorhergehenden Morgen mit einem gewissen Gefühl der Beklommenheit dahin aufgemacht. Nach der üblichen Sicherheitswache am Eingang übernahmen Angehörige der Royal Navy den Dienst, entweder weil das Verteidigungsministerium in seinen frühen Tagen von einem Marineoffizier geformt worden war, denn man hielt die Doppelnatur der Navy für eine angemessene Organisationsgrundlage für die Zusammenarbeit der Streitkräfte, oder einfach nur weil ein Corps, das in kleinen Abteilungen eingerichtet ist, für London zweckmäßig war. Die blauen Uniformen und die roten Bänder der Mützen ließen mich an Chips Lovell denken.

    »Ich weiß, es ist ein Krieg der Schneider«, hatte er gesagt, »aber ich kann mir diese blaue Kluft einfach nicht leisten. Sie werden mich, so wie ich bin, in Khaki akzeptieren müssen.«

    Ich fragte nach Oberst Widmerpool.

    »Aye, aye, Sir.«

    Diese altmodische Bestätigungsformel der Marine, die mich an so viele Abenteuergeschichten erinnerte, die ich als Junge gelesen hatte, erhöhte noch das Gefühl, unter Deck eines Schiffes zu gehen. Ich folgte dem Matrosen Treppe auf Treppe hinunter. Es war hier wie in den unteren Tiefen unseres eigenen Gebäudes, nur geräumiger und weniger schäbig. Der Matrose, der an einer schweren Kopfgrippe litt, führte mich in ein Zimmer tief im Inneren der Erde, dessen Einrichtung und Vorhänge auch hier weniger heruntergekommen waren als sonst allgemein in Hauptquartieren und Regierungsbüros. Ein ernster, grauhaariger Zivilist, offensichtlich der Bürochef, war dabei, Papiere auf beiden Seiten eines langen Tisches zu arrangieren. Ich erklärte ihm den Grund meines Erscheinens.

    »Oberst Widmerpool wird in Kürze hier sein. Er ist bei dem Minister.«

    Er sprach mit einer gewissen Schärfe, so als ob ich durch mein Zufrühkommen bereits eine Vorschrift verletzt hätte und es so nötig mache, Widmerpools eindrucksvolle Verabredung offenzulegen. Ich wartete. Wie ein Küster, der in einer Kathedrale vor einer Hochzeit die Blätter mit dem Verlauf des Gottesdienstes verteilt, legte der Bürochef eine weitere Auswahl an Dokumenten auf dem Tisch ab, wobei er sie in einem sehr exakten Verhältnis zu den bereits dort liegenden anordnete. Ein Kapitän zur See und ein Oberstleutnant der Royal Air Force kamen heftig miteinander redend herein. Sie ignorierten den Bürochef und mich, setzten sich an das hintere Ende des langen Tisches, holten weitere Papiere aus ihren Aktentaschen und setzten ihr Gespräch fort. Ihnen folgte eine Minute später ein jüngerer, wie ein Professor in Uniform aussehender Oberstleutnant, der, im Gegensatz zu den beiden anderen, ein schwaches »Guten Morgen« in meine Richtung murmelte, sich dann zu dem Seemann und dem Flieger setzte und an ihrem Gespräch teilnahm, worum auch immer es darin gehen mochte. Es war unmöglich, sich in diesem Raum nicht eines äußerst hohen Drucks bewusst zu sein, einer weit konzentrierteren, intensiveren Atmosphäre als der, die mich normalerweise umgab. Nicht dass es in unserem eigenen Gebäude weniger Arbeit gegeben hätte oder dass sie uns gleichgültig gewesen wäre; auch nicht, dass es ihr – in Teilen – an Unmittelbarkeit und Dramatik mangelte. Doch wie sehr auch immer solche Charakteristiken für unsere Abteilung gelten mochten, hier herrschte ein ganz anderes Ethos. Dieses hellerleuchtete Verlies war gesättigt von dem Gefühl, dass niemand ein Wort, eine Silbe, noch viel weniger eine Geste gebrauchen könne, die nicht von unmittelbarem Wert war, um die jeweils vorliegende Angelegenheit zum Ziel zu führen. Das Machtprinzip war fast körperlich zu spüren, es summte und vibrierte hier wie das Trommeln des Fernschreibers. Auf mich wirkte dieses Gefühl erdrückend, sogar eine Spur alarmierend. Ich stand noch da herum und versuchte, eine Erklärung für diesen Eindruck der Spannung zu finden, als derselbe Matrose, der mich eskortiert hatte, sich heftig die Nase putzend Sunny Farebrother ins Zimmer führte.

    Farebrother kam durch die Tür und sah so zurückhaltend distinguiert aus wie immer.

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