Unvergessene Nachbarn: Das Schicksal der Eisenbacher jüdischen Familien
Von Bernd A. Weil
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Über dieses E-Book
Keine Epoche der Geschichte wurde genauer erforscht als die Zeit des Nationalsozialismus. Über den Holocaust gibt es Tausende von Abhandlungen und Dokumentationen. Und dennoch ist die Geschichte der Familie Aumann etwas Einzigartiges.
Zwei jüdische Brüder – Gustav und Hermann Aumann – lebten bescheiden, aber gut integriert mit ihren Familien in dem kleinen beschaulichen Taunusdörfchen Eisenbach bei Limburg an der Lahn. Mit der NS-Diktatur begann die Ausgrenzung und Verfolgung. Gustavs Sohn Albert wurde von zwei Nazis in den Suizid getrieben, seine Schwester Rosa wurde denunziert und angezeigt, der Bruder Otto wurde auf der Flucht angeschossen. Die Täter waren im Dorf bekannt und sind dennoch unbehelligt geblieben.
Ein Teil der beiden Familien konnte nach der Pogromnacht 1938 fliehen, Siegmund wurde in der Tötungsanstalt Brandenburg vergast, wieder andere wurden nach Dachau, Buchenwald, Lodz, Theresienstadt, Auschwitz oder Sobibor deportiert und größtenteils ermordet. Unter den Toten waren auch zwei Babys sowie die 82jährige Rosalie Aumann, die von Frankfurt aus mit ihrer 45jährigen Tochter Bertha und deren schwer kriegsbeschädigtem Ehemann Siegfried deportiert wurde.
Sally Aumann war 1945 der einzige Überlebende, der aus Auschwitz in sein Heimatdorf Eisenbach zurückkehrte, nachdem er seine Ehefrau, seine beiden kleinen Kinder, seine Tante, mehrere Cousinen und Cousins sowie sein gesamtes Eigentum und seine Staatsbürgerschaft verloren hatte. Hier sah er zwar die ehemaligen Nazi-Schergen wieder, emigrierte aber in die USA, wo er den einst auf der Flucht angeschossenen Cousin Otto und dessen Frau Kathinka sowie seine Cousine Rosa und deren Ehemann Julius Fromm erstmals wiedertraf. – Es begann für die Überlebenden ein kaum noch zu erhoffender Neuanfang in New York mit neuen Hochzeiten und Nachkommen.
Die Geschichte stellt keine fiktive Handlung dar, sondern basiert ausschließlich auf historischen Dokumenten und narrativen Berichten. Alle Personen und Ereignisse habe ich erstmals in einem Dutzend Archiven von Deutschland über Auschwitz, Lodz, Theresienstadt, Großbritannien, Israel und Washington recherchiert. Zahlreiche Fotos, Originaldokumente und Karten runden die Darstellung ab.
Bernd A. Weil
Dr. phil. Bernd A. Weil M. A., geboren am 28. November 1953, ist verheiratet mit Jutta Reichwein-Weil und studierte Germanistik, Politikwissenschaft, Geschichte, Diplompädagogik und Diplompsychologie an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er ist Oberstudienrat, Diplompsychologe, Sozialpädagoge, Autor, Herausgeber und Verleger, war Rezensent der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn und der Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden sowie Gutachter beim Hessischen Kultusministerium und bei verschiedenen internationalen Instituten. Neben zahlreichen Buchveröffentlichungen schrieb der Publizist und Vortragsreferent viele Beiträge für Bibliografien, Lexika, Zeitungen, Fachzeitschriften, Internet und Rundfunk. Websites: www.bweil.de und: www.buddhaonline.de
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Unvergessene Nachbarn - Bernd A. Weil
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Familienstammbaum von Samuel und Karoline Aumann
⁴⁸
Zur Wahl
des Namens Aumann
in der folgenden genealogischen Aufstellung muss man die historischen Fakten berücksichtigen. Jüdische Bürger des Herzogtums Nassau mussten im Jahr 1841 aufgrund des herzoglichen Ediktes Nr. 23185 vom 7. Juli 1841 einen Familiennamen
annehmen. Davor wurden sie lediglich mit dem Rufnamen zzgl. dem Namen des Vaters mit der Bezeichnung »Jude« registriert.
⁴⁹ Der Eisenbacher Jude Gumbel Abraham (29.02.1810 bis 04.09.1852) und dessen Ehefrau Sara (geb. am 16.10.1811 in Köppern), die am 28. Januar oder Juni 1837 in Wehrheim bei Usingen geheiratet hatten und vier Kinder bekamen,⁵⁰ wählten
dem herzoglichen Erlass zufolge 1841 den Familiennamen Aumann
. In den Akten des Diözesanarchivs in Limburg an der Lahn heißt es dazu: Zu Folge Rescripts herzoglicher Landesregierung vom 5. July 1841 ad Nr. 23185 hat nebengenannter Gumbel seinen Namen dahin geändert, daß er jetzt Gumbel Aumann heißt.
⁵¹ – Im Jahr 1841 lebten in Eisenbach 1.196 Personen, davon zwanzig Juden.⁵²
Urkunde des Königlichen Amtsgerichts Camberg mit Fanni Aumanns Unterschrift⁶⁵
⁴⁸ Quelle: Archiv des Standesamts der Gemeinde Selters (Taunus), Brunnenstraße 46. – Einige Angaben in diesem Stammbaum gehen zurück auf Recherchen von Ingrid und Franz-Josef Rembser (Selters-Eisenbach).
⁴⁹ Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Limburg: www.cjz-limburg.de/regionales/Munster.pdf
⁵⁰ Die vier Kinder von Sara und Gumbel Abraham (Aumann) hießen Abraham (* 09.01.1838), Joseph (12.02.1839 bis 14.12.1847), Herz (15.06.1840 bis 05.10.1840) und Gusta (* 06.01.1853).
⁵¹ Quelle: Diözesanarchiv des Bistums Limburg/L.: www.bistumlimburg.de/bildung-kultur/dioezesanarchiv.html
⁵² Vgl. Weil, Bernd: Die historische und politische Entwicklung der Gemeinde Eisenbach von 1848 bis 1945; in: Heimatbuch: 750 Jahre Eisenbach, Gemeinde Selters (Taunus), 1234–1984. Meinerzhagen 1984, S. 28
⁵³ Quelle: Sterberegister des Standesamtes der Gemeinde Eisenbach (heute: Selters [Taunus]), Brunnenstraße 46: Nr. 15, 1. April 1882, S. 15
⁵⁴ Quelle: ebenda
⁵⁵ Quelle: ebenda
⁵⁶ Quelle: Sterbeanzeige Karoline Aumanns durch ihren Sohn Hermann beim Standesamt der Gemeinde Eisenbach (heute: Selters [Taunus]), Brunnenstraße 46: Sterberegister, Nr. 10, 3. März 1907, S. 10
Der Standesbeamte Schäfer schrieb den Vornamen der Verstorbenen aus Versehen am Ende mit a
: Karolina.
⁵⁷ Quelle: ebenda
⁵⁸ An anderer Stelle findet sich der ungewöhnliche Name Madje Jacob
, der wohl regional lautmalerisch für das Mädchen (die Tochter) vom Jacob
stehen sollte.
⁵⁹ Der Name Vanne
taucht im Kirchenregister des Diözesanarchivs Limburg auf und stellt wohl eine lautmalerische Eintragung dar. Der korrekte Vorname war jedenfalls Fanny. (Quelle: Sterbeanzeige Fanny Aumanns durch Hermann Aumann beim Standesamt der Gemeinde Eisenbach (heute: Selters [Taunus]), Brunnenstraße 46: Sterberegister, Nr. 5, 20. März 1930, S. 51) – Fanny selbst schrieb ihren Vornamen allerdings stets mit i
am Ende, also Fanni
. (Siehe Fanni Aumanns Unterschrift in der Urkunde vom 20. April 1914)
⁶⁰ Quelle: Sterbeanzeige Fanny Aumanns: Sterberegister, Nr. 5, 20. März 1930, S. 51 Ihr Bruder Hermann gibt darin an, die ledige Fanny sei ohne Beruf
gewesen.
⁶¹ Quellen: Königliches Amtsgericht zu Camberg: Stockbuch, Jg. 1898, Nr. 7: Artikel 632, Band VIII, Seite →, 7. März 1898; handschriftlicher Nachtrag durch Fanni Aumann vom 20. April 1914 und: Ancestry.com: Passagierlisten der S.S. Manhattan
Gustav Aumanns Zwillingsschwester Mina heiratete laut Aussage ihrer Großnichte Jean Udoff (New York) einen Juden namens Heilborn und hatte mit ihm zwei Töchter: Zella und Jean. (Mehr dazu im Kapitel über Rosa Aumann)
⁶² Quelle: Heiratsbuch des Standesamtes der Gemeinde Eisenbach (heute: Selters [Taunus]), Brunnenstraße 46: Nr. 5, 10. September 1888, S. 5
⁶³ Quelle: Sterberegister des Standesamtes von Montabaur: Nr. 27 / 1926
⁶⁴ In den Quellen findet sich die folgende wichtige Anmerkung: Dieses Kind, gestorben an der Scharlachepidemie, wurde nach vorgezeigtem ärztlichen Schein über den wirklichen Tod vor der gesetzlichen Zeit begraben.
(09.04.1863) – Anzumerken ist, dass nach jüdischem Brauch – falls möglich – die Bestattung ohnehin gleich am Todestag erfolgen soll.
⁶⁵ Quelle: Königliches Amtsgericht zu Camberg: Stockbuch, Jg. 1898, Nr. 7: Artikel 632, Band VIII, Seite →, 7. März 1898; handschriftlicher Nachtrag durch Fanni Aumann vom 20. April 1914
Stammbaum der Familie Aumann
Stammbaum von Sally Aumann
Stammbaum von Ottto Aumann
Familie Gustav und Rosalie Aumann
Gustav Aumann
Gustav Aumann kam am 19. Oktober 1850⁶⁶ als Sohn der seit dem 12. Januar 1847 verheirateten Eisenbacher Eheleute Samuel (1811–1882)⁶⁷ und Karoline Aumann, geb. Mayer (1820–1907),⁶⁸ zur Welt, die insgesamt zehn Kinder hatten, von denen die meisten jedoch bereits nach wenigen Wochen oder Monaten starben. Gustav hatte eine Zwillingsschwester, die den Namen Mina erhielt. Sie heiratete später einen Juden namens Heilborn und hatte mit ihm zwei Töchter: Zella und Jean,⁶⁹ die später nach Amerika auswanderten. (Mehr dazu im Kapitel über Rosa Aumann) Gustav war der Bruder von Hermann Aumann und wie er Händler
⁷⁰ (gelernter Kaufmann).
Gustav Aumann heiratete im Jahr 1892⁷¹ Rosalie Marx aus dem kleinen rheinhessischen Ort Wallertheim nördlich von Alzey. Nach ihrer Eheschließung erwarben Gustav und Rosalie Aumann am 31. März 1902 das Flurstück Grabenstraße 24.⁷² Laut Grundbucheintragung beim Königlichen Amtsgericht zu Camberg gehörte es nun zu gleichen Teilen dem Handelsmann Gustav Aumann und dessen Ehefrau Rosalie, geb. Marx, zu Eisenbach in ehelicher Errungenschaftsgemeinschaft
.⁷³
Aumann reichte kurze Zeit später bei Adam Schorr (um 1880–1906)⁷⁴, dem damaligen Bürgermeister der Gemeinde Eisenbach, ein Baugesuch mit Zeichnung im Maßstab 1:100 ein (Lageplan 1:500), um auf dem Grundstück der Grabenstraße 24 (Flur 26, Flurstück 188/52) ein Wohnhaus zu errichten.⁷⁵
Laut Eintragung im Katasteramt Limburg (heute: Amt für Bodenmanagement) wurde das Wohnhaus im Jahr 1910 fertiggestellt.⁷⁶
Katasteramt Limburg: Gebäudebuch Nr. 148 (Auszug)⁷⁷
Das Wohnhaus von Gustav und Rosalie Aumann war ein zweigeschossiges massives Gebäude, dessen Backsteinwände teils mit Lehmputz versehen und teils unverputzt waren (wie noch heute das Nachbarhaus [Flurstück 203/52] weiter unten). Der Keller besteht noch immer aus gemauerten Bruchsteinwänden und ausgemauerten Gewölben.⁷⁸ Später wurde an das Wohngebäude noch ein Stall angebaut.⁷⁹
Straßenansicht des Hauses in der Grabenstraße 24 (Maßstab 1:100)⁸⁰
Erdgeschoss des Hauses in der Grabenstraße 24 (1:100)
Obergeschoss des Hauses in der Grabenstraße 24 (1:100)
Gustav und Rosalie (Ortsname Salchen
) lebten in der Grabenstraße als Großfamilie mehr als zwei Jahrzehnte lang völlig integriert und gingen freundlich mit den Nachbarn um. Sie betrieben in dem Haus ein gut frequentiertes Geschäft für Berufs- und Arbeitskleidung, Bettfedern, Stoffe und Kurzwaren. Zahlreiche Eisenbacher kauften bei Gustav und Rosalie Aumann ihre Blaumänner
⁸¹ und Manchesterhosen
⁸² wie auch ihre Federbetten oder gleich die gesamte Aussteuer (Mitgift),⁸³ nicht selten gegen Pump oder auf Raten.
Aus Unterlagen des ehemaligen Katasteramtes in Limburg an der Lahn, das sich inzwischen etwas zu pathetisch als Amt für Bodenmanagement
bezeichnet, geht hervor, dass im Jahr 1930 eine Remise an das Wohnhaus angebaut wurde.⁸⁴
Rosalie und Gustav Aumann in Eisenbach, Grabenstraße 24 (etwa 1930)⁸⁵
Das ehemalige Wohnhaus der Familie von Gustav und Rosalie Aumann in der Eisenbacher Grabenstraße 24⁸⁶
Bereits kurz nach der sogenannten Machtergreifung
der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 brachte eine Familie, die bei Gustav Aumann erhebliche Schulden hatte, ein Schild an dessen Haus in der Grabenstraße an mit der Aufschrift: Juden unerwünscht!
⁸⁷ Wie Zeitzeugen berichteten, hat ein ähnliches Schild ein bei den Aumanns ebenfalls verschuldeter Geschäftsmann aus der Nachbarschaft an seinem eigenen Haus angebracht, damit den Juden der Zutritt und damit etwaige Rückforderungen ihres Geldes verwehrt blieben.
Am 19. November 1934 ist Gustav Aumann in seinem Haus im Alter von 84 Jahren vormittags um ungefähr sechs Uhr tot aufgefunden worden,
⁸⁸ wie seine Tochter Mathilde noch am gleichen Tag dem Standesamt bekannt gab. Trotz der etwas merkwürdigen Formulierung ist damit ein natürlicher Tod gemeint. Gemäß jüdischer Tradition wird für den Verstorbenen direkt nach seinem Tod ein Licht angezündet
und alle Spiegel in der Wohnung werden verhangen. Ein Grund für diesen Brauch liegt unter anderem in der Befürchtung, die Trauer könne sich sonst verdoppeln.
⁸⁹ Der Ablauf eines jüdischen Bestattungsrituals wird wie folgt geschildert: Nach dem Eintritt des Todes zerreißen Angehörige Kleidungsstücke. Dieser Brauch geht auf die biblische Geschichte des Jakobs zurück, der dachte, sein Sohn sei verstorben. Daraufhin riss er sich aus Schmerz alle Kleidungsstücke vom Leib. Nach […] Gebeten im Angehörigenkreis wird der Verstorbene gewaschen und in ein Leinentuch gewickelt.
⁹⁰ Und weiter heißt es: Mit dem Tod sind alle Juden wieder gleich, die Kleider sind weiß und der Sarg ist […] eine einfache Holzkiste. Das weiße Totengewand nennt sich Sargenes. Um die Gleichheit aller im Tod deutlich zu machen, darf der Sarg nicht mit Silber oder sonstigem Schmuck verziert werden. […] Weder mit Musik noch mit Blumen wird die Beerdigung herausgehoben. Gewaschen und bekleidet wird der Tote durch die heilige Bruderschaft, die Chewra Kadischa.
⁹¹
Nach jüdischem Brauch soll die Erdbestattung – falls zeitlich möglich – noch am gleichen Tag erfolgen, sofern der Todestag nicht auf einen Feiertag wie den Schabbat fällt. Der 19. November 1934, Gustavs Todestag, war ein Montag und der 323. Tag des Jahres in der 47. Kalenderwoche. August Bach aus Camberg (heute Bad Camberg) hatte eine Kutsche mit Pferdegespann zum Trauerwagen umgebaut, auf den der schlichte Holzsarg mit Gustavs Leichnam gehievt wurde. Neben der Familie, weiteren Verwandten und einem Rabbi (oder Kantor) zogen auch zahlreiche Eisenbacher mit der Beerdigungsgesellschaft vom Trauerhaus in der Grabenstraße 24 (damals Hindenburgstraße
), die Mühlstraße entlang Richtung Ortsausgang und weiter auf der heutigen Kreisstraße K511 bis zur Bundesstraße B8 (damals noch R8). Auch meine Tante Anna begleitete den Trauerzug bis zur R8, denn die Familie war in Eisenbach bei den meisten sehr beliebt und eine jüdische Beerdigung bekam man natürlich damals auf dem Land nicht jeden Tag zu sehen. Die nicht-jüdischen Eisenbacher Trauergäste kehrten an der Bundesstraße wieder um, während die jüdischen Verwandten den Toten bis nach Camberg (heute Bad Camberg) begleiteten.
Nachdem der Trauerzug die Gesamtstrecke von rund sieben Kilometern zu Fuß zurückgelegt hatte, wurde Gustav Aumann auf dem neuen jüdischen Friedhof in der oberen Kapellenstraße beigesetzt. "Beim Begräbnis werden Psalmen zitiert und im Kaddisch-Gebet⁹² die Herrlichkeit HaSchems (Name Gottes, wie er für das Gebet verwendet wird, da er weder geschrieben noch unnütz ausgesprochen werden darf) beschworen. […] Männer stehen am Grab, dahinter die Frauen. Männer tragen eine Kippa.⁹³ Der gesamte Ablauf einer jüdischen Beerdigung ist – wie bei den meisten Religionsgemeinschaften – streng ritualisiert.
Die eigentliche Beisetzungszeremonie beginnt mit einer Trauerrede, die von einem Kantor (einem Vorsänger) begleitet wird. Im Anschluss an die Beisetzung des Sarges in das Grab können Hinterbliebene den Sarg mit Erde bedecken. […] In der Regel schüttet jeder Angehörige drei Schaufeln Erde auf.⁹⁴ – Nach der Bestattung des Toten sollen die Hinterbliebenen eine siebentägige Trauerwoche (
Schiv’a") einhalten.
Gustavs Grab befindet sich noch heute auf dem neuen jüdischen Friedhof in Bad Camberg, Kapellenstraße.⁹⁵
Gustav Aumann (1850–1934)⁹⁶
⁶⁶ Quelle: Sterbeanzeige Gustav Aumanns durch Mathilde Aumann beim Standesamt der Gemeinde Eisenbach (heute: Selters [Taunus]), Brunnenstraße 46: Sterberegister, Nr. 11, 19. November 1934, S. 40
⁶⁷ Quelle: Sterbeanzeige Samuel Aumanns (Handelsmann
) durch seinen Sohn Hermann beim Standesamt der Gemeinde Eisenbach (heute: Selters [Taunus]), Brunnenstraße 46: Sterberegister, Nr. 15, 1. April 1882, S. 15
⁶⁸ Quelle: Sterbeanzeige Karoline Aumanns (ohne Gewerbe
, also berufslos) durch ihren Sohn Hermann beim Standesamt der Gemeinde Eisenbach (heute: Selters [Taunus]), Brunnenstraße 46: Sterberegister, Nr. 10, 3. März 1907, S. 10
⁶⁹ Quellen: Königliches Amtsgericht zu Camberg: Stockbuch, Jg. 1898, Nr. 7: Artikel 632, Band VIII, Seite →, 7. März 1898; handschriftlicher Nachtrag durch Fanni Aumann vom 20. April 1914 und: Ancestry.com: Passagierlisten der S.S. Manhattan
: http://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?rank=1&new=1&MSAV=0&msT=1&gss=angsc&gsfn=Rosel&gsln=Aumann&sbo=1&uidh=349&_83004003-n_xcl=m&pcat=40&h=23625619&recoff=8+9&db=nypl&indiv=1
⁷⁰ Quelle: Sterbeanzeige Gustav Aumanns durch Mathilde Aumann beim Standesamt der Gemeinde Eisenbach (heute: Selters [Taunus]), Brunnenstraße 46: Sterberegister, Nr. 11, 19. November 1934, S. 40
⁷¹ Quelle: Nationalarchiv Prag, Terezín Initiative Institute, Židovské matriky, Ohledací listy: Ghetto Terezín, Bd. 106, Doc. No.: ITI.19671: http://www.holocaust.cz/de/document/DOCUMENT.ITI.19671
⁷² Quelle: Königliches Amtsgericht zu Camberg: Stockbuch, Jg. 1902, Artikel 483, 31. März 1902, laufende Nummer der Grundstücke: 1 und 2
⁷³ Quelle: Grundbucheintragung vom 31. März 1902 (Archiv des Grundbuchamtes in Limburg an der Lahn, Walderdorffstraße 12)
⁷⁴ Vgl. Heimatbuch: 750 Jahre Eisenbach, Gemeinde Selters (Taunus), 1234–1984. Meinerzhagen 1984, S. 47
⁷⁵ Die Baugesuche, Zeichnungen, Statiken und sonstigen Unterlagen zu dem Wohnhaus in der Eisenbacher Grabenstraße 24 wurden mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt von den heutigen Eigentümern Martina und Gerhard Schuller.
⁷⁶ Quelle: Katasteramt Limburg an der Lahn (heute: Amt für Bodenmanagement): Gebäudebuch Nr. 148, Liegenschaftsbuch Nr. 2019, Grundbuch-Band 22, Blatt 763A; Flur 26, Flurstück 188/52, Buchstabe a
⁷⁷ Quelle: ebenda
⁷⁸ Für entsprechende Informationen danke ich den heutigen Besitzern des Hauses: Martina und Gerhard Schuller.
⁷⁹ Quelle: Katasteramt Limburg an der Lahn: Gebäudebuch Nr. 148, Liegenschaftsbuch Nr. 2019, Grundbuch-Band 22, Blatt 763A; Flur 26, Flurstück 188/52, Buchstabe b
⁸⁰ Die Bauzeichnungen verdanke ich den heutigen Hauseigentümern Martina und Gerhard Schuller.
⁸¹ Vgl. Wikipedia: Berufskleidung: http://de.wikipedia.org/wiki/Berufskleidung
⁸² Vgl. Wikipedia: Cord (Gewebe): http://de.wikipedia.org/wiki/Cord_(Gewebe)
⁸³ Vgl. Wikipedia: Mitgift: http://de.wikipedia.org/wiki/Mitgift
⁸⁴ Quelle: Katasteramt Limburg an der Lahn: Gebäudebuch Nr. 148, Liegenschaftsbuch Nr. 2019, Grundbuch-Band 22, Blatt 763A; Flur 26, Flurstück 188/52, Buchstabe c
⁸⁵ Fotoquelle: Jean und Michael Udoff (New York)
⁸⁶ Foto vom Mai 2013: der Verfasser Dr. Bernd A. Weil (Selters-Eisenbach)
Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Grabenstraße in Hindenburgstraße umbenannt.
Am 11. Oktober 1951 wurden die Geschwister Otto und Rosa Aumann als rechtmäßige Eigentümer dieses Hauses in das Grundbuch eingetragen und dabei irrtümlicherweise als Eheleute
bezeichnet. (Quelle: Grundbucheintragung zur Grabenstraße 24 vom 11. Oktober 1951, Artikel 469 – 3,4 – [Archiv des Grundbuchamtes in Limburg an der Lahn])
⁸⁷ Vgl. Klöppel, Robin: Sally war ein toller Mensch
; in: Nassauische Neue Presse (NNP), Jg. 68, Nr. 91, 19. April 2013, S. 14 (dito in: Selterser Kurier, Jg. 37, Nr. 9, 30. April 2013, S. 10)
⁸⁸ Quelle: Sterbeanzeige Gustav Aumanns durch Mathilde Aumann beim Standesamt der Gemeinde Eisenbach (heute: Selters [Taunus]), Brunnenstraße 46: Sterberegister, Nr. 11, 19. November 1934, S. 40
⁸⁹ Jüdische Bestattungskultur: Entsagung als Zeichen der Trauer, Beitrag vom 9. April 2000: http://www.sargwelten.de/index.php?id=14&tx_ttnews%5Btt_news%5D=163&cHash=477ee5010a981e543f375 ba7a74f481e
⁹⁰ Jüdische Bestattung; in: Bestattungsplanung.de: http://www.bestattungsplanung.de/bestattung/bestattungsarten/juedische-bestattung.html
⁹¹ Wikipedia: Jüdische Bestattung: http://de.wikipedia.org/wiki/Bestattung#J.C3.BCdische_Bestattung
⁹² Vgl. Wikipedia: Kaddisch: http://de.wikipedia.org/wiki/Kaddisch
⁹³ Wikipedia: Jüdische Bestattung: http://de.wikipedia.org/wiki/Bestattung#J.C3.BCdische_Bestattung
⁹⁴ Jüdische Bestattung; in: Bestattungsplanung.de:
http://www.bestattungsplanung.de/bestattung/bestattungsarten/juedische-bestattung.html
⁹⁵ Vgl. http://www.alemannia-judaica.de/bad_camberg_friedhof.htm
⁹⁶ Fotos: der Verfasser Dr. Bernd A. Weil
Rosalie (Salchen
) Aumann, geb. Marx
Rosalie Marx, spätere Aumann, wurde am 30. April 1861 als Tochter von Salomon und Elisabeth Marx, geb. Metzger,⁹⁷ in Wallertheim⁹⁸ geboren. Die Ortschaft liegt in Rheinhessen, nördlich von Alzey im Landkreis Alzey-Worms⁹⁹ (damals Bezirk Oppenheim). Im Prager Nationalarchiv habe ich die folgenden Angaben gefunden: Rosalie Marx hatte keinen Beruf erlernt und heiratete im Jahr 1892 den 10 ½ Jahre älteren Gustav Aumann in dem kleinen Dorf Alsheim nördlich von Worms.¹⁰⁰ Nach der Hochzeit zog sie zu ihrem Mann nach