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Gottfried von Einem: Komponist der Stunde null
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eBook316 Seiten4 Stunden

Gottfried von Einem: Komponist der Stunde null

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Über dieses E-Book

Die Sehnsucht war groß, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Uhren neu zu stellen: Stunde null. In der Musik verkörperte keiner den Neubeginn Österreichs so sehr wie der junge Gottfried von Einem (1918–1996). Seine Oper "Dantons Tod", 1947 bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt, machte den damals 29-Jährigen über Nacht weltberühmt. Das Werk traf den Nerv der Zeit, Einem war der Mann der Stunde. Zum 100. Geburtstag Gottfried von Einems stellt Joachim Reiber die Frage, warum gerade dieser Komponist die kollektive Hoffnung auf einen Neuanfang bündeln konnte. Er verfolgt Einems Weg von den Lehrjahren in Nazideutschland bis zu den großen Erfolgen in der Nachkriegszeit. Das Vergangene war nicht erledigt. Reiber spürt dem Verdrängten in Einems weiterem Werk nach – auch in den Opern "Der Prozess" und "Der Besuch der alten Dame" – und beleuchtet mithilfe bisher unbekannter Dokumente die Tiefenschichten von Einems Persönlichkeit. So entsteht ein schillerndes Künstlerporträt der Nachkriegszeit, das neue Facetten in Einems faszinierender Biografie zeigt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Nov. 2017
ISBN9783218010931
Gottfried von Einem: Komponist der Stunde null

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    Buchvorschau

    Gottfried von Einem - Joachim Reiber

    I. DANTONS TOD

    „DER EINZELNE NUR SCHAUM AUF DER WELLE". EIN ANFANG UND DIE OFFENE FRAGE

    Anfang. So viel liegt an ihm. Und so viel in ihm. Nahezu alle Modalitäten können in ihm stecken: das Anfangenmüssen wie das Anfangenwollen, das Anfangendürfen und -können. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam alles zusammen. Das Ende, das viele als Zusammenbruch erlebten, machte den Anfang notwendig. Not und Hoffnung begegneten einander. Auch die große Sehnsucht war da, die in allem Anfang liegen kann. Bei „halbwegs glücklichem Verlauf, sagt der Kulturhistoriker Rüdiger Safranski, ist die „Zeit des Anfangens (…) der lichterlohe Moment, da man sich mit der Zeit im Bunde fühlt.³

    Ein solch lichterloher Moment ereignete sich in Salzburg am 6. August 1947. Der frenetische Schlussapplaus im Großen Festspielhaus galt einem Anfang, der strahlender nicht hätte ausfallen können. Die Uraufführung einer Oper, „Dantons Tod von Gottfried von Einem, wurde als Sensation gefeiert. „Die großartige Aufführung (…) brach den Bann, der die Festspiele bisher von moderner Musik trennte. (…) Den Künstlern dankte langanhaltender, begeisterter Beifall, der sich beim Erscheinen des Komponisten zu herzlichen Ovationen steigerte.⁴ In der Festspielbilanz stand „Dantons Tod als internationaler Erfolg fest: „Das Weltecho übertrifft alle Erwartungen.

    Neues war gewagt worden, und man empfand, dass es mit der Zeit im Bunde stehe. Man lobte Salzburg dafür, „den Kontakt mit dem pulsierenden und neuen Leben"⁶ hergestellt zu haben, man spürte in diesem Werk den „neue(n) Geist, der sich allenthalben regt.⁷ Es war ein potenziertes Anfangsglück: Erstmals in ihrer Geschichte hatten die Salzburger Festspiele die Uraufführung einer Oper aufs Programm gesetzt. Und sie wählten einen Komponisten, der den Anfang schlechthin verkörperte. Er war 29 und hatte noch nicht das, was man einen Namen nennt. Zu Recht stellte man in den Zeitungen die Frage: „Wer ist Gottfried Einem?

    Ein unbeschriebenes Blatt – es taugt am besten für den Neubeginn. Aber man beschrieb es rasch und beschrieb ihn, den Neuen, in kräftigen Zügen. „Eine grosse, schlanke Gestalt" – so der Verlag, der die Oper herausbrachte, in einer PR-Broschüre zur Vorbereitung auf die Premiere –, „der Kopf von betonter, fast greifbarer Charakteristik; das Haar dunkel, mit Mühe geordnet, die Stirn hochgewölbt und breit. Die heftig vorspringende Nase beherrscht das scharf geschnittene Profil. Was hier Kontur ist, findet in den grossen, scharf zupackenden Augen Ergänzung: dort Klarheit, zeichnerische Plastik, hier, in den Augen, die Erfüllung durch geistige Vertiefung. Das bestätigt der Wille, der in den schmalen, wie in heftiger Abwehr geschlossenen Lippen sich ausdrückt. Und wie eine neuerliche Betonung der Klarheit wirkt das Kinn (…). Er ist Gottfried Einem, der Komponist der Oper ‚Dantons Tod‘."⁹ Wille, Plastik, Kontur und so viel Schärfe, so viel Klarheit, dass sie gleich mehrfach genannt werden mussten. War er das? War das Gottfried von Einem?

    In der Tagespresse wurde er als Repräsentant einer ganzen Generation vorgestellt. Er sei, las man in der „Österreichischen Zeitung, „Exponent einer aus dem zweiten Weltkrieg mit knapper Not heil davongekommenen Jugend.¹⁰ Über die Details wurden unterschiedliche Angaben gemacht. Wie knapp war die Not und wie schwierig der Weg, heil davongekommen zu sein? „Krieg und Naziterror, hieß es im „Österreichischen Tagebuch, „haben Gottfried Einem übel mitgespielt (…).¹¹ Die „Welt am Montag hob lieber den österreichisch-patriotischen Aspekt hervor und präsentierte den „noch nicht einmal Dreißigjährigen (…) als Sohn eines altösterreichischen Generals. Sein künstlerisches Renommee wurde mit dem Verweis auf Einems Opus 1 herausgehoben, das Ballett „Turandot: „Ueber dessen Qualität sagt die Tatsache der Uraufführung durch ein Institut vom Range der Dresdner Staatsoper wohl genug."¹² Eine andere Tatsache – hier nicht erwähnt – war das Datum dieser Uraufführung. Sie fand am 5. Februar 1944 statt.

    Die „New York Times sprach von einem merkwürdigen Fall („It’s an odd case). Wie konnte es zugehen, fragte sich das Blatt noch vor der „Danton-Premiere, dass ein Komponist so wenig vorzuweisen habe – und einen so steilen Aufstieg nahm? Ohne Widersprüche sei das schwer vorstellbar. „This story of sudden and wide recognition in the face of paucity of output and infrequency of performance is only one of a series of contradictions in the larger story of Gottfried von Einem.¹³ Der junge Mann, der da einen so starken Anfang setzte, beschäftigte die Medien, auch international.

    Wer an einer lebensnahen Geschichte interessiert war, dem blieb das Interview. Der junge eloquente Komponist stand zur Verfügung. Auch eine Homestory machte er möglich. Im „Alpenjournal Salzburg erschien der atmosphärisch fein ausgeschmückte Bericht eines Besuchs bei den Einems in St. Jakob am Thurn. Das junge Paar – Einem hatte 1946 Li-anne von Bismarck geheiratet – lebte hier, höchst bescheiden und hoch oben, im vierten Stock eines Turms. Bevor sie den Leser auf steilen Stiegen hinaufführt, beschwört die Autorin im pathetischen Präludium ein Verlangen nach dem Neuen. Die alte Sprache, auch die der Musik, tauge nicht mehr. Gesucht werde einer, der „nach unserem Ohr, nach unserem Herzen schreibe, einer, der „dieses un-erhörte Zeitmaß, Kommen, Gehen, Stürmen, Wehen, Innehalten und Verweilen nach unseren Gesetzen fassen müßte, der diese Klänge in Melodien bindet, die – nicht singen, sondern aussagen. Am Ende verlässt die Autorin den Einem-Turm in der Gewissheit, das Ersehnte gefunden zu haben: „(E)ine Kunst, die einfach aussagen will, verdichten, wie es ist, wie es für uns Heutige ist; eine Musik, über der geschrieben sein müßte, wonach es uns drängt, die wir ohne Vorbild, ohne Hilfe, ohne Transposition von Anbeginn wieder leben müssen (…).¹⁴ Nichts weniger als das wurde Gottfried von Einem attestiert: dass er ausdrücke, „wie es für uns Heutige ist, dass er der Generation eine Sprache gebe, die „von Anbeginn wieder leben musste.

    Was anfangen? Wie und wo? Im Salzburger Bahnhof drängten sich Heimatlose, Vertriebene, Flüchtlinge. Mehr als 66.000 waren im Mai 1945 in die 85.000 Einwohner zählende Stadt gekommen: „ehemalige Kriegsgefangene, deutsche Armeeangehörige, Bombenevakuierte, Überlebende aus den Konzentrationslagern, Fremd- und Zwangsarbeiter, vertriebene Volksdeutsche, Reichsdeutsche, Angehörige faschistischer Verbände und Kollaborateure verschiedenster Nationalitäten, Staatenlose und Zivilisten auf der Flucht vor der Roten Armee".¹⁵ Mehr als zwanzig Lager in Salzburg Stadt und Land nahmen die Massen mehr schlecht als recht auf. Im Lager Glasenbach, dem „Camp Marcus W. Orr, saßen noch Anfang 1947 mehr als 8000 Menschen als Inhaftierte der amerikanischen Besatzungsmacht: ehemalige SS-Leute, Wehrmachtsangehörige und Parteifunktionäre, die auf ihre Verfahren warteten. Am 5. August 1947 – es war der Tag vor der „Danton-Premiere – wurde das Lager feierlich an die österreichischen Behörden übergeben. 1948 verließen die letzten Internierten das Camp. Viel länger, bis zum Jahr 1956, hielt sich ein Lager südlich von Thurn, in Puch bei Hallein. Dort waren bis zu 1300 jüdische Flüchtlinge untergebracht, „Displaced Persons", wie sie im kühlen Jargon der Zeit genannt wurden.

    Die Festung stand noch, es gab – schon seit 1945 – wieder die Festspiele, über den Domplatz hallten die „Jedermann-Rufe, und im Mirabellgarten blühten die Blumen wie je zwischen den plätschernden Brunnen. Doch „was nützt es, fragte einer, der im Sommer 1947 durch die Festspielstadt streifte, „wenn sich ringsum auf die Bänke fast ausnahmslos Leute drücken, die nicht den freundlichen Anblick, sondern nur die Bank suchten, um ein Stündchen zu schlafen, ein paar Bissen zu essen und zu warten, bis es für sie Zeit ist weiterzugehen".¹⁶ Weitergehen. Doch wohin?

    Die „Dissonanzen, notierte der nostalgische Festspielflaneur des Jahres 1947, „sind so grell und laut, daß du der stillen Harmonie der Stadt nicht mehr gewahr wirst, beim besten Willen nicht.¹⁷ Die Zeit, „unsere Zeit, sei „zerrissen von den Nachwehen des Krieges; täglich, stündlich prallen die Mächte von gestern mit jenen von morgen aufeinander.¹⁸ Dieser Zeit, fand man, habe der nicht einmal dreißigjährige Komponist zum Ausdruck verholfen. Gottfried von Einem war der Mann der Stunde.

    Doch was nahmen die Zeitgenossen wirklich wahr? Was machte diesen „Danton zum Ausdruck ihres Lebensgefühls? Sie hörten tatsächlich Dissonanzen – ein eher dem Boulevard zugehöriges Blatt wollte gar „grell aufeinanderstoßende Dissonanzen vernommen haben, „die in ihrer Härte dem Ohr des Hörers viel zumuten".¹⁹ Die Expertenurteile sahen moderater aus – die Musikfachleute in den Kulturredaktionen notierten beflissen, dass Einems Musik mit Schönberg nicht das Geringste zu tun habe, sich von der Dodekafonie fernhalte und auch (sonst) nicht durch Kakofonie verstöre.²⁰ Doch das war nicht der Punkt. Was als Dissonanz wahrgenommen wurde, war die Eigenständigkeit von Gesungenem und Gespieltem, von Stimme und Orchester. Sie schienen nicht mehr aufeinander bezogen, sie fügten sich nicht mehr ineinander, um kongruent, ja kommentierend füreinander da zu sein. Das fiel auf. Und die Musikkenner registrierten es wie die Laien. „Die Singstimmen auf der Bühne und die Instrumentalstimmen aus dem Orchester gehen durchaus eigene Wege, haben auch vollkommen getrennte Aufgaben, ja noch mehr als das, sie werden immer wieder zum Kampf gegeneinander geführt."²¹

    Dass Einem solchen „Kampf zuließ, dass er den Konflikt nicht glättete und das Gegensätzliche ohne harmonisierende Puffer aufeinanderprallen ließ, das wurde stark empfunden. Ja, mancher vermisste wohl den Seelenkitt der alten Oper. „Die Musik ist von erbarmungsloser Härte,²² wurde gesagt, die „Glut des Herzens fehle,²³ aber man ging weiter und sah genau in dieser kühlen Distanziertheit die Signatur der Zeit. Die „Verstandesklarheit, die sich hier zeige – meinten die „Salzburger Nachrichten –, sei „das Wesen der Gegenwart, weil nahezu alle Werte zu blaß erscheinen, um sich für sie zu erwärmen.²⁴

    Wenn aber Werte nicht mehr bindend sein konnten, was hielt das Ganze dann zusammen? Wo war, bei Einem und seinem „Danton, der Dreh- und Angelpunkt? „Seine Durchführungsstrenge, las man dazu, „wölbt über das Geschehen eine Kuppel von erbarmungslosem Fatalismus."²⁵ Fatalismus: Das war das Schlüsselwort, ein Wort, in dem die Zeit sich wiederfand: „(…) mit gellenden Posaunenstößen und schrill orchestrierten Akkorden schreitet das Fatum einher, ja es ist, als ob das unerbittliche Gesetz hörbar wird, das jede Revolution zwingt, ihre eigenen Kinder zu fressen."²⁶

    Schicksal, Fatum, unerbittliches Gesetz – war es nicht genau so? Millionen Menschen hatten im Krieg sinnlos ihr Leben verloren, nun waren Millionen auf der Flucht, Displaced Persons und zerstörte Existenzen allerorten – und selbst die, die „noch einmal davongekommen" waren, standen vor Abgründen. War es da nicht naheliegend, sich als Objekt zu sehen? Ausgeliefert einer dunklen Macht, einem undurchschaubaren Gesetz preisgegeben?

    „Der Stoff ist hoch politisch, auch die Worte sind es, hieß es in einem Beitrag der „Österreichischen Musikzeitschrift zu „Dantons Tod 1947. Und dann wurde, bezeichnend genug, das „hoch Politische im Fatalistischen gesehen: „(D)er Mensch ist Marionette, Spielball im Shakespearschen Sinne des ‚The world is a stage‘."²⁷ Doch man brauchte gar nicht erst zu Shakespeare zurückzugehen. Bei Georg Büchner selbst steht das Wort: Fatalismus! Er selbst wählte es, als er – in einem Brief an seine Verlobte – auf sein Drama „Dantons Tod zu sprechen kam. Und genau diese Passage stellte Gottfried von Einem seiner Partitur voran: „Ich studierte die Geschichte der Revolution. Ich fühlte mich wie zernichtet unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte. Ich finde in der Menschennatur eine entsetzliche Gleichheit, in den menschlichen Verhältnissen eine unabwendbare Gewalt, allen und keinem verliehen. Der einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das Muß ist eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch getauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt – ist schauderhaft. Was ist das, was in uns lügt, stiehlt, mordet?

    So Georg Büchner 1834, zitiert von Gottfried von Einem 1947. Büchner war 21, als er das schrieb. Einem zählte 28, als er seinen „Danton" beendete.

    „Ich habe mit diesem Stück keine ‚Meinung‘ von mir geben wollen."²⁸ Diesen Satz schrieb der Komponist in einem Text nieder, der als Grundlage für die PR-Arbeit zur Opernpremiere gedacht war. Der Satz wurde noch im Manuskript gestrichen. Aber klar war, was er damit auszudrücken versuchte: dass er nicht Partei ergreifen wollte. Wie Büchner wollte er das Geschehen ablaufen lassen – hart und klar und ohne jede Illusion, dass an der brutalen Mechanik der Macht etwas zu ändern wäre durch Sentiment und Sympathie.

    Das mag umso nähergelegen haben, als sich eben erst brutal erwiesen hatte, was es heißen konnte, (in der) Partei zu sein. Einems Oper hob stärker heraus, was in Büchners Drama angelegt ist: die Masse im Bann der Macht, ihre Manipulierbarkeit, ja ihre bodenlose Willfährigkeit, einmal für diesen, einmal für jenen Partei zu ergreifen. „Heil! Das „Volk brüllt, so schrieben es Einem und sein Librettist Boris Blacher ausdrücklich ins Textbuch. In diesem Punkt gingen sie über Büchner hinaus. Zu stark gellten die Schreie noch in ihren Ohren.

    Die ausdrückliche historische Parallele wagte er in jenem Kommentar, der im Mai 1947 an Hans Rutz ging, den für die Verlagsarbeit engagierten Autor. Es war ein vorläufiger Text, vertraulich hingeschrieben, auf dass Rutz das Ganze noch redigiere. „Robespierre, heißt es hier, „sehe ich wie eine Art Hitler oder Stalin. Nicht ‚gut‘, nicht ‚schlecht‘.²⁹ Man war zweifellos gut beraten, den Satz so nicht an die Öffentlichkeit zu tragen. Denn allzu leicht wären die Anführungszeichen weggeblieben, und nur sie machten klar, worauf Einem hinauswollte. Das Grausame sollte nicht moralisierend gebrandmarkt werden, sondern sich erweisen, sich selbst demaskieren im Räderwerk der Macht.

    „Ich wollte Wirklichkeit zeigen, beschönigen wollte ich sie nicht."³⁰ So fasst Gottfried von Einem seine Intention zusammen. Und weiter: „Wenn mein Stück dazu dient, den Menschen, die den inneren und äusseren Terror der letzten Jahre erlebt haben, die Augen über den Sinn dieses Erlebens zu öffnen (…), dann glaube ich, hat es seinen moralischen Sinn, abgesehen von seinem musikalischen, erfüllt. In diesen Schlusssatz verhakte sich der Widerspruch. Denn was wäre er wirklich gewesen, der „Sinn dieses Erlebens? Die Einsicht in die Sinnlosigkeit? Erkenntnis des „gräßlichen Fatalismus der Geschichte, gemäß dem Büchner-Wort? Wissen ums „lächerliche Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich?

    Klarer wirkt da Einems Hinweis auf die Atmosphäre, die er aufnahm. „Damals, als ich die Oper komponierte, stand ich wie Millionen anderer Menschen in diesem Land unter einem fast unerträglichen seelischen Druck. Wir alle sassen wie in einem engen Raum mit schwitzenden Wänden, die noch dazu Ohren hatten. Ich glaube, meine Musik war unter dem Drang entstanden, mit ihren Mitteln zu sagen, was wir brauchen: Erlösung von der Angst, in der wir ständig leben! (…) Ständige Spannung, Schrei nach Erlösung von ihr, hält in Atem. Oft und oft habe ich mir vorgenommen, Pausen zu machen, Aufenthalte zu nehmen: es ging nicht. Ich stand wie gebannt unter dem Zwang des Stoffes. Das Werk brannte ab mit mir, mit meiner Musik."³¹

    Hier spricht der Künstler. Aus dieser Passage bricht das Element hervor, ohne das Kunst nicht packen kann: Feuer. Einem hatte es, und es loderte im „Danton. Was an dieser Oper von Anfang an faszinierte, hatte viel mit der Spannung zu tun: Es war kalte Materie, die der Stoff bot, das eiskalte Spiel der Macht – aber gerade daran entzündete sich die Glut. Im jungen Einem ebenso wie im jungen Büchner. Er spürte die Nähe und sprach es aus: „Die fast archaisch wirkende Zeichnung der Büchnergestalten ermöglichte es mir, über die 100 Jahre weg dieses glühende Herz schlagen zu fühlen (…).³²

    Eiskalt und feurig: Aus solchen Extremen nährt sich die Leidenschaft. Und darauf waren beide aus, Büchner wie Einem. Zielstrebig steuerte der junge Komponist darauf zu, und gleich im ersten Satz wählte er das Wort, als er seinen „Danton erläutern sollte. „Die Politik ist eine Leidenschaft wie jede andere. Wie Liebe, Hass. Jedenfalls wenn sie im Menschen brennt, (…) ihn über sich hinaushebt, ihn schliesslich vernichtet. Viele Leidenschaften brennen in den Opern der Weltliteratur ab. Nur selten die der Politik.³³ Mit der sogenannten „politischen Oper, führt Einem aus, habe das nichts zu tun, nichts also mit Werken, in denen die Politik den Kontext und Hintergrund bilde. Einzig Mussorgskijs „Boris Godunow sei eine „Oper der politischen Leidenschaft". Dorthin zog es auch ihn.

    Politik als Leidenschaft – Theaterinstinkt und persönlicher Drang, Not und Affekt kamen da zusammen. Und einmal mehr war „brennen das passende Wort. „Ich liebte, so Einem über seine Titelfigur, „die Fülle, die Vitalität, das gewisse laisser vivre des Danton, seinen abgründigen Hass gegen die vergottete Staatsgewalt. Derselbe Hass brannte in mir gegen eine Staatsmaschinerie, die alles Lebendige unter ihre Füsse trat um sich immer mehr zu erhöhen."³⁴

    Der Büchner-Text aber, den Einem seiner Oper voranstellte, mündet in eine Frage. „Was ist das, was in uns lügt, stiehlt, mordet?"

    Eine Frage von immenser Tragweite. Sie blieb offen – so wie „Dantons Tod", als Oper der Stunde null, eine große Frage offenließ. Keine geringere als die, ob es sie nicht doch gegeben habe: die Verantwortung? Die moralische? Die ganz persönliche?

    Dass sie offenblieb, mag Teil der Erfolgsgeschichte gewesen sein. Die Oper trat einen Siegeszug an, der quer durch Europa bis nach Amerika führte. Besonders stark war ihre Resonanz im Nachkriegs-Deutsch-land und -Österreich. Allein für die ersten zwanzig Jahre, bis 1967 also, verbucht die Aufführungsstatistik Produktionen in Salzburg und Wien/Staatsoper (1947), Brüssel und Hamburg (1948), Köln (1954), Kassel (1955), Bielefeld, München und Oldenburg (1956), Nürnberg (1957), Gelsenkirchen, Hannover und Münster (1958), Lübeck und Ulm (1959), Graz, Antwerpen und Düsseldorf (1960), Linz und Dortmund (1961), Berlin und Wien/Festwochen (1963), Detmold, Charleroi, Szeged und Wiesbaden (1964), Bordeaux (1965), Brünn, Kiel und New York (1966), Braunschweig, Magdeburg, Prag, Schwerin und Wien/Staatsoper (1967).³⁵

    Eine Frage blieb nicht offen. Die nämlich, wie es nach diesem fulminanten Anfang für den 29-jährigen Gottfried von Einem weitergehen sollte. „Die Uraufführung, resümierte er später lapidar, „wurde entgegen vielen Voraussagen ein Erfolg. Im Anschluss daran wurde ich in die Salzburger Festspieldirektion berufen.³⁶

    KEHRT HOFMANNSTHAL WIEDER? NEUBEGINN IN SALZBURG

    Wo anfangen? Und wie? Wer beginnt, versichert sich gern und geht zurück: auf Anfänge, die schon geglückt sind. In Salzburg war es so. „Als man nach Beendigung des Krieges wieder daranging, den Salzburger Festspielen die internationale Bedeutung zurückzugewinnen, war es allen, die mit der Leitung der Geschicke dieses Unternehmens betraut wurden, klar, daß man wieder dort anfangen müsse, wo Reinhardt begonnen hatte."³⁷ Gottfried von Einem war es, der diesen Anfang so beschrieb – einen Anfang im Zeichen des Anknüpfens –, und er tat es in prominenter Funktion, als Sprecher des Ganzen.

    Dazu passte, dass er Post dieser Art erhielt: „Herzlich Max Reinhardt",³⁸ grüßte ihn freundlich ein Briefschreiber. Der legendäre Regisseur und Mitbegründer der Salzburger Festspiele war schon 1943 gestorben – es konnte sich also nur um einen Gag handeln, und der war umso klarer, als jener „Max Reinhardt auch den Adressaten schon entsprechend titulierte: „Lieber Hofmannsthal! … Oscar Fritz Schuh war es, der hier als „Max Reinhardt unterschrieb, und Gottfried von Einem war der „liebe Hofmannsthal. Eine kumpelhafte Maskerade, die tief blicken lässt – erst recht hinsichtlich der Rollenzuteilung. Dass Oscar Fritz Schuh, einer der großen Regisseure der Nachkriegszeit, sich als Reinhardt II. sah, liegt auf der Hand. Aber Gottfried von Einem? Hätte man ihn, den Komponisten, nicht eher als Richard Strauss II. sehen müssen? Man tat es nicht, ganz entschieden, und so spiegelt sich im Scherz der Ernst: Einem war als Ideengeber und Präzeptor der Festspiele wirklich mehr Hofmannsthal denn Richard Strauss, er war treibende Kraft und prägender Kopf in dieser Phase des Anfangs. Der 30-Jährige hatte Esprit und Energie, zündende Ideen und das Feuer, sie in Form gießen zu können. Große Erwartungen lagen auf ihm: „(L)angsam muss unsere ‚Clique‘ enger geschmiedet werden, sei Du der Schmied, ich kann mir keinen besseren vorstellen, schrieb ihm der Bühnenbildner Caspar Neher Ende 1948. Salzburg, meinte er, „kann zu einem Weimar werden, des 20sten Jahrhunderts. Natürlich – auch der Nachsatz sollte wichtig bleiben – „darf man sich nicht täuschen über die verschiedensten Dinge.³⁹ Neher hatte 1947 die Uraufführungsproduktion des „Danton ausgestattet, Schuh war der Regisseur gewesen. Drei Künstler hatten sich hier gefunden, die nach dem „lichterlohen Moment des Anfangens zusammenbleiben und zusammenwirken wollten. Sie waren der Kern der „Clique, die Salzburg, nach ihren Vorstellungen, zu einem neuen geistigen Zentrum machen wollte.

    Ein Weimar des 20. Jahrhunderts? Auch mit dieser Vision folgte man den Spuren Reinhardts und Hofmannsthals, denn auch Hofmannsthal hatte, als er anfing in Salzburg, die Verbindung zu Weimar, dem Zentrum der deutschen Klassik, gesucht. Doch noch weiter und tiefer ging das Verbindende der Festspielschöpfer von einst und jetzt. Prägend war, für die einen wie für die anderen, die Nachkriegssituation. Als „eminentes Friedenswerk"⁴⁰ sah Reinhardt das Festspielprojekt schon 1917, noch mitten im Ersten Weltkrieg, und Hofmannsthal betonte 1919 die europapolitische Komponente. Der Glaube an Europa, schrieb er, sei „das geistige Fundament unseres geistigen Daseins".⁴¹ Sätze und Überzeugungen, in denen sich auch Reinhardt II. und Hofmannsthal II., Schuh und Einem, wiederfinden konnten.

    Das „Friedenswerk der Salzburger Festspiele 1945 freilich war zum wesentlichen Teil ein Projekt der Amerikaner. Am 4. Mai – vier Tage vor der Kapitulation Deutschlands – wurde Salzburg kampflos an die amerikanischen Truppen übergeben. Die Besatzungsmacht maß den Festspielen hohe Bedeutung bei. Die Wiederbelebung des musikalischen Lebens und besonders des Festivals sei eine exzellente Idee, hieß es in einem Expertenbericht, der den Verantwortlichen im Juni 1945 vorgelegt wurde: „It will be most useful to strengthen the morale of the people. The population of Salzburg is very proud of their tradition and will take the hardships of the present time more easily if they have their music back.⁴² Mehr improvisiert als geplant fanden schon im August 1945 die ersten Nachkriegsfestspiele in Salzburg statt. Die amerikanische Nationalhymne leitete den Eröffnungsabend ein, den der Oberkommandierende der amerikanischen Streitkräfte in Österreich, General Mark W. Clark, zu einer Grundsatzrede nützte: „Österreich, sagte er, „wird von den Vereinten Nationen die Gelegenheit gegeben, die Freiheit und Unabhängigkeit zurückzugewinnen und sich einen ruhmvollen Platz in der Gemeinschaft der friedlichen Nationen der Welt zu erwerben. (…) Alle Verbindungen zwischen Österreich und dem nationalsozialistischen Deutschland, welches im Jahre 1938 Österreich überrannte, sind jetzt aufgelöst.⁴³ Damit wurde, per Oberkommando, schon jetzt der Schlussstrich gezogen. Stunde null in Salzburg. Das neue Österreich durfte beginnen, als hätte es das alte nicht gegeben.

    Ohne die Amerikaner, um es so pauschal zu sagen, wäre auch „Dantons Tod" nicht zu den Salzburger Festspielen gekommen. Die volten- wie anekdotenreiche Vorgeschichte der Premiere gipfelt darin, dass Einem im Chef des Counter Intelligence Corps der

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