Über dieses E-Book
Giuseppe Carpani wurde zum Biografen Joseph Haydns (1732-1809), weil er sein Freund geworden war. Er musizierte gemeinsam mit dem Komponisten und war über lange Jahre sein enger Vertrauter und Gesprächspartner. Was er über die Musik Haydns zu sagen weiß, ist klar und kenntnisreich, überzeugend und voller Enthusiasmus. Was er aus dessen Leben erzählt, ist so lebendig, so voller Geist, dass Stendhal das Werk kurzerhand als sein eigenes ausgab.
Carpanis Haydn-Biografie erschien im italienischen Original 1812, drei Jahre nach dessen Tod. Der Biograf lässt uns die Gestalt des Komponisten mit den Augen seiner Zeitgenossen sehen, gleichermaßen offen wie lebensnah. Er gibt uns kostbare Einblicke in das Wesen und die arbeitsweise eines Künstlers, der, einfallsreich und furchtbar wie kaum ein anderer, in seinem Leben ein einfacher Mensch war und mit seiner Musik unsterblich wurde. Die Biografie von Giuseppe Carpani erscheint hier, zwei Jahrhunderte nach Haydns Tod, erstmals auf Deutsch.
Ein einzigartiges kulturgeschichtliches Dokument.
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Buchvorschau
Haydn - Giuseppe Carpani
Der Mann lebt noch,
doch der Künstler ist nicht mehr.
Haydn! – Welch ein illustrer Name, dessen Ruhm wie ein Stern im Tempel der Harmonie erstrahlt. Dieser Haydn, der Sie, mein Freund, so sehr interessiert, lebt noch aber ach –, quam mutatus ab illo* – wie verschieden ist er von dem, der er einmal war.
Am äußersten Rand einer Wiener Vorstadt, nahe dem kaiserlichen Park von Schönbrunn findet sich, an der Grenze zu Maria Hilff, eine kleine ungepflasterte Straße; dort, wo sie wenig begangen wird, ist sie mit Gras bewachsen. Etwa in der Mitte dieser Gasse steht ein bescheidenes kleines Haus, das immer von Stille umgeben ist. Dort – und nicht im Palais Esterházy, wie Sie vielleicht glauben und wie es tatsächlich sein könnte, wenn er dies wollte – lebt der Vater der Instrumentalmusik, eine der phantasiereichsten Gestalten des 18. Jahrhunderts, der das Goldene Zeitalter der Musik geformt hat.
Wenn man das stille Domizil besucht, wo Haydn von seinen Werken ausruht, öffnet seine betagte Haushälterin mit lächelnder Miene. Man geht eine kleine hölzerne Treppe hinauf, und dann findet man im zweiten Raum einer sehr einfachen Wohnung einen stillen Greis an einem Schreibtisch sitzen; er ist völlig in den trüben Gedanken verstrickt, daß das Leben ihn verläßt, und im übrigen so sehr nichts, daß er Besucher braucht, um sich daran zu erinnern, was er einmal war. Sobald er jemand eintreten sieht, erscheint ein mildes Lächeln auf seinen Zügen. Eine Träne entquillt seinen Augen, sein Gesicht belebt sich, seine Stimme wird klar, er erkennt seinen Gast und spricht mit ihm von seinen früheren Jahren, an die er sich besser erinnert als an die späten. Man könnte fast glauben, der Künstler, der er einmal war, existiere noch. Doch bald fällt er vor den Augen seines Besuchers wieder in seinen üblichen Zustand von Lethargie und Traurigkeit zurück.
Jener Haydn, der feurige, von fruchtbaren Ideen erfüllte und so originelle Künstler, der an seinem Piano die schönsten Musikstücke schaffen konnte und in wenigen Augenblicken alle Herzen entflammte, der alle Gemüter zu den köstlichsten Empfindungen führte, ist von der Erde verschwunden. Der Schmetterling, von dem Plato gesprochen hat, breitete seine Flügel aus, um in den Himmel zu fliegen, und ließ nichts zurück als die plumpe Larve, als die er nunmehr vor unseren Augen erscheint. Ich gehe von Zeit zu Zeit hin, um die teuren Überreste eines großen Mannes zu besuchen, um in dieser Asche zu rühren, die noch heiß ist von den Feuern Apolls. Und wenn es mir gelingt, einen Funken zu entdecken, der noch nicht ganz erstickt ist, dann gehe ich wieder, die Seele voller Rührung und Traurigkeit. Denn das ist alles, was von einem der größten Musiker übrig blieb, die je existiert haben.
Ich könnte jetzt innehalten, denn ich habe Ihnen genug gesagt, um Ihre Fragen über diesen berühmten Mann zu beantworten, von dem Sie mit solcher Inständigkeit Neuigkeiten erbaten. Aber ich weiß, daß Sie ein ebenso aufgeklärter wie leidenschaftlicher Musikliebhaber sind, ein Bewunderer Haydns, der ihn, wie ich, über alle berühmten Instrumentalkomponisten setzt. Diese wenigen Einzelheiten seiner dahinschmachtenden Existenz können also Ihre Neugierde keineswegs befriedigen. Sie verdienen es vielmehr, daß ich von jenem Haydn spreche, der während fünfzig Jahren das ganze kultivierte Europa von seinem Namen widerhallen ließ, und dessen Musik man in Mexiko wie in Calcutta kennt, in Neapel wie in London, in Peru wie in Paris.
Dieser Haydn, mein teurer Freund, lebt noch, voller Vitalität und Kraft, genau so wie der großartige Dichter des Achill noch, dreitausend Jahre nach seinem Tod, in seinen Versen weiterlebt. Ich werde Ihnen in Briefform die Erinnerungen dieses auserwählten Hohenpriesters der Harmonie nachzeichnen. Ich werde sie Ihnen teils als das enthüllen, was ich von ihm selbst gehört habe, teils, was ich an Berichten von verschiedenen Personen gesammelt habe, die während einzelner Abschnitte seines Lebens einen regelmäßigen Kontakt zu ihm hatten. Darunter finden sich der Baron van Swieten , Maestro Fabert, seine würdige Schülerin und Freundin Mademoiselle Kutzbeck, Maestro Pichl , der Cellist Bertoja, Hofrat Griesinger , Maestro Weigl , Herr Martinez, sein getreuer Kopist, und viele andere, deren Namen ich der Kürze wegen nicht erwähne.
Alles ist interessant im Leben jener seltenen Genies, welche durch die Entwicklung ihrer geistigen Fähigkeiten der Menschheit nur Tröstungen und Freuden geben. Sie sind die wahren Helden und dieses schmeichelhaften Titels würdiger als alle andern. Wüßten die Menschen mit einer weisen Unparteilichkeit die Verdienste derer zu schätzen, die sie mit Wohltaten überhäufen und ihnen die größten Genüsse verschaffen, wären sie weit davon entfernt, sich vom Ehrgeiz und der Raserei der Eroberer blenden zu lassen, die sie quälen, unterdrücken und zerstören.
Der musikalische Parnaß zählte schon eine große Anzahl gefeierter Komponisten, als in einem österreichischen Dorf der Schöpfer der Symphonie geboren wurde. Die Studien und der Erfindungsgeist dieser Vorgänger waren mehr auf die Vokalmusik gerichtet; sie ist tatsächlich die Basis des Wohlgefallens, das uns die Musik geben kann. Man verwendete die Instrumente damals nur als eine angenehm klingende Zutat, so wie die Landschaften bei historischen Gemälden oder die Ornamente in der Architektur verwendet werden.
Die Musik war eine Hierarchie. Der Gesang beherrschte sie als Gebieter; die Instrumentalbegleitungen waren nur die Untertanen. Jene Art von Musik, an der die menschliche Stimme keinen Anteil hat, jene Republik getrennter und doch wieder vereinigter Töne, wo nach und nach jedes Instrument Aufmerksamkeit erwecken muß, stand zu Beginn des 17. Jahrhunderts erst am Anfang ihrer Karriere.
Es war, glaube ich, Lully , der jene Sinfonien erfand, die wir Ouverturen nennen. Doch selbst darin bemerkte man, sobald der Teil, den man Fuge nennt, zu Ende war, die Hierarchie; denn die Violinstimme enthielt die gesamte Melodie, und die übrigen Instrumente dienten nur zur Begleitung, wie sie in der Vokalmusik den Gesangstimmen dienen, die allein die musikalische Idee oder Melodie innehaben.
Die Symphonie war also in jener Zeit meist nur eine Arie, die gespielt wurde, anstatt daß man sie sang. So war die Instrumentalmusik der alten Griechen, die in der Folge von den Römern übernommen wurde. Ja, genau genommen war ihre Musik nur eine reine Vokalmusik, die von den Instrumenten wiederholt wurde. Niemand hätte es gewagt, diesen Brauch zu übertreten und eine Melodie zu komponieren, die für die Instrumente allein bestimmt und passend gewesen wäre, wie es nun geschieht, da diese bezaubernde Kunst den Kinderschuhen entwachsen ist, die sie während so vieler Jahrhunderte anbehalten hat. Lesen Sie nur, was Kalkbrenner in seiner Geschichte der Musik zu diesem Thema sagt:
»Die Griechen waren zu genau in der Befolgung des Rhythmus, des Metrums und der sonstigen Charakteristika, als daß man annehmen könnte, sie hätten jemals dem zugestimmt, daß die Instrumentalmusik etwas anderes werde als eine kalte und einförmige Imitation der Vokalmusik.«
Vor den Symphonien Lullys kannte man in Europa keine andere Instrumentalmusik als jene, die zum Tanzen notwendig war. Und selbst in dieser hatte nur ein einziges Instrument die Melodie inne. Die anderen waren nur auf verschiedene Akkorde beschränkt und machten die Begleitung. In Italien wurde diese sehr unvollkommene Musik für gewöhnlich nur mit den Instrumenten ausgeführt, die Caliari* in seinem Abendmahl von San Giorgio und vor ihm Giorgione im Bildnis eines Konzerts dargestellt hat, das als Kupferstich veröffentlicht wurde. Diese Instrumente waren: die Viola, die Laute, das Bassetto, die Flöte und das Psalterium, wozu man manchmal noch die Harfe, die Querpfeifen und das Horn hinzufügte. Wenn man zu bestimmten Gelegenheiten eine lautere Musik haben wollte, erhöhte man die Zahl dieser Instrumente um die geraden Trompeten. Die Orgel spielte beinahe immer allein. Man hatte noch nicht einmal die Vorstellung einer Orchesterbildung wie der heutigen, von Instrumenten, die mit soviel Ordnung, Geschmack und einer solchen Methode angeordnet werden, wie dies heute der Fall ist. Die Instrumentalmusik befand sich also in einem armseligen Zustand, während die Vokalmusik in der musikalischen Welt die Oberhand behielt.
Ich will mich hier nicht damit aufhalten, Ihnen die unzähligen unvollkommenen Instrumente anzuführen, wie die großen und kleinen Dudelsäcke, Trommeln aller Formen und Größen, Flöten, Pfeifen, Flageolette, Cembali, Pauken, Trompeten, Jagdhörner, Sackpfeifen, Gitarren, Chitarroni und Monocords, deren sich im 14. Jahrhunderts die provenzalischen Troubadours bedienten. Ihr Gebrauch war fast nur in Frankreich bekannt, und selbst dort überlebten sie nur bis zum 15. Jahrhundert.** Dann wurde von Viadana – oder wie andere mit mehr Grund glauben, von Caccini – der Basso Continuo erfunden, und die schöne Kunst der Musik machte in Italien große Fortschritte. Allmählich verschwanden jene barbarischen Instrumente, und die Violinen, die man damals Violen nannte, begannen vorzugsweise verwendet zu werden. Das Orchester wurde immer mehr vereinfacht, wie man an den Gemälden sieht, bis es gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts etwa seine jetzige Form bekam, indem man sich nur noch auf die Streichinstrumente, die Orgel und die Trompete* konzentrierte. Ich möchte Ihnen beiläufig auch noch sagen, daß es nördlich der Alpen nur einen Komponisten gibt, dem es vorbehalten blieb, auch aus der Vokalmusik eine Art Demokratie zu machen, in der die Instrumente eine eigenständige Rolle innehaben, und der menschlichen Stimme die Ehre streitig zu machen, die Melodie auszuführen und sich mit ihr die Aufmerksamkeit des Publikums zu teilen. Unsere Vorfahren hingegen, die mehr ergebene Anhänger der Natur als der Kunst waren, billigten klugerweise der Stimme allein das Recht zu, die Aufmerksamkeit zu fesseln. Diese Methode, die Bedeutung der Instrumente zu erhöhen, führte dazu, daß die Sänger darauf bestanden, den Supremat, der ihnen beinahe genommen worden wäre, wieder zu gewinnen, und sich damit brüsteten – wie Metastasio es treffend nannte –, Sonatinen für einen Kehlkopf zu machen. Man hörte also, in einer völligen Umkehrung des Geschmacks, einen Agujari und Marchesi , einen Masra, Gabrieli, Danzi und Billington** ebenso wie eine Unzahl anderer eine Oboe, ein Flageolett, eine Violine nachahmen und sozusagen ihre Stimme in diese Instrumente verwandeln. Sie wetteiferten mit diesen und übertrafen sie oft sogar an Schwierigkeit und Mannigfaltigkeit der Passagen, an Lebhaftigkeit der Läufe und Kadenzen. Dies alles ganz gewiß zum großen Schaden der erhabenen und im wesentlichen gefühlvollen Kunst des Gesangs, die nicht nur dazu bestimmt ist, dem Ohr zu gefallen, sondern auch, die Seele zu bewegen und zu
