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Wagner und seine Dirigenten
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eBook350 Seiten4 Stunden

Wagner und seine Dirigenten

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Über dieses E-Book

Hans-Joachim Hinrichsen: Apostel und Apostat
Hans von Bülow als Wagner-Dirigent
Klaus Döge: Lehrling, Geselle und Meister - Richard Wagner und Hans Richter
Thomas Seedorf: Ein treuer Diener seines Herrn - Richard Wagner und Felix Mottl
Stephan Mösch: „Leidens- und Freudenszeit“ - Zum Verhältnis zwischen Hermann Levi und Bayreuth
Richard Klein: Raumkonstruktionen - Wagners Rheingold-Vorspiel mit Blick auf Solti und Karajan
Hans-Rudolf Vaget: „Den liebe ich besonders“: Hitlers Rienzi
Dorothea Baumann: Der Bayreuther Raumklang
Ulrich Müller: Das Nibelungenlied - ein gesungenes Heldenepos. Überlegungen zur mittelalterlichen Melodie und einem modernen Aufführungsversuch
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Sept. 2014
ISBN9783826080012
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    Buchvorschau

    Wagner und seine Dirigenten - Udo Bermbach

    Autoren

    Aufsätze zum Schwerpunkt

    Apostel und Apostat Hans von Bülow als Wagner-Dirigent

    Hans-Joachim Hinrichsen

    Unter den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland wirkenden Dirigenten ist wohl zweifellos Hans von Bülow (1830–1894) der einflußreichste und, gemessen an der Vielzahl seiner Tätigkeitsfelder, auch der universalste gewesen. Wenn man diesen Universalisten, wie hier geschehen soll, als „Wagner-Dirigenten" betrachten will, so liegt darin eine Einschränkung der Perspektive nur auf den ersten Blick. Zwar könnte man die Zuspitzung auf die Zusammenarbeit mit Wagner und auf die Anwesenheit von Werken Wagners in Bülows Repertoire als willkürlichen Ausschnitt aus einer viel breiter angelegten Interpretenlaufbahn betrachten. Doch es geht in Wirklichkeit dabei um viel mehr. Denn Hans von Bülow erscheint als Wagner-Dirigent nicht einfach bloß, wie man angesichts seiner Bedeutung als erster wichtiger Propagator von Wagners Werk vermuten könnte, im Lichte seiner den Werken Wagners gewidmeten musikalischen Praxis, sondern er ist in gewissem Sinne noch sehr viel umfassender als der Wagner-Dirigent des 19. Jahrhunderts schlechthin zu verstehen: nämlich als ein ganz unabhängig vom jeweiligen Repertoire in seinem gesamten Habitus und seiner Ästhetik nachdrücklich von Wagner geprägter Interpret.

    Es verwundert daher wenig, daß man Bülow schon kurz nach seinem Tode als den Prototyp des „modernen Dirigenten" empfand. Mit dieser lapidaren Titelformulierung erschienen kurz nach der Jahrhundertwende zwei Broschüren in prominenten Musikverlagen: Arthur Seidls kleine Monographie Moderne Dirigenten 1902 bei Schuster & Loeffler in Berlin und Arthur Lasers Büchlein Der moderne Dirigent (mit einer Widmung an Felix Mottl) 1904 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig. In beiden spielt der einleitende Blick auf die Lebensleistung des gerade verstorbenen Bülow eine konstitutive Rolle. Und es ist bezeichnend, daß für die um 1900 schreibende Kritiker-Generation hinter dem noch selbst erlebten Bülow die eigener Hör-Erfahrung nicht mehr zugängliche Figur des Bayreuther Meisters erscheint: „Bülow hat erst die Wagner’schen Theorien in die Tat umgesetzt. Ich habe leider Wagner nicht persönlich gesehen. Falls er wirklich auch selbst der große Dirigent war, für den man ihn nach dem Studium seines Buches unbedingt halten muß, so hat er doch verhältnismäßig sich viel zu wenig öffentlich als Dirigent gezeigt, um durch sein ‚Beispiel‘ belehrend wirken zu können. Nur eine beträchtlich kleine Anzahl von Dirigenten hat durch sein persönliches Vorbild lernen können, die anderen sind erst durch seinen genialsten Schüler Hans von Bülow aus ihrer Lethargie erweckt worden!"1 Während Seidl und Laser in ihren auf Aktualität zielenden Monographien Hans von Bülow am Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ausgangspunkt ihrer zukunftsgerichteten Darstellung nehmen, läßt Georg Schünemann 1913 seine naturgemäß dem Rückblick gewidmete Geschichte des Dirigierens gleichsam teleologisch in das Kapitel Bülow münden. Aber auch hier firmiert dieser unter dem Signum des Wagner-Dirigenten: „Der wichtigste unter ihnen und der größte Apostel seiner [= Wagners] Lehren war Hans von Bülow. Er hat dem Beispiel seines großen Meisters nachgeeifert und durch eigene Kraft und Tüchtigkeit einen Ehrenplatz unter den Dirigenten unserer Zeit errungen.2 Der immerhin schon seit zwei Jahrzehnten verstummte Bülow gilt auch hier, am Vorabend des Weltkriegs, als sinnfälliger und praktischer Beweis für die Tatsache, daß sich die „von Wagners Schriften ausgehende Wirkung [...] noch in unseren Tagen kaum übersehen lasse.3

    Damit ist die Frage nach der Art, der Intensität und der Geschichte der künstlerischen Beziehung zwischen Wagner und Bülow gestellt. Im folgenden wird dementsprechend die komplexe Erscheinung des „Wagner-Dirigenten" Hans von Bülow in ihre verschiedenen Aspekte auseinandergelegt. Es wird also danach zu fragen sein, (1.) wann und wie Bülow bei Wagner gelernt, (2.) was er für die praktische Vermittlung von Wagners Werken geleistet, (3.) wie das bei Wagner Gelernte in seiner eigenen musikalischen Praxis sich niedergeschlagen und (4.) in welcher Weise es sich schließlich zu etwas unverwechselbar Eigenem weiterentwickelt hat.

    1. Bülow als Schüler Wagners

    Bülows praktische Lehrzeit bei Wagner begann im Herbst 1850. Aus Wagners Kontakten zum Zürcher Aktientheater, aus dem sich für ihn einige Gelegenheits- bzw. Gefälligkeitsdirigate ergaben, erwuchs rasch die Idee, die Institution in den gebotenen Grenzen zum Experimentierfeld für eigene Pläne zu machen. Nur zeigte Wagner wenig Neigung, sich von dem zunächst nur als „wintertheaterschmiere"4 empfundenen Betrieb allzusehr praktisch in Anspruch nehmen zu lassen. Das ist der Grund für das von Wagner nachdrücklich betriebene Engagement erst des jungen Karl Ritter, dann rasch auch des ebenfalls jungen Hans von Bülow als, wie Wagner sich ausdrückt, „musikdirectorengesellen.5 Beide waren Wagner bereits bekannt (der eine als Sohn seiner Gönnerin Julie Ritter, der andere als mit der Sängerin Livia Frege verwandter Musikenthusiast, der Wagner in Dresden schon als Sechzehnjähriger Kompositionen zur Begutachtung vorgelegt hatte), und beide waren als Dirigenten erst eigens anzulernen. Bülow wurde im Oktober 1850 von Wagner, der um den Berufsmusiker-Traum des Jurastudenten wider Willen wußte, mit einem gezielten Schreiben6 gegen den Willen der Eltern nach Zürich geholt, wo er sich mit dem gleichaltrigen Ritter rasch anfreundete. Wagner vermittelte ihnen „die Praktik als Dirigent7 in einem Intensivkursus bei laufendem Theaterbetrieb, der rasch zu selbständigen Dirigaten der jungen Schüler führte – eine praktische Roßkur, die Hans von Bülow glanzvoll bestand und an der Karl Ritter kläglich scheiterte. Allerdings wurde der wegen seiner eminenten Begabung so hoffnungsvoll gestartete Bülow durch Intrigen des Sängerensembles schon vor dem Ende des Jahres 1850 aus dem Zürcher Theater gedrängt, konnte sich jedoch – wieder durch Vermittlung Wagners – auf den vakanten Musikdirektorsposten in St. Gallen retten, blieb also in Wagners Nähe und unter dessen Einfluß. Mehrfach trat er auch in Zürcher Konzerten als Pianist auf, so etwa am 25.2.1851 mit Franz Liszts Paraphrase der Tannhäuser-Ouvertüre. In St. Gallen hatte er ein ähnliches Pogramm zu dirigieren wie das unter Wagners Einfluß ein wenig reformierte Zürcher Repertoire.8 Sein selbstgesetzter Anspruch – beispielsweise der Grundsatz, alle Stücke auswendig zu proben wie zu dirigieren – blieb unverändert hoch. Als sich Bülow nach der St. Galler Saison schließlich im Sommer 1851 zur weiteren Ausbildung zu Liszt nach Weimar begab, hatte er also – mit anfänglich täglichen praktischen Übungen – ein gutes halbes Jahr im Umkreis Wagners verbracht und dabei, wie man wohl zu Recht formuliert hat, „all das gelernt, wofür andere ein mehrjähriges Studium benötigen".9

    Obwohl sich die verschiedenen Einflüsse auf den jungen Bülow, zu denen nicht zuletzt bereits die rezeptive Wagner-Erfahrung während der Dresdner Jugendjahre gehört, kaum sinnvoll voneinander trennen lassen, dürfte trotz der Vorbildhaftigkeit Franz Liszts (nicht nur als Pianist, sondern auch als Dirigent) und der von Bülow stets in Erinnerung behaltenen frühen Eindrücke durch Felix Mendelssohns Gewandhaus-Proben die Wirkung Wagners die für den Dirigenten bestimmende gewesen sein. Die Fortsetzung der Zusammenarbeit mit Wagner bei zahlreichen Gelegenheiten konnte auf der in der Schweiz gelegten Basis aufbauen: Ihren Höhepunkt fand sie in der Münchner Phase (1864–1869), die mit der – durch Wagner vermittelten – Berufung des Pianisten Bülow zum persönlichen Vorspieler des jungen Königs begann und in den Tristan- und Meistersinger-Uraufführungen gipfelte. Wagners Bewunderung für den Musiker Bülow blieb ungebrochen, aber sie galt in erster Linie dem Interpreten, kaum dem Komponisten. Daß er, fast in Umkehrung des früheren Meister-Schüler-Verhältnisses, auf den Dirigenten Bülow förmlich angewiesen war, wußte Wagner. Seltsam sybillinisch hingegen klingt das nur auf den ersten Blick enthusiastische Lob für Bülows Orchesterfantasie Nirwana, das Wagner, der bereits vier Jahre zuvor sein heimliches Bündnis mit Cosima besiegelt hatte, im September 1867 aus Luzern sandte und den Adressaten damit auf das bevorstehende größte Opfer seines Lebens einzustimmen begann: „Könntest Du Dein Schicksal verstehn! Erlägest Du ihm, so wäre es weil Dein Herz wie Dein Geist auf ein zu strahlendes Muster angelegt wären [...]. Und sieh, Hans, so steht es gerade mit Deinem Herzen: Das Schicksal hat ihm eine Größe und Schönheit zugemuthet, wie sie einzig der Bedeutung gleichsteht, für die es Deinen künstlerischen Geist anlegte. Erliege diesen ungeheuren Aufgaben nicht: erkenne sie, erkenne sie durch den Blick Deines Freundes, fasse sie muthig und stolz in das Auge, und – verfolgst Du sie – so mußt Du zu einem unerhört edlen Muster gedeihen".10

    2. Bülow als Wagner-Interpret

    Gewachsen war Bülow den ihm von Wagner zugemuteten „ungeheuren Aufgaben", soweit sie den künstlerischen Aspekt seiner Dienste für den Meister betrafen, in der Tat. An der anderen, der lebensweltlichen Dimension dieser Sendung, wäre er fast zerbrochen und konnte sich 1869 nur durch einen mehrjährigen Rückzug nach Florenz und die damit verbundene grundlegende Revision seiner Kunst- und Lebensgrundlagen retten.

    Bis zu diesem Zeitpunkt aber hatte Bülow unter immenser Anteilnahme des geistigen Mitteleuropa die wichtigsten der mit seinem Namen verbundenen Wagner-Großtaten vollbracht: die Uraufführungen von Tristan und Isolde am 10. Juni 1865 (siehe hier) sowie der Meistersinger von Nürnberg am 21. Juni 1868, zwischen denen er zudem die Münchner Einstudierungen des Tannhäuser, des Lohengrin und des Fliegenden Holländers erarbeitet und der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Doch schon davor, in seiner Berliner Zeit, hatte Bülow jede Gelegenheit, bei der er sich als Dirigent betätigen konnte, zur praktischen Propagierung Wagnerscher Werke genutzt, die er zusammen mit der neuen Gattung der Symphonischen Dichtungen Franz Liszts gegen den erheblichen Widerstand des breiten Publikums durchzusetzen trachtete. In diese Phase fallen seine (zum Teil mehrfach wiederholten) Berliner Dirigate der Ouvertüre zu Tannhäuser (19.10.1855), der Faust-Ouvertüre (1.2.1856) und des Lohengrin-Vorspiels (14.1.1859) sowie seine Prager Aufführung des Vorspiels zu Tristan und Isolde mit selbstkomponiertem Konzertschluß (12.3.1859). Als wort- und schreibgewandter Publizist hatte Bülow schon vor seiner Ausbildungsreise zu Wagner nach Zürich begonnen, die Reformschriften Wagners direkt nach ihrem Erscheinen in der Berliner Presse zu referieren und zu kommentieren. Auch später, vor allem als Beiträger zur Neuen Zeitschrift für Musik, blieb er als Wagner- (und Liszt-)Apostel unermüdlich.

    Abbildung 1: Ankündigung der Uraufführung von Tristan und Isolde am 10. Juni 1865

    Zweifellos aber ragt unter all diesen Leistungen die im Vorfeld von zahlreichen Skandalen und Pressekampagnen belastete Erarbeitung der im Jahr der Uraufführung noch dreimal wiederholten Münchner Tristan-Aufführung heraus, für die sich Bülow einerseits das bei Liszt gelernte Prinzip akribischer separater Orchesterproben, andererseits seine intime Vertrautheit mit der Partitur infolge der vorangegangenen Arbeit am Klavierauszug zunutze machen konnte. Dieser 1860 erschienene Klavierauszug, an dem Bülow fast zwei Jahre intensiv gearbeitet hatte, ist eine Leistung ganz eigener Art. Die Souveränität, mit der Bülow die Schwierigkeiten gemeistert hatte, die in der Verbindung einer angemessenen Wiedergabe des neuartigen Tonsatzes mit Transparenz und pianistischer Spielbarkeit liegen, wurde vielfach gerühmt und hat den Auszug zu einem Modell der Transkriptionstechnik schlechthin gemacht. Schon lange vor der Münchner Uraufführung ermöglichte er einer ganzen Generation von Interessierten jene Bekanntschaft mit dem schwierigen Werk, wie sie etwa aus der Biographie des jungen Nietzsche bezeugt ist.11

    Bei der verhältnismäßig geringen Zahl von nur vier Tristan-Aufführungen, deren Qualität sich von Mal zu Mal steigerte, blieb es im Sommer 1865 vor allem infolge des von Wagner und Bülow als persönliche Katastrophe erlebten12 plötzlichen Todes des Tenors Ludwig Schnorr von Carolsfeld am 21. Juli 1865. Die klangliche und szenische Realisierung des Tristan hatte Bülow selbst geradezu als „Traum empfunden: „Cela a été beau comme le plus beua rêve et – au fond, on ne peut plus considérer les quatre représentations de cet ouvrage hors ligne que comme un poëme-rêve.13 Zwischen diesem Großereignis und der Einstudierung der Meistersinger von Nürnberg präsentierte Bülow dem Münchner Publikum den Lohengrin (erstmals 16.6.1867), den Tannhäuser (erstmals 1.8.1867) und den Holländer (erstmals 11.6.1868), mit denen er das von Wagner übernommene Konzept der akribisch geplanten „Mustervorstellungen" weiter zu perfektionieren gedachte. Die mit demselben Anspruch aufwendig erarbeitete (und in ihrer Wirkung genau wie die Tristan-Aufführung epochale) Einstudierung der Meistersinger von Nürnberg dirigierte Bülow vor und nach der Sommerpause des Jahres 1868 neunmal. Um diese Zeit war allerdings Bülows Wunsch, seine Münchner Position aufzugeben und sich aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen, zum festen Plan geworden, den er im Sommer 1869 schließlich in die Tat umsetzte. Doch zuvor sollte ausgerechnet noch der Tristan zum Anlaß für eine schwere Belastung nicht nur der persönlichen, sondern auch der künstlerischen Beziehung zwischen Bülow und Wagner werden.

    Zu dem ernsthaftesten (und zugleich auch letzten) künstlerischen Konflikt mit Wagner nämlich kam es, als Bülow auf persönlichen Wunsch des Königs den seit Schnorrs Tod verwaisten Tristan wieder aufnahm, und zwar – gegen den erklärten Willen Wagners, der eine „Verhunzung befürchtete – mit Therese und Heinrich Vogl als Protagonistenpaar. Dem Druck Wagners, der Bülow aus Tribschen brieflich zur Boykottierung der Neueinstudierung aufforderte, konnte der erleichterte Bülow durch Umwandlung des königlichen Wunsches in einen expliziten Befehl ausweichen: „Wir haben zu parieren und das ist schließlich sehr gut – denn ohne Diktatur kommt man nicht vorwärts. Gottlob, daß man einen Herrn und Gebieter hat, der den Teufel nach Schwierigkeiten und Unmöglichkeiten fragt.14 Freilich war diesmal, für Wagner ohnehin völlig inakzeptabel, der Tristan nicht ohne pragmatische Eingriffe (Transpositionen und Striche) möglich. Dem empörten Komponisten gegenüber verteidigte Bülow eine Woche vor der Aufführung die wider Erwarten doch sich einstellende musikalische Qualität auch in dieser Besetzung und in dieser Fassung: „Ich vermag dieselbe nicht als eine Profanation des Kunstwerkes an[zu]sehen – im Gegenteil – als einen bedeutungsvollen Akt – ein Zeugnis, was guter Wille und Eifer – angestachelt durch allerhöchsten kategorischen Imperativ zu stande bringen können.15 Und nach der Premiere der Neueinstudierung vom 20. Juni 1869, der letzten Aufführung, die Bülow vor seiner selbstgewünschten Entlassung noch leitete, heißt es im letzten Brief an Wagner lapidar und zugleich in stolzer Distanzierung: „Die gestrige Tristanvorstellung war besser als irgendeine Aufführung irgend eines Deiner Werke an irgend einem anderen Theater.16

    Die leidige Frage der pragmatisch notwendigen Striche in der Tristan-Partitur war hier nun zum ersten Mal aufgetaucht. Als Bearbeiter Wagnerscher Musik hatte sich Bülow, in bester Absicht operierend, schon einmal Wagners Unwillen zugezogen: Für die bereits erwähnte Prager Aufführung des Tristan-Vorspiels (Frühjahr 1859) hatte er, nachdem sich der Komponist trotz wiederholter Bitten geweigert hatte, dies selbst zu tun, einen Konzertschluß komponiert (hier), durch dessen Ungenügen sich Wagner schließlich doch zu einer eigenen Version provoziert fühlte.17 Die Striche nun für die Münchner Wiederaufführungen von Tristan und Isolde waren in gewisser Weise eine Folge der Entscheidung für die neue Sängerbesetzung, über die allein schon sich mit Wagner keine Einigung hatte erzielen lassen. Nach der Aufführung hat Bülow zwar diese Eingriffe – freilich nicht dem Komponisten selbst gegenüber – mit dem ihm eigenen Sarkasmus als „Verstümmlungen" bezeichnet,18 sich gleichzeitig aber, wie schon zitiert, zum künstlerischen Resultat vorbehaltlos bekannt.

    Hans von Bülow (Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth)

    Worin bestanden die Eingriffe? In einem Brief an Wagner (München, 3.6.1869) erwähnt Bülow die Notwendigkeit von Kürzungen im dritten sowie zu Transpositionen im zweiten Akt.19 Einen Tag nach der erfolgreichen Aufführung ist Carl Bechstein gegenüber von zwei Strichen (10 Takte im zweiten, 74 Takte im dritten Akt) die Rede.20 Die Formulierung „Verstümmlungen" aus dem Brief an Pohl zwei Tage später ist also in der Tat das Ergebnis einer in zunehmendem Maße notwendig gewordenen Redaktionstätigkeit. In der Münchner Aufführungspartitur21 sind aus der Vielzahl der Einzeichnungen von Hermann Levi, Richard Strauss und anderen nur vier Eintragungen, alle im zweiten Aufzug, zweifelsfrei als von Bülow stammend zu identifizieren (sie können nur von 1869 stammen, weil Bülows Tristan-Direktion 1872, nach seiner Rückkehr aus Florenz, allem Anschein nach bereits wieder ohne Striche auskam22). Zwei von ihnen betreffen Transpositionen (jeweils einen Ganzton abwärts bei „Tristan! Geliebter! / Isolde! Geliebte und bei „Lass mich sterben! / Muss ich wachen?), und die anderen beiden beziehen sich auf das Ausprobieren dynamischer Korrekturen und geringfügiger Tonsatzvarianten (einschließlich ihrer partiellen Zurücknahme). Die mindestens zwei von Bülow brieflich erwähnten Kürzungen dagegen sind nicht zu verifizieren.

    Mit der Vorstellung vom 20. Juni 1869, auf die zwei Tage später noch eine Separatvorstellung für den König folgte, fand Bülows Münchner Tätigkeit für Wagners Werk ihr vorläufiges Ende. Bülow selbst sah in dieser Schließung des Kreises eine bittere Ironie der Geschichte: „Übrigens mit Tristan hat hier meine Wirksamkeit vor 4 Jahren begonnen – es liegt mehr Sinn darin, als Sie jetzt ahnen können, daß ich dieselbe mit Tristan gleichfalls beschließe."23 Oder, wie er an seine bereits seit längerem bei Wagner in Tribschen weilende Gattin schrieb: „Oui, sans reproche pour l’immense auteur – le Tristan m’a donné le coup de grâce."24 Als besonders bitter mußte er den Umstand empfinden, daß das als nächstes Münchner Projekt geplante Rheingold nicht nur nicht mehr in seinen Händen lag, sondern ihm auch nicht zu einem sinnfälligen Eindruck werden würde – so in seinem Abschiedsbrief an den Konzertmeister Ludwig Abel: „Bitte, genießen Sie doch ein wenig mit für mich das mir versagte Glück, der Aufführung des Rheingolds beizuwohnen! Versetzen Sie sich ein wenig in die elende Haut ihres Freundes, der jenes Werk mit entstehen sah und nun verzichten muß, seine glanzvolle Erscheinung zu bewundern. Ironischer konnte das Schicksal nicht mit mir spielen, als mich zwingen, München in demjenigen Augenblicke zu verlassen, den zu genießen ich fähig gewesen sein würde".25

    Abbildung 2: Hans von Bülow: Konzertschluss zu Wagners Tristan

    Daß Bülow 1872 nach seiner Rückkehr aus Florenz noch einmal vier (offenbar strichlose) Tristan-Vorstellungen dirigierte (sowie einige Male den Fliegenden Holländer), hatte in erster Linie mit dem Gefühl der Verpflichtung zu tun, das er als immer noch einen Ehrensold beziehender Münchner Hofkapellmeister dem ehemaligen Dienstherrn gegenüber empfand. Von den erwähnten „Musteraufführungen" (Lohengrin, Tannhäuser, Der fliegende Holländer) zwischen Sommer 1867 und Anfang 1869 abgesehen, stellt sich damit Bülows Einsatz für die beiden neuen großen Musikdramen Richard Wagners im Überblick wie folgt dar:

    Tristan und Isolde

    10.6.1865; 13.6.1865; 19.6.1865; 1.7.1865; 20.6.1869 [= Neueinstudierung mit einigen Strichen]; 22.6.1869 [= Privatvorstellung für Ludwig II.]; 28.6.1872; 30.6.1872; 18.8.1872; 30.10.1872

    Die Meistersinger von Nürnberg

    21.6.1868; 28.6.1868; 2.7.1868; 7.7.1868; 12.7.1868; 16.7.1868; 3.11.1868; 8.11.1868; 6.12.1868

    Von dem Menschen Wagner hat Bülow sich 1869 verständlicherweise distanziert; an dem Komponisten dagegen hing er bis zuletzt. Allerdings: Nur die von ihm selbst unmittelbar rezipierten und zum Teil auch an die Öffentlichkeit gebrachten Werke schätzte Bülow weiterhin. Die nach den Meistersingern entstandene Musik hingegen, vor allem die Götterdämmerung und den Parsifal, lehnte er ab: freilich nicht aus denselben Gründen wie etwa Nietzsche (denn den Text des Parsifal schätzte Bülow außerordentlich hoch26), sondern aus der Überzeugung heraus, der Wagner der Werke nach den Meistersingern sei nur noch „der Epigone seiner selbst".27 Bülows zwiespältiges Urteil über Nietzsches Anti-Wagner-Schrift zeigt deutlich seine Unsicherheit gegenüber dem früher über alles Bewunderten; am ehesten trifft die Vermutung zu, daß Bülow, so trivial es klingen mag, das Wagnersche Spätwerk kaum angemessen kannte, weil er es nur noch kursorisch zur Kenntnis nahm.28 Sein als moralische Verpflichtung empfundener Einsatz für das Bayreuther Unternehmen, für das er mit seinen Klaviervorträgen von 1872 bis 1880 die immense Summe von 40.000 Mark erspielte, zeigt ihn über jeden Verdacht persönlicher Klein-lichkeit erhaben.29

    Dieser pianistisch-propagandistische Einsatz für Bayreuth (also nicht für Wagner, sondern für die Sache), hinter dessen Erfolg immer noch Bülows legendärer Ruhm als Tristan- und Meistersinger-Uraufführungsdirigent stand, hat nach Wagners Tod vorübergehend (und wohl auch nur einseitig) die Idee aufkommen lassen, sich Bülows Ruf und seine Kompetenz aufs Neue zunutze zu machen. Über wenige Annäherungsversuche, die nach Wagners Tod vom offiziellen Bayreuth ausgingen, ist indessen die Beziehung zwischen Bülow und dem Festspielunternehmen nicht hinausgekommen.30 Offenbar hatte auch Cosima Wagner erwogen, Bülow als Festspieldirigenten zu gewinnen.31 Nachträglich indes lassen Bülows private Äußerungen über den Wagner nach den Meistersingern, der ja im Zentrum des Bayreuther Repertoires gestanden hätte, all diese Bemühungen leicht als von vornherein zum Scheitern verurteilt erkennen.

    So verwundert es denn auch nicht, Bülows spätere Tätigkeit als Dirigent Wagnerscher Bühnenwerke in jenem Zeitraum, in dem er dazu noch einmal die Gelegenheit hatte, auf die Werke der Vor-Tristan-Phase beschränkt zu sehen. In seiner kurzen Zeit als Musikdirektor in Hannover unter der Intendanz seines Freundes Hans von Bronsart leitete Bülow die folgenden Wagner-Aufführungen:

    Rienzi

    8.3.1878; 10.3.1878; 31.3.1878; 26.5.1878; 22.9.1878; 20.10.1878; 12.1.1879; 7.9.1879

    Der Fliegende Holländer

    25.8.1878; 12.9.1878; 18.5.1879

    Tannhäuser

    6.10.1878; 16.10.1878; 10.11.1878; 1.1.1879; 2.3.1879; 30.3.1879; 22.5.1879; 14.9.1879

    Lohengrin

    21.9.1879; 26.9.1879

    Nachzutragen bleibt allerdings noch, daß Wagners Musik nach Bülows Rückkehr aus Florenz auch in dessen Konzertprogrammen präsent blieb (freilich mit praktisch derselben werkchronologischen Einschränkung, die auch für die Bühnenwerke gilt). Die Rienzi-Ouvertüre dirigierte Bülow zweimal in Berlin und Hamburg (1884 und 1892), und für die Faust-Ouvertüre, für die er sich schon in seiner frühen Berliner Zeit praktisch und publizistisch eingesetzt hatte, sind bis zum letzten Hamburger Konzert (5.12.1892) insgesamt sogar 36 Aufführungen nachweisbar. Und das in Prag 1859 noch mit einem eigenen Konzertschluß versehene Vorspiel zu Tristan und Isolde führte Bülow in Berlin (letztmalig am 7.12.1891) nun mit dem von Wagner selbst stammenden Schluß auf.32

    3. Wagners Bedeutung für Bülows Interpretationsästhetik

    Den Einfluß Richard Wagners auf den jungen Bülow kann man vermutlich gar nicht hoch genug veranschlagen, denn er geht über das Gebiet der Vortragsästhetik im engeren Sinne weit hinaus. Bülow fühlte sich der Wagnerschen Reformprogrammatik auf diesem Sektor unmittelbar verpflichtet; auf dieser Verpflichtung fußte geradezu seine gesamte Münchner Berufsexistenz. Den Wagnerschen Terminus der „Musteraufführung" wendete Bülow selbst voller Stolz auf seine Münchner Arbeitsresultate an,33 und noch seine späteren Meininger „Stil-Bildungspläne bezog er auf die Münchner bzw. Bayreuther Projekte.34 Seine schon in München begonnene, allerdings erst in Florenz fertiggestellte und schließlich im Herbst 1871 erschienene kommentierte Beethoven-Ausgabe wollte Bülow ursprünglich, mit einer überaus bezeichnenden Begründung, Wagner widmen: „Ein ganz unnützer Beitrag zur Gründung Deines ‚deutschen Vortragsstils‘ wird sie nicht sein.35 Wagner selbst hat am Ende seiner Münchner Periode unter allen zeitgenössischen Dirigenten überhaupt nur Bülow (und unter den Pianisten diesen neben Franz Liszt) als belangvoll gelten lassen,36 und auch an Bülows Beethoven-Ausgabe, die in Wirklichkeit mindestens sosehr ein Dokument der beginnenden Emanzipation von Wagner wie eines der strikten Nachfolge ist,37 hat Wagner kurz nach deren Erscheinen nur die Übereinstimmung der Prinzipien gesehen (oder wenigstens öffentlich betont).38 Umgekehrt holte sich Bülow noch bis zum definitiven Ende ihrer brieflichen Kommunikation Wagners Ratschläge zu Details seiner Interpretation ein.39

    Das, was Bülow in seinem Brief an Wagner selbst als „deutschen Vortragsstil" bezeichnet, dürfte – mit Blick auf Wagners grundlegende neue Broschüre Über das Dirigieren – als interpretationsästhetisches Markenzeichen zwischen beiden in klarer Unterscheidung von einem wie immer auch vage umrissenen „undeutschen" Stil (in Wagners Broschüre durchaus mit antisemitischem Subtext40) zu erfassen gewesen sein. Er ist also negativ und positiv definierbar: in dezidierter Wendung gegen die Eigenschaften der Glätte, der Oberflächlichkeit und des vordergründigen Glanzes einerseits, als markiertes Hervorheben von rhetorischen Akzenten, strukturell bedeutsamen Tempodifferenzen und expressiven Details andererseits. Daher lag es für die Zeitgenossen mehr als nahe, Bülows interpretatorische Leistungen unmittelbar in der Wagner-Nachfolge

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