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Der Fall Mozart: Aussagen über ein missverstandenes Genie
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eBook417 Seiten4 Stunden

Der Fall Mozart: Aussagen über ein missverstandenes Genie

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Über dieses E-Book

Mozarts letzte Lebensjahre fallen in eine der aufregendsten Zeiten der europäischen Geschichte. Wien war mehr als jede andere europäische Metropole ein Brennpunkt, in dem die exponiertesten Positionen der rivalisierenden Mächte in Staat und Kirche und deren Protagonisten aufeinander trafen. Diesem ideen- und geistesgeschichtlichen Umfeld war Mozart in einem Maße ausgeliefert, das wir uns heute kaum vorstellen können, und er hat als Mitglied zweier freidenkerischer Logen und in seinen Werken zu den aktuellen Ereignissen explizit Stellung bezogen. Der Autor hat in seiner Darstellung eine Vielzahl bislang unbekannter historischer Dokumente ausgewertet und zu den überlieferten Daten aus Mozarts Biographie in Beziehung gebracht. Als Resultat dieser Recherche ergibt sich nicht nur ein gänzlich veränderter Blick auf die zahlreichen "Geheimnisse" von Leben und Werk (Begräbnis, letzte Opern), sondern auch ein völlig neues Bild des Komponisten als gesellschaftlich engagiertem Künstler.
SpracheDeutsch
HerausgeberSchott Music
Erscheinungsdatum4. Mai 2016
ISBN9783795785581
Der Fall Mozart: Aussagen über ein missverstandenes Genie

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    Buchvorschau

    Der Fall Mozart - Helmut Perl

    „kohmen".

    1.    Joseph II. versus Rom

    Wiener Kulturkampf –

    der historische Hintergrund der Zauberflöte

    Als Mozart nach Wien übersiedelte, hatte die Alleinherrschaft Josephs II. gerade begonnen. Mozart erlebte aus unmittelbarer Nähe, was die Geschichtsschreibung später als Josephinismus bezeichnet hat: des Kaisers Versuch, im Zuge einer umfassenden Staatsreform die Kompetenz der römisch-katholischen Kirche auf den religiösen Bereich zu beschränken, ihre Machtpositionen in der Gesellschaft zu reduzieren und eine aufgeklärte Kritik des Klerus und seiner Aktivitäten zuzulassen und sogar zu fördern. Der Kaiser bewies mit dieser Reform, dass er und seine Berater aus der Geschichte der letzten zweihundert Jahre die Konsequenzen zu ziehen entschlossen waren. Die Kirche sollte eine staatstragende und gesellschaftsfördernde Funktion übernehmen.

    Kulturkampf der Gewalten

    Bereits 1769 hatte Fürst Kaunitz-Rietberg in einem ausführlichen Memorandum Von der oberherrlichen Gewalt der römisch-katholischen Fürsten in Bezug auf die Religion und die Clerisey Grundsätze einer künftigen Kirchenpolitik entwickelt, in der er die weltliche Macht als

    nicht allein befugt, sondern vielmehr nach ihren Pflichten schuldig, mit ununterbrochener Aufmerksamkeit beständig über all jene zu wachen, welchen dieselbe die Ausführung eines Amts in dem Staat aufgetragen oder erlaubet hat. Der Clerisey hat sie die Ausübung ihres apostolischen Amtes, so wie einem jeden anderen Stande, welchem ein Amt anvertrauet, gewähret.

    Daher habe die oberherrliche Macht auch die Pflicht, die Art und Weise der Ausführung dieses Amtes zu überwachen; die Behauptung einer Unabhängigkeit der „Clerisey" hinsichtlich des geistlichen Amtes sei unbegründet¹.

    Es handelte sich hier einerseits um die Wiederaufnahme des mittelalterlichen Investiturstreits unter modernen staatspolitischen Aspekten, andererseits um die Vorwegnahme dessen, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Kulturkampf" die Innenpolitik Preußens und des deutschen Reiches beschäftigte. Wien erlebte am Ende des 18. Jahrhunderts eine fundamentale Auseinandersetzung zwischen kirchlicher und weltlicher Macht. Dabei ging es nicht nur um die Klärung formal-rechtlicher Positionen, sondern um wesentliche Inhalte der verkündeten und praktizierten Religion. Die Motive des Kaisers gehen aus einem Memorandum hervor, das er bereits am 8. Oktober 1771 als Mitregent seiner Mutter vorgelegt hatte. Es beleuchtet nicht nur die Position des Kaisers, sondern auch die religiöse Situation in den Erblanden; es sei daher in Auszügen zitiert:

    Gebricht es hauptsächlich an der Erziehung in allen E. M. Erblanden und an denen wahren christlichen und moralischen Tugenden; der Pöbel lebt in der größten Ignoranz, die Bürger und viele für fromme Seelen sich ausgebende werden in einer recht abgeschmackten und der Religion zum Abbruch und zum Gespött dienenden superstitiosen Frömmigkeit durch die in denen Städten überhäuffte und ignorante Geistlichkeit erhalten, welche ihnen theils aus Eigennützigkeit, theils aus eigener Dummheit immer zu kleinen Andächtlereien die Gelegenheit geben, dazu nur einige Fälle aus Böhmen zu erinneren, da die übrigen ja die Stadt Wien selbst voll davon steckt. [...]

    Das Uebelste aber sind die falschen Ideen, so die Geistlichkeit uns von unserer allerheiligsten Religion beibringen, da sie denen Heiligen im Himmel die ärgesten Leidenschaften und Laster andichten, als wie dem heil. Procopio und Joanni Nepomunceno Rache, Zorn, Neid, Jalousie etc., um das Volk dadurch in Tummheit und knechtischen Forcht an der Kette des Eigennutzes zu führen und die Seeligkeit erkauffen zu machen, an Statt der kindlichen Ehrforcht, Liebe und Gehorsam, so Gott von uns, meines Erachtens, allein forderet. Zu diesem schlaget sich noch die Unfähigkeit und Stupiditaet der meisten Seelsorgeren, welche theils nichts wissen und nach dem wahren Sinn gebildet werden, theils eigennützig denken. [...] In denen Predigen giebt es keine Ordnung und wird noch immer statt sich des wahren Wortes Gottes zu bedienen, mit abenteuerlichen Erzählungen und Märchen die Kirche Gottes verunehret. [...]

    In Böhmen allein besitzt die Geistlichkeit, landtäflich ausgezogen, den siebenten Theil aller Realitäten des Königreichs; in Mähren vielleicht noch mehrer und sollen die Fundationen, so meistens auf Messen sind – so alle unmöglich gelesen werden können, da die Personen und Täge nicht klecketen (= ausreichen; Verf.), ja sie dennoch täglich bezahlten Messen und Fundationen fort annehmen, was ein klarer Betrug ist – über acht Millionen betragen. Was für eine reiche Quelle zu Abstellung der Bettel-Mönchen, Fierstellung und Eintheilung einer wahren Hierarchie, zu Betreibung der Religion nach der wahren Würde unsers vollkomnesten Schöpfers und Erlösers. [...]²

    In der Sicht des Kaisers handelte der Klerus nicht im Sinne einer wahrhaftigen, christlichen Kirche, versagte in der Erziehung und betrog die Gläubigen, indem er Messen verkaufte, die er gar nicht alle halten konnte. Es sind die Jahre, in denen auch Leopold Mozart für sich und seine Kinder zahlreiche Messen lesen ließ und bezahlte, um Gott oder die Heiligen günstig zu stimmen. Mit diesem Unfug wollte der Kaiser Schluss machen.

    Dem Memorandum waren bereits zahlreiche Denkschriften und Dekrete zur Neuordnung des Verhältnisses von Kirche und Staat vorausgegangen, die von Wenzel Anton Fürst Kaunitz-Rietberg und Hofrat Franz Joseph von Heinke verfasst worden waren. Darin war die exemte Gerichtshoheit der Klöster aufgehoben und am 6. Oktober 1771 bereits eine Reduzierung der Feiertage durchgeführt worden. Die Verordnung enthält das zustimmende päpstliche Breve im Wortlaut, erlassen von Clemens XIV. Ganganelli, der 1773 den Jesuiten-Orden aufhob. Staatskanzler Kaunitz-Rietberg schrieb am 21. Juni 1770:

    Die Ordensgeistlichen sind demnach unwiedersprechlich weit zu viel, da sie die Kirche ganz und gar entbehren könnte. Da man nun ihre Anzahl, wenn sie auch nur unnöthig und überflüssig wäre, vermindern sollte, wie viel mehr wird deren Verminderung nöthig, wenn man betrachtet, dass sie nicht allein unnütz, sondern zu gleicher Zeit der bürgerlichen Gesellschaft in so vielerley Anbetracht höchst schädlich seye.³

    In einem Brief an den spanischen Gesandten in Paris vom Juli 1773 hat Joseph II. die Aufhebung des Jesuitenordens kommentiert. Dieses Dokument ist für uns auch deshalb interessant, weil es offensichtlich die auch später noch in den Wiener Logen und Zirkeln kursierenden Ansichten vorwegnimmt und die Geschichte aus liberal-aufgeklärter Sicht beleuchtet. Joseph schrieb:

    Klemens XIV. hat durch die Abolition (= Abschaffung; Verf.) der Jesuiten einen fortdauernden Ruhm erworben. Er hat die Existenz dieser Sybillen des Apostolats von der Erde verbannt, und ihr Name wird künftig nur in der Geschichte der Streitigkeiten und des Jansenismus genannt werden. Noch ehe sie in Deutschland bekannt geworden, war die Religion eine Glückseligkeitslehre der Völker; sie haben sie zum empörenden Bild umgeschaffen, zum Gegenstand ihres Ehrgeizes und zum Deckmantel ihrer Entwürfe herabgewürdigt.

    Ein Institut, das die schwärmerische Einbildungskraft eines spanischen Veteranen in einer der südlichen Gegenden Europa’s entwarf, das eine Universal-Herrschaft über den menschlichen Geist zu erwerben gesucht, und in diesem Gesichtspunkte Alles dem infallibeln Senat des Laterans unterwerfen wollte, mußte ein unseliges Geschenk für die Enkel Tuiskons sein. [...]

    Ihre Intoleranz war Ursache, daß Deutschland das Elend des dreißigjährigen Krieges dulden mußte. Ihre Prinzipien haben die Heinriche von Frankreich um Leben und Krone gebracht, und sie sind Urheber des abscheulichen Edikts von Nantes gewesen.Der mächtige Einfluß, den sie über die Prinzen des Hauses Habsburg hatten, ist zu bekannt. Ferdinand II. und Leopold I. sind ihre Gönner bis zum letzten Hauch ihres Lebens gewesen.

    Die Erziehung der Jugend, Literatur, Belohnungen, Ertheilung der größten Würden im Staat, das Ohr der Könige und das Herz der Königinnen, Alles war ihrer weisen Führung anvertraut.

    Man weiß zu sehr; welchen Gebrauch sie davon gemacht, welche Plane sie ausgeführt und welche Fesseln sie den Nationen auf erlegt haben.

    Es ist mir nicht unbekannt, daß außer dem großen Klemens die Minister der Bourbonischen Höfe und der Herr von Pombal an ihrer Aufhebung gearbeitet haben. Die Nachwelt wird einst ihren Bemühungen Gerechtigkeit widerfahren lassen und wird ihnen im Tempel des Ruhmes Altäre errichten.

    Wenn ich zu irgend einem Haß fähig wäre, so müßte ich diejenige Menschengattung hassen, die einen Fenelon verfolgt, und welche die „Bulla in coena Domini" hervorgebracht, die so viel Verachtung für Rom erzeugt. Adieu! Wien, im Juli 1773. Joseph.

    Der Brief aus dem Jahre 1773 sagt viel über die Absichten des Kaisers aus – und auch über die kaiserliche Politik, die Mozart in seinen Wiener Jahren aus nächster Nähe verfolgen konnte. Der Kaiser wollte offensichtlich fundamentalistische Tendenzen innerhalb der Kirche und ihre hierarchischen Strukturen ausschalten. Weil die Zauberflöte auf dem Hintergrund dieser Innenpolitik entsteht, ist zum Verständnis der inhaltlichen Reformen ein Blick in diesbezügliche Dekrete nützlich und erforderlich. Denn selbstverständlich wurden diese kaiserlichen Aktionen und Ansichten auch in den beiden Wiener Elitelogen vertreten, die sich formierten, als Mozart nach Wien kam. Was geschah in Wien in diesen Tagen?

    Dekrete und Reformen

    Joseph verbot am 12. November 1781 seinen Untertanen das Studium am Collegium Germanicum in Rom, der theologischen Lehranstalt des Jesuitenordens, die trotz Auflösung des Ordens als theologische Ausbildungsstätte weiterhin existierte. Es ging hierbei um die Ausschaltung der transalpinischen Grundsätze, wie der deutsch-dänische Illuminatenapostel Friedrich Mün- ter bei seinem Wiener Aufenthalt vom Subdirektor des k. k. Generalseminars erfahren konnte. Für die Priesterausbildung war durch Hofdekret ebenfalls in Pavia in der (damals österreichischen) Lombardei ein Seminar errichtet worden. Die Ordnung dieses neu gegründeten deutsch-ungarischen Kollegiums in Pavia von 1783 gibt uns Aufschluss über die Absichten des Hofes hinsichtlich der Erziehung und des Berufsbildes der künftigen Priester⁶. Diese sollten zunächst zwei Jahre lang Philosophie hören, ehe sie in einem fünfjährigen Studium sich der Theologie widmeten. Sie sollten zu Toleranz und zu Abscheu vor theologischem Hasse erzogen werden. Daneben sollten Chemie, Botanik, Ackerbau, Mathematik und Diplomatik betrieben werden. Um eine wahre und gründliche Kenntniß der katholischen Glaubenslehre zu erwerben, sollten nicht etwa die römisch-katholischen Theologen, sondern die reformkatholischen und jansenistischen Autoren zu Wort kommen. Nicht einmal Ludovico Muratori als moderner Moraltheologe wird erwähnt. Dafür finden wir fast ausschließlich Theologen aus dem Lager der Jansenisten und Gallikaner, die das Primat des Papstes bestritten und deren kirchenhistorische Publikationen und Bibelübersetzungen vom Vatikan auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt worden waren.

    Das Dekret legte besonderen Wert auf Geschichte und Kirchengeschichte. Es schlägt beispielsweise Bossuet vor. Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) war Wortführer des Gallikanismus und hatte den Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes bestritten. Seine Histoire des Variations des Eglises Protestantes. Defense de cette Histoire, Avertissements aux Protestants [...] war 1769 als Geschichte von den Veränderungen der Protestantischen Kirchen in Deutsch publiziert worden. Es enthielt u.a. die Geschichte der Waldenser, Albigenser, Hussitten und Böhmischen Brüder, also das Schicksal der von Rom Ausgerotteten und Verfolgten. Die künftigen Priester sollten die Folgen eines orthodoxen Fundamentalismus kennen lernen. Noch berühmter und weiter verbreitet war Bossuets Einleitung in die Geschichte der Welt und der Religionen, die zwischen 1762 und 1773 von dem deutsch-dänischen Hofprediger Johann Andreas Cramer bei Breitkopf publiziert wurde. Die Studenten konnten darin beispielsweise lesen:

    Bonosius, ein Bischof von Sardica, Jovinianus, ein mayländischer Mönch, und Helvivius, geriethen auf den Einfall, theils aus den Stellen der Schrift, in welchen von Brüdern Jesu Christi geredet wird, theils aus anderen Gründen, die Fortdauer der Jungfrauschaft Mariä nach der Geburt des Erlösers in Zweifel zu ziehen, und die Meynung zu behaupten, daß sie noch andere Kinder gebohren hätte. Aber welch einen Aufstand in der Kirche verursachten sie nicht! Ihre Meynung wurde als der gefährlichste Irrthum betrachtet, ungeachtet die gegenseitige Meynung nicht erweislicher war; sie wurden für Ketzer erklärt, und aus der Gemeinschaft der Kirche verwiesen. Was verrathen aber nicht alle übertriebenen Lobreden der Väter auf das Gelübde des eh losen Lebens für unrichtige Begriffe von der Keuschheit! Denn worinnen besteht diese Tugend? Gewiß nicht in der Verläugnung des natürlichen uns von Gott eingepflanzten Triebes zum Ehestände [...]

    Die rezenten Probleme sind, wie man sieht, schon Jahrhunderte alt und zu Mozarts Lebzeiten intensiv und öffentlich diskutiert worden.

    Bossuet behandelt Aufstand, Vertreibung, Verfolgung bis hin zu Hinrichtungen wegen lächerlicher Formulierungen über Wesen der Person Gottes, seines Sohnes, und sich allmählich zu Lehr- und Glaubenssätzen stabilisierender Ideen über eigentlich Unfassbares und Unbeschreibliches. In sachlich-kritischer Darstellung geht Cramers Werk mit der gesamten Geschichte der christlichen Kirche um. Alle Streitereien der Konzilien und deren zufällige Entscheidungen werden dargestellt. Im josephinischen Staat sollten der Glaube und seine Entstehungsgeschichte kritisch gelehrt und gelernt werden können. Als der Kaiser wenige Jahre später ein entsprechendes Reformdekret in den belgischen Provinzen verkünden ließ, löste er damit den Aufstand der katholischen Niederlande aus.

    Der Name Nikol des kaiserlichen Dekrets für das Seminar in Pavia ist als Pierre Nicole (1625–1695) zu lesen, der in Paris La Logique ou l’Art de penser herausbrachte. Der Titel – Die Logik oder die Kunst des Denkens – erinnert an Kant. Mit Arnold ist vielleicht Gottfried Arnold gemeint, der als Kirchenhistoriker eine Unpartheyische Kirchen- und Ketzer-Historie in zwei Teilen in Frankfurt/Main 1688 und 1699 drucken ließ, vermutlich jedoch Antoine Arnauld (1612–1694), der mit Pierre Nicole 1752 die erwähnte Logik oder die Kunst des Denkens veröffentlichte. Beide waren führende Theologen von Port-Royal. Im Jahr 1774 war Arnaulds Werk Die eigentümlichen Lehrsätze und Maximen der Jesuiten, nach welchen sie dem Christenthume und den Staaten schädlich geworden sind [...] erschienen. Dieser Autor erscheint in einem Pamphlet des Jesuiten Benedikt Stattler, einem Berater des bayerischen Kurfürsten Karl Theodor, als jansenistischer Grosprior Arnaud. Jeder redlich katholische Bischof müsse sich schämen, wenn er sich auf die Lehrsätze eines solchen Ketzers berufen würde⁸. Das Urteil Stattlers kann auf das kaiserliche Dekret übertragen werden. So beurteilte die offizielle Kirche das Wirken der Hofkommission und des Kaisers: als schamlose Blasphemie. In diesen Auseinandersetzungen fiel es der Intelligenz nicht schwer, Position zu beziehen. Europa bewunderte Joseph II.

    Dem Studium der Diplomatik sollte nach kaiserlicher Verfügung Jean Mabillons De re diplomatica von 1681 zugrunde gelegt werden. Mabillon stammte aus der Mauriner-Kongre- gation wie auch der ebenfalls genannte Prudentius Maranus (1683–1707). Die zukünftigen Theologen sollten befähigt werden, Urkunden und andere Quellen zu studieren, um sich eine eigene Meinung zu bilden. Unter den empfohlenen siebzehn Autoren gibt es lediglich einen Jesuiten, der sich als Historiker einen Namen gemacht hatte und der auch die gregorianische Kalenderreform durchgesetzt hatte. Es handelt sich um Denis Petavius SJ, der als Petav (Petau) im Dekret erscheint und als Dionysius Petavius sein Rationarium temporum publiziert hatte. Es wurde mehrmals gedruckt, so in Verona 1741 und 1749 in Venedig. Neben diesen Autoren nennt das Dekret andere führende Jansenisten, so die beiden Jansenius, also Vater und Sohn. Cornelius Jansen hatte mit seinem Augustinus versucht, die christliche Gnadenlehre auf ihren Ursprung zurückzuführen. Ein weiterer berühmter Vertreter war Jean Racine (1639–1699), dessen Abrege de l’histoire de Portroyal, eine Geschichte und Apologie des berühmten Klosters, 1764 in Wien verlegt worden war. Hier in Wien war bereits im Jahre 1744 der jansenistische Katechismus von Montpellier in Deutsch gedruckt worden. Zentrale des Jansenismus war das erwähnte Port-Royal des Champs bei Paris, das vom Klerus, besonders den Jesuiten und später noch von Exjesuiten als teuflisches Ketzernest verschrien wurde.

    Als zweites Zentrum dieser antirömischen Bewegung galt das Erzbistum Utrecht, weil es die Bulle Unigenitus Dei Jesus nicht anerkannte und verfolgten Jansenisten Zuflucht bot. Den Jansenisten wurde von jesuitischer Seite sogar eine Verschwörung zur Zerstörung des gesamten Christentums angelastet. Mit solchen Behauptungen sollte die einsetzende Verfolgung und Zerstörung des antirömischen Zentrums gerechtfertigt werden.

    Die Reihe der im kaiserlichen Dekret empfohlenen Autoren lässt sich fortsetzen: George Bull (1637–1710) anglikanischer Theologe; Louis Sebastienne Tillemont (1637–1698) jansenistischer Historiker; Isaac Louis Sacy (1613–1684) Jansenist, Übersetzer der berühmten Port-Royal-Bibel, die vom Vatikan indiziert wurde; Jacques Joseph Duguet (1649–1733) von Port-Royal, Freund Antoine Arnaulds, ein kritischer Vertreter von Port-Royal; Christian Thomasius (1655–1728) protestantischer Theologe der Frühaufklärung, Streiter gegen Hexenwahn, Reformer des Staats- und Kirchenrechts; Bernhard von Espen (1646–1728) Kanonist, Vertreter des Gallikanismus, später Jansenist. Sein Jus ecclesiasticum universum 1702 und 1709 kam auf den römischen Index. Von katholischen Theologen war lediglich Dom Augustin Calmet (1672–1757) vertreten, dessen biblisches Reallexikon und kritische Bibelkunde unentbehrlich waren.

    Und nun kamen diese von der offiziellen Kirche verfolgten, indizierten und verfemten Autoren als Lehrer einer neuen Priestergeneration zu Wort. Der Kaiser selbst gerierte sich damit in den Augen des römisch-katholischen Klerus als Ketzer.

    Port Royal des Champs war ursprünglich ein Zisterzienserinnenkloster, das von den Nonnen aufgegeben worden war. Ab 1638 wurde es zum Sammelpunkt frommer und gelehrter Einsiedler, unter ihnen Dichter und Wissenschaftler, die eine neue Frömmigkeit begründeten und eine intensive pädagogische Tätigkeit entfalteten. Frauen spielten wiederum eine große Rolle. Nach jahrzehntelangen Kämpfen mit Jesuiten, Päpsten und Ludwig XIV. wurde am 22. Januar 1710 die Zerstörung des Klosters angeordnet und vollzogen, weil seine Insassen die Unterschrift unter ein Formular verweigerten, mit dem die Unfehlbarkeit des Papstes auch in Gewissensfragen akzeptiert werden sollte.

    Offener Streit

    Geht man in dieser Weise dem Josephinismus auf den Grund, erweist er sich in der Tat als radikal-reformatorische Bewegung der Aufklärung. Er war sozusagen die Voraussetzung für alle anderen Reformen, sofern sie jedenfalls auf die Zustimmung und Mitwirkung der Bürger angewiesen waren: Für diese Bewertung ist belanglos, dass sie mehr oder weniger scheiterten. Uns geht es in erster Linie um die Voraussetzungen, unter denen Mozart in Wien lebte und sich äußerte. Die Zauberflöte wird unter solchen Gesichtspunkten nicht nur zu einem Dokument radikaler Aufklärung, sondern zum Abgesang auf diesen grandiosen Entwurf modernen christlichen Denkens.

    Der Kaiser schrieb sogar die Eidesformel der Priester vor. Sie mussten dem Herrscher nunmehr Treue ohne Anrufung der Unbefleckten Empfängnis geloben. Gleichzeitig wurden Wallfahrten verboten, sogar die nach Mariazell. Die Maßnahmen des Kaisers richteten sich offensichtlich gegen die volksfrömmige Marien- und Heiligenverehrung. Man konnte die Maßnahmen nur so verstehen. Auch wird deutlich, dass in der Gestalt der Maria sozusagen ein Fokus der Auseinandersetzungen gesehen wurde. Die Königin der Nacht thronte über allem und allen auf Altären und Mariensäulen; aber man war dabei, sie herunterzuholen. Statt einer Heiligenverehrung – oder wenigstens als Ergänzung dazu – sollte Religion als moralische Erziehung verstanden werden, so wie sie von den Jansenisten vertreten wurde; nicht sinnlose Anbetung oder Unterwerfung, sondern eine Religion mit starken sozialen Aspekten: Wohlfahrt und Wohltätigkeit für ein diesseitiges, befreites Leben.

    Der Klerus musste in dieser Situation um den Verlust von Macht und Einfluss bangen. Der Nuntius bat um eine Audienz beim Kaiser. Der Kaiser lehnte ab, um dem Nuntius die Unannehmlichkeit der von ihm beabsichtigten Verhandlungen ersparen zu wollen, wie er ihm mitteilen ließ. Die Auseinandersetzungen kulminierten in Mozarts Wiener Jahren. Großes Aufsehen erregte die Aufhebung der Klöster, die 1782 einsetzte. Joseph ließ in diesen Jahren rund achthundert Klöster schließen. Der Wiener Erzbischof Migazzi reagierte sofort. Er nahm Ignaz von Borns Pamphlet gegen das Mönchswesen zum Anlass, das Klosterleben zu rechtfertigen, indem er einen offenen Brief an den Kaiser mit den Worten begann:

    Allergnädigster Herr! Ich müßte zu weitläufig seyn, wenn ich Eurer Majestät alle die Lobsprüche anführen wollte, womit erlauchte und fromme Väter der Kirche zu allen Zeiten die Regularorden beehret, und anempfohlen haben [...]. Gregor von Nazianz, wenn er für Mönche redet, giebt ihnen das Zeugniß, dass sie mit dem Eifer ihres Gebethes, und mit dem Verdienste ihrer Tugenden dem Christenvolk zur Ehre, der Kirche zur Grundveste und Säule, dem Glauben zur Krone, und allen zur Stütze des Ganzen sind.

    In diesem Stil geht es noch seitenlang. Das traf bei Joseph II. auf taube Ohren, zumal er als Grund für die Eliminierung der Orden nicht nur ihre soziale Schädlichkeit und Überflüssigkeit, sondern auch ihre unbarmherzige Justiz an eigenen Ordensbrüdern ansah, die manchmal zu lebenslanger Kerkerhaft in Klosterverliesen verurteilt wurden.

    Neben Schreiben des Kaisers an Migazzi und den päpstlichen Nuntius ist ein Handschreiben Josephs an den Papst vom 12. September 1781 interessant:

    Wir halten es für eine unserer wichtigsten Pflichten, nicht nur die Souveränitätsrechte zu erhalten, sondern sie auch geltend zu machen. Unserer Meinung nach zählt zu diesen auch die Collatur kirchlicher Benefizien, die nur dem Fürsten zukommt. [...]

    Daraufhin erschien der Papst zu Ostern 1782 in Wien, ohne Joseph in seinem Kurs beirren zu können. Mit nicht zu übersehender, fein formulierter Ironie schrieb Joseph nach diesem Besuch am 15. August 1782:

    Heiligster Vater! Ich habe die Ehre, umgehend auf den Brief Eurer Heiligkeit zu antworten, in dem Sie über den Verdacht berichten, ich wolle den Kirchen und Geistlichen alle Güter entziehen und sie zu einfachen Pensionsempfängern reduzieren. Den Berichten der Personen, die mir bereits zu der hohen Ehre verholfen haben, Eure Heiligkeit in meiner Residenz zu sehen, habe ich zweifellos auch dieses neue Zeugnis Eurer Freundschaft und Eures apostolischen Eifers zu verdanken. Ich kann nichts anderes sagen – ohne allzu viele Worte zu verlieren –, als dass der Euch zu Ohren gekommene Verdacht, wie Eure Heiligkeit sich ausdrücken, falsch ist. Auch ohne die Texte der Heiligen Schrift oder der Kirchenväter zu untersuchen, die doch immer Interpretationen und Erklärungen unterworfen sind, habe ich eine Stimme in mir; die mir sagt, was ich als Gesetzgeber und Schutzherr der Religion tun oder lassen sollte; und diese Stimme kann mich mit Unterstützung der göttlichen Gnade und mit ehrlichem und ausgeglichenem Charakter; den ich zu haben glaube, niemals in die Irre führen. Wenn Eure Heiligkeit sich von dieser Tatsache überzeugen lassen wollen, wie ich hoffe, so bitte ich Euch, auch meiner aller kindlichsten Zuneigung und Achtung zu vertrauen.¹⁰

    Es waren faszinierende Vorgänge, die in zahlreichen Publikationen kommentiert wurden. Das Haupt der kirchlichen Hierarchie, der Stellvertreter Gottes auf Erden, wurde von allerhöchster weltlicher Stelle attackiert. Selbst innerhalb des Klerus gab es eine breite Zustimmung zu den Josephinischen Reformen, zumal sie auch auf eine Stärkung der Stellung der Bischöfe gegenüber Rom abzielten. Mit dem für alle Bürger deutlich sichtbaren Machtverlust Roms wurde die inhaltliche Kritik in aller Öffentlichkeit ausgetragen. Der aufgeklärte Zeitgenosse hatte Veranlassung genug, sich gegenüber den Mächten neu zu positionieren. Die weltliche Macht steht in diesen Jahren auf der Seite des Fortschritts, und die fortschrittlichen Kräfte stellen sich auf die Seite des Kaisers. Für unsere Darstellung ist es unerheblich, ob es dem Kaiser dabei primär um den Fortschritt an sich oder um Ausweitung seiner Macht im Innern ging. Diese staatliche Macht hatte seit Jahrhunderten im Wesentlichen das realisiert und durchgesetzt, was die Kirche ihr vorgeschrieben hatte. Die Ordensbrüder, besonders Kapuziner und Jesuiten, hatten sich als Ratgeber und Beichtväter der Habsburger generationenlang erfolgreich betätigt, die Regeln der Gesellschaft weitgehend bestimmt und die Gesetzgebung kontrolliert. Die Religionskriege waren in erster Linie immer auch Kämpfe um diese Macht und deren Absicherung. Auf die Unterschiede der Religionen kam es daher an, nicht auf die Gemeinsamkeiten, denn die Unterschiede dienten als Rechtfertigung des Machtanspruchs.

    Die traditionelle Abhängigkeit der Politik vom Wohlwollen des Klerus entsprach keineswegs der Staatsidee des Kaisers. Er musste diese Verbindung aufheben oder in positive Bahnen lenken. Das konnte nur gelingen, wenn er sich der Mitarbeit der Aufklärer bediente. Denn der Kaiser brauchte Rückhalt in der Bevölkerung, die zu kritischer Distanz erzogen werden sollte gegenüber dem, was man seit Jahrhunderten als Umwelt erfahren hatte, ohne es beeinflussen zu können. Zwar war für den Kaiser immer noch die römisch-katholische Kirche die wichtigste Religion; aber für ihn stand ihre staatstragende Funktion im Vordergrund, nicht ihr Dogma, ihr Wunderglaube und ihre Hierarchie, die seinen Intentionen im Wege standen. Den anderen Religionen gewährte er den Schutz des Staates, wenn auch von voller Gleichberechtigung nicht die Rede sein konnte. Weil die Kirche alle anderen „Sekten" verketzert hatte, mussten jüdische Kinder vor Pogromen ihrer christlichen Altersgenossen durch ein Dekret vom 15. Dezember 1782 geschützt werden, denn die jüdischen Knaben sollten nunmehr gleich den Christenkindern in die lateinischen Schulen gehen. Es handelte sich um eine „regulierte" Toleranz. In dieser relativen Toleranz setzte sich Joseph allerdings inhaltlich von dem ab, was die Aufklärung forderte; denn diese konnte gesellschaftliche Wertungen, die auf religiösem Fundamentalismus basierte, nicht akzeptieren. Es versteht sich von selbst, dass unter der kaiserlichen Protektion die inhaltliche Kritik solcher Zustände durch die Protagonisten der Aufklärung wesentlich weiter ging, als es der Kaiser letztlich tolerieren konnte. So ist die negative Durchzeichnung der Symbolfigur Maria in der Zauberflöte selbstverständlich auch eine totale Ablehnung der offiziellen Dogmatik. Sie geht an die Substanz der Kirche, wie beispielsweise die Totengespräche zwischen Madame Pompadour und der Jungfrau Maria von Friedrich II., die allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren.

    Der Glaubenszwang hatte selbstverständlich politische Konsequenzen. Johann Caspar Riesbeck, Gründer der Zürcher Zeitung, sah die Situation um 1780, also vor Erlass der Josephinischen Toleranzpatente, folgendermaßen:

    Ein Hauptfehler der Regierung ist, dass sie durch den Religionszwang den schätzbarem Teil der deutschen Auswanderer, nämlich die Protestanten, von ihren Grenzen abschreckt. Diese haben wenig Reiz, sich in einem Land anzubauen, wo sie oft einige Tagereisen machen müssen, um einen Pfarrer von ihrer Religion zu sehen, wo man ihnen nicht erlaubt, eine Kirche zu bauen, wenn sie auch zu Tausenden beisammen wohnen, und wo ihnen und ihren Kindern der Religionshaß im Wege steht, im Zivildienst ihr Glück zu machen. Alle diese Hindernisse fallen unter der sanften Regierung der Engländer und Holländer weg, und diese ziehen also den bessern Teil der auswandernden Deutschen nach ihren Kolonien. [...]¹¹

    Dieses Zitat aus der Beschreibung Wiens in den Briefen eines reisenden Franzosen über Deutschland, die Riesbeck selbst als Tagebuch verfasste, legen die Probleme offen dar. Die Rückständigkeit in religiösen Fragen wirkte sich in allen Bereichen der Gesellschaft aus; der Kaiser interpretierte sie als Folge fehlender Bildung und Aufklärung. Die aufgeklärte Publizistik stellte diese Fragen in den Mittelpunkt ihrer Argumentation: es ginge ganz wesentlich um die „zeitliche Glückseligkeit". Mit dem Antagonismus Aberglaube – Glückseligkeit griff die Zauberflöte gezielt diese Problematik auf. Dass mit Aberglaube das römisch-katholische Denk- oder Glaubensmodell gemeint war, konnte jeder bei Johann Pezzl und allen anderen Wiener Autoren nachlesen. Darüber gab es in Wien nicht den geringsten Zweifel (siehe Kapitel „Aufklärungspublizistik").

    Reaktion und Umbruch

    Bis zum Beginn der Französischen Revolution im Juli 1789 fokussierten diese Auseinandersetzungen in der Metropole des Reiches. Die Ereignisse in Paris leiteten das Ende der kaiserlichen Bestrebungen ein. Hatte Joseph schon vorher bemerkt, dass sich die Kräfte der Aufklärung, die er gerufen hatte, in Eigendynamik auch zur Kritik des Absolutismus hin entwickelten, so musste er jetzt erkennen, dass aus einer geistigen Auseinandersetzung auch Gewalt entstehen konnte, die nicht mehr zu kontrollieren war. Die

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