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Aufgehobene Erschöpfung: Der Komponist Mauricio Kagel
Aufgehobene Erschöpfung: Der Komponist Mauricio Kagel
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eBook329 Seiten4 Stunden

Aufgehobene Erschöpfung: Der Komponist Mauricio Kagel

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Über dieses E-Book

Der Band versammelt die Beiträge des Symposiums zu Mauricio Kagel (1931-2008) im Rahmen von «Auftakt 2008» der Alten Oper Frankfurt/Main. Ursprünglich war die Teilnahme Kagels am Symposium geplant. Doch zwei Tage davor starb der Komponist am 18. September 2008.

«Dass Mauricio Kagel mit seiner multiästhetischen Begabung, seinen Eskapismen, Grenzüberschreitungen und Tabubrüchen zu den künstlerischen Jahrhundertgestalten rechnet, dürfte nicht zu bestreiten sein», schreibt Hans-Klaus Jungheinrich im Vorwort. Die Beiträge des Bandes bieten einen breitgefächerten Blick auf Kagels Schaffen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSchott Music
Erscheinungsdatum2. März 2015
ISBN9783795786489
Aufgehobene Erschöpfung: Der Komponist Mauricio Kagel

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    Buchvorschau

    Aufgehobene Erschöpfung - Schott Music

    Aufgehobene Erschöpfung

    Hans-Klaus Jungheinrich

    «Sehr geehrte Damen und Herren. Meine sehr verehrten Damen und Herren. Wenn ich Sie heute aufmerksam machen möchte, dann ist aber klar, dass auch hier wiederum das Urteil die Flut der speziellen Ausdruckswerte, in denen eine Bewertungsidee sich kundgibt, eindämmen und ordnen muss, wenn wir nicht völlig darin versink …» Ende des Zitats. Es handelt sich natürlich um den Eingangstext des Sprechers aus Sur scène von 1959/60, einem der Initiationswerke des «Instrumentalen Theaters» von Mauricio Kagel. Ich gestatte mir einen weiteren spielerischen Coup, der zum forminhaltlichen Ernstfall überleitet und ihn generiert. 1991 erbat die Wochenzeitung Die Zeit von einer Reihe prominenter Köpfe die Nennung ihrer zehn Lieblingswörter; Kagel nannte elf, und zwar: deuten, empfinden, leben, Frieden, Zeit, pardon, Radio, herzlich, Musik, quer, Kagel. Ich will nun versuchen, diese Wörter – im vollen Bewusstsein, dass sie nichts Sakrosanktes haben und dass Kagel heute vielleicht ganz andere Lieblingswörter nennen würde – als Leitwörter für meinen Vortrag zu benutzen und seine fragmenthaften Abschnitte mit ihnen zu gliedern, wobei das Grundmotiv der im dreifach Hegel’schen Sinne «aufgehobenen Erschöpfung» besondere Aufmerksamkeit erfahren soll.

    Deuten

    Ein christlich-jüdischer Kulturhintergrund sorgt dafür, Realität nicht bloß hinnehmend zu bearbeiten, sondern das je Erscheinende zu hinterfragen, es um- und umzuwenden, kritisch zu untersuchen, deutend auf Bedeutung hin abzutasten. Die jüdisch-christliche Geschichte geht durch das Fegefeuer der Aufklärung hindurch, vielleicht ein unabgeschlossenes Projekt, und so haften Deutungsaktivität, Deutungskompetenz nicht mehr an engimatischen und illusionshaften Schicksalszusammenhängen zwischen Himmelskörpern und tierischen Eingeweidestrukturen dort, Menschen hier. Die erforschten, «ausgelegten» Heiligen Schriften und Kunstwerke treffen auf das Licht der Vernunft und sollen in solch gleißender Helle bestehen. Mauricio Kagel, einer russisch-jüdischen Einwandererfamilie in Buenos Aires entstammend, ist ein Mann der Schrift und der Sprache ebenso wie ein Musiker. In seinen Adern, sagt er, fließe kein Blut, sondern Druckerschwärze, und schon sein Vater, Buchdrucker von Beruf, habe immer gelesen, selbst unter der Dusche – diese Anekdote übrigens scheint ein striktes Beispiel für eine von erlogener Erinnerung genau getroffene Wahrheit. Entscheidender als zahlreiche Musikerbekanntschaften – und Buenos Aires war während und nach dem letzten Weltkrieg voll von europäischen Musikern – war die Begegnung mit dem enzyklopädischen Sprach-und Gedankenkünstler Jorge Luis Borges, dessen Ruhm sich erst in den 1960er Jahren allmählich auch in Europa verbreitete. Ähnlich wie Borges, man könnte auch an den holländischen Vexierbildzeichner Escher denken, entwickelte Kagel eine Kunst von labyrinthischer Logik, erfüllt von den Paradoxien systematischer Unordnung. Da Kagel vom seriellen Denken geprägt ist, arbeitet er im Zuge der Kompositionsvorbereitung mit allerlei prädeterminierendem Zahlen- und Skizzenmaterial, dessen Zusammenhang mit der fertigen Partitur oft nur noch schwer zu erkennen ist. Das heißt die kompositorische Fantasie bedarf der rationellen Haltegriffe oder Schwimmflügel beim Eintauchen in das entstehende Werk, doch diese Hilfsmittel können auch wieder fallen gelassen werden, wenn sich Regellosigkeit und Unordnung als die reizvollere, schönere ästhetische Alternative erweisen. Die Pedanterie der minuziös abgearbeiteten Karteikärtchen erzeugt den Anschein einer Borges’schen Komplexität und Beziehungsdichte; in der Freiheit der das scheinbar Vorentschiedene wegwischenden Geste zeigt sich jedoch Kagels anarchischer Impetus, der sich auch vor dem Chaos nicht fürchtet. Man kann das als «dialektisches» Komponieren bezeichnen, was Kagel auch selbst immer wieder gerne tat. Da die künstlerischen Rätselgestalten der Kagel’schen Imagination sich zumeist ebenso an Sprache, Theater und Musik knüpfen, bedürfen sie einer besonderen Deutung, vielleicht einer Deutung in Permanenz, jedenfalls einer erklärenden «Übersetzung», die das Beobachtete, Erkannte, Rezipierte nicht in einem starren Rahmen festhält, sondern dessen Fluidität bewahrt. Deutung also als eine Kunst der je nach Anlass und Kontext wechselnden Beleuchtung des Gehörten und des Hörens, des Wahrgenommenen und der Wahrnehmung.

    Empfinden und leben

    Beim Avantgardeforum Darmstadt war, zumindest bis zum frappierenden Auftritt von John Cage im Jahre 1958, so etwas wie eine Ästhetik des gepanzerten Konstruktivismus tonangebend. Im von der gestrengen brüderlichen Trias Stockhausen, Boulez und Nono vorgegebenen Diskursrahmen war das Wort «Ausdruck» damals ebenso verpönt wie das Attribut «traditionell», wobei mit Letzterem ein beliebiges Stück von den Eingeweihten bereits im ersten Takt identifiziert und als untauglich verworfen werden konnte. Die mentale Überanspannung führte regelmäßig dazu, dass man ab der zweiten Ferienkurswoche aus den sommerlich geöffneten Fenstern der Übungsräume immer mehr Chopin vernahm. Die Adepten vermochten also nicht pausenlos fort- und fortzuschreiten; sie hatten offensichtlich kompensatorische Bedürfnisse zu kurz gekommener, ja erstickter vitaler Organe und Empfindsamkeiten. Man brauchte dabei noch nicht unbedingt erste Erschöpfungserscheinungen der seriellen Schule zu konstatieren; eher handelte sich’s um wachsende Diskrepanzen des Mitkommens. Freilich zeigte sich merklich auch ein Angekommensein des Serialismus, eine Arriviertheit, also Stillstand. In dieser Situation war es überaus heilsam und anregend, als Ende der fünfziger Jahre zwei ingeniöse Musiker von weither die Darmstädter Szene neu und tonangebend belebten: Mauricio Kagel und György Ligeti. Dies war vorläufig der letzte produktive Schub der Darmstädter Ferienkurse gewesen; das ebenfalls bemerkenswerte Auftreten der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus und Rudolf Stephan leitete danach in Darmstadt die Phase einer Selbsthistorisierung ein. Selbstverständlich offerierte Kagel in Darmstadt keine neue Empfindungsästhetik und keinen kruden künstlerischen Vitalismus à la Polen. Noch ein Jahrzehnt musste vergehen, bis dergleichen von dem 21 Jahre jüngeren Wolfgang Rihm auch in Darmstadt exerziert werden konnte: wiedererweckte Ausdrucks-Spontaneität, Monumentalästhetik, ja Gorillagestik. Vom Temperament her war Kagel von jeher eher ein Gegentyp zu Rihm: bedachtsamer Rechercheur, Jäger und Sammler, katalogisierender Erforscher von Wirklichkeitsaspekten. Ein Komponist wie Rihm wäre viel zu zappelig, um ein Stück zu schreiben, das Kagels Radiokomposition Erratische Blöcke, 2008 mit dem Südwestrundfunk und dem Hessischen Rundfunk produziert, ähnelte. Kagel tat hier etwas, was man eigentlich schon lange von ihm hätte erwarten können: Er realisierte ein umfangreiches, fünfzigminütiges Stück mit Handygesprächen und -geräuschen. In aller Ruhe präsentierte er so etwas wie einen repräsentativen Querschnitt durch die Alltäglichkeit und Banalität der Mobiltelefonanwendung. Passagenweise wirkt das Stück wie eine Reportage aus einem notorisch sich wichtig machenden Bereich des privaten und öffentlichen Lebens. Doch ist Kagel keineswegs ein ganz neutraler, sich unempfindlich gerierender Beobachter. An einigen Stellen scheint nämlich so etwas wie Empathie durchzubrechen und eine sich verdichtende Dramatik, vor allem, wenn eine Todesnachricht telefonisch übermittelt wird und die informierte Person in großer Verstörung Kettenanrufe involviert, um diese Information im Familien- und Freundeskreis weiterzuverbreiten. Gegen Ende gibt Kagel der Verführung nach, sprachlos eine infernalische Polyphonie, Multiphonie, Heterophonie der durcheinander klingelnden, zirpenden, piepsenden, pfeifenden, säuselnden und schrillenden Handysignale zusammenzubacken, gleichsam ein in der leisen Impertinenz seiner Geschmacklosigkeit provozierendes Durcheinander akustischer Gartenzwerge.

    Frieden

    Als ein weiteres Element mitempfindender, mitleidender Realitätsbeobachtung mag man in den Erratischen Blöcken die Stelle deuten, wo sich eine ältere Frau ihrer Armut und der steigenden Preise inne wird und dementsprechend ihren Einkaufszettel zusammenstreichen muss. Im Jahr 2008 markiert das eine politische Aussage, und zweifellos ist Kagel niemals ein politisch unempfindsamer oder uninteressierter Künstler gewesen. Einmal thematisierte er skizzenhaft die Ursprünge seiner politischen Ansichten und Idiosynkrasien, und zwar in dem Text mit dem Heine paraphrasierenden Titel Denke ich an Argentinien in der Nacht, der im Dezember 1967 entstand, sozusagen im Vorfeld eines politisch besonderen Jahres. Kagel kam von einem Kontinent und aus einem Land, wo periodisch immer wieder Diktatur und Willkür herrschten, bestenfalls, etwa in den linken Phasen des Peronismus, ein gespanntes Gleichgewicht zwischen politischem Populismus und gewerkschaftlichdemokratischen Bewegungen, wobei in Argentinien bis heute zumindest im öffentlichen Diskurs eine gewisse Distanz zu den USA gepflegt wird. Kagel erlebte in Deutschland eine Welt des – wenn auch nicht unbedrohten – Friedens, der Freiheit, des Wohlstandes und, nicht zuletzt, der ansehnlichen Kunstförderung. Anders als die 68er-Generation hatte er die Bedrückungen der Adenauer-Ära, die deutsche Heuchelei und Vergangenheitsbewältigungsscheu der Nachkriegszeit, nicht durchgemacht, und so mag es sein, dass ihm die Aktivitäten der Studentenbewegung ziemlich absurd vorkamen. Auch teilte Kagel wohl kaum den Adorno’schen Generalverdacht gegen den «Verblendungszusammenhang» des kapitalistischen Systems; für Adorno war noch die damals erreichte Vollbeschäftigung ein schlagendes Indiz der entmündigten, in den Produktionsapparat im schlechten Sinne «integrierten» Massen. Wir müssten natürlich eher umgekehrt argumentieren: Wo sind wir heute, nach dreieinhalb Jahrzehnten des international grassierenden Neoliberalismus, hingekommen, dass Vollbeschäftigung, in welcher ausbeuterischen und entwürdigenden Form auch immer, inzwischen als ein allerhöchstes Ziel der Staaten und des öffentlichen Lebens erscheint? Kagels politische Linksliberalität entbehrte nicht der Schärfe und der Ironie, was vielleicht auch auf eine Herkunft aus jahrhundertelangen Unterdrückungszusammenhängen schließen lässt und zudem zu einem jüdischen Erbe gehörte, das Kagel nicht allzu oft ausdrücklich thematisierte, wenngleich es latent immer präsent ist. Ein politischer Kagel zeigt sich unmittelbar etwa in der Liederoper Aus Deutschland und in Der Tribun (hier mit grimmigem Humor unterfüttert), mittelbar in vielen seiner Konzeptionen. Zweifellos politisch parabelhaft sind die orchestralen 10 Märsche, um den Sieg zu verfehlen, wobei schon der zauberhafte Titel so etwas wie einen grandios vertrottelten Schwejk-Pazifismus signalisiert. In ihrer artifiziell dürftigen, tatterigen Klanggestalt sind Kagels Märsche das pure Gegenteil zum victorianisch-edwardianischen Triumphalismus der Pomp and Circumstance-Marches von Elgar und weit mehr in der schäbig amateurhaften Sphäre der Karl Valentin’schen Subversion zuhause.

    Pardon

    Da sich Kagel um und nach 1968 nicht in Partei ergreifenden linken Bekenntnissen äußerte wie zum Beispiel seine Kollegen Hans Werner Henze, Luigi Nono, Nicolaus A. Huber oder Mathias Spahlinger, erregte er vielfach den Unwillen engagierter linker oder linksliberaler Musikkommentatoren und -kritiker. Kagel, im Gegensatz zu einem tatsächlich massiven ideologischen Nebelwerfer wie Stockhausen, wehrte sich und überführte die Gegner sachlicher Unrichtigkeiten, womit er auch die Glaubwürdigkeit ihrer Haltung zu erschüttern versuchte. Nachdem viel Zeit seitdem vergangen und die Musikschriftstellerei vielleicht nicht besser geworden ist, aber unaufgeregter, könnte eventuell eine Atmosphäre der Absolution erreicht sein.

    Zeit

    Über das Phänomen Zeit denkt Kagel immerzu nach, auch im Sinne der Bemerkung von Borges, dass nach seiner Idee von Zeit das Ich sich beständig glaubt, während alles drumherum sich ändert. Der innerste Antrieb, gleichsam der Kern des Kagel’schen Komponierens, ist also immergleich: Neugier. Sie richtete sich, allzu summarisch gesagt, zunächst auf die Erschließung ungebräuchlicher Klangerzeuger, etwa in Acustica, Der Schall, oder auf die musikpädagogische Arbeit mit Kindern und mit für Kinder entwickelten Instrumenten. Neugier erweckte auch der kompositorische Umgang mit nichtklingendem Material, was sich in der Tanzetüde Pas de cinq niederschlug und, mit besonders wunderlichem Rigorismus, in der choreografierten Dekoration der Himmelsmechanik. Selbstverständlich ist auch Kagels Filmarbeit dazuzurechnen. Nachdem die so genannten «traditionellen» Klangt ypen aus der seriellen Musik mit eiserner Konsequenz verbannt worden waren, tat sich um 1960, sicher auch beeinflusst von Cage, eine Abstinenz von Klanglichem überhaupt als konkrete Utopie des Komponierens auf; Dieter Schnebel fand schließlich, gewissermaßen als realisierte Radikalformel, den Begriff oder gar das Genre der «Denkbaren Musik». Versteht sich, dass auf diesem Gebiet die Ausbeute nicht unerschöpflich und, mit Boulez zu reden, die Grenze des Fruchtlandes bald erreicht war. Mauricio Kagel, der nie Freund eines atonal-seriellen Konversationstons war, vielleicht deshalb, weil er ihn mit dem historischen «Expressionismus» des Schönberg-Kreises identifizierte, wich dem schulmäßigen Serialismus von Anfang an aus durch die Favorisierung von Geräuschentdeckungen und formale Prozeduren, die es mit sich brachten, dass Kagel gleichsam mit jedem Werk auch ein neues Genre «erfand». Indes musste es früher oder später, analog zur seriellen Katerstimmung, auch bei Kagel eine Erschöpfung des erfinderisch durchforsteten Klangund Geräuschmaterials geben. Es lag nah, den Entdeckungsimpetus nun anders auszurichten und mit gleichem Forscherelan gewissermaßen ins Innere der Musiktradition vorzustoßen. Womöglich ist es das, was Kagel mit der Formel «Wandel durch Annäherung» sagen will. Die unerschöpfliche kreative Fantasie wendet sich von dem erschöpften Material ab, doch nicht in einer restaurativen Bewegung, sondern im Bewahren und Transzendieren (das sind zwei der drei Bedeutungen der Hegel’schen «Aufhebung») der ursprünglichen Intention, der unstillbaren Neugier, die nun etwa auf das herkömmliche Orchester, den Chor oder «normale» Musikinstrumente appliziert wird. Historisch gesehen ist Kagel also nur bedingt der Postmoderne zuzurechnen, indem er, anders als Hans-Jürgen von Bose, Alfred Schnittke oder auch Hans Werner Henze, kein Nachlassen kompositionstechnischer nouveauté erkennen lässt, keine Moderne mit traditionellen Versatzstücken oder eine multistilistische Poetik, sondern nur eine größere Beweglichkeit der Herangehensweise an die anstehenden kompositorischen Probleme.

    Musik

    Frage an den Komponisten: Herr Kagel, ist das, was Sie da machen, noch Musik? Antwort: Erklären Sie mir bitte, was Musik ist!

    Herzlich quer

    Mauricio Kagel schreibt Musik über Musik, reflektiert in seinen Kompositionen über Musik, über den Musikbetrieb, über musikalische Traditionen und Rituale und über andere Komponisten. Sein Beethoven-Film Ludwig van wurde 1970 zu Recht als die intelligente und durchaus respektvolle Dekonstruktion eines Kulturdenkmals verstanden. Ähnlich mit liebender Ironie ging Kagel in seiner Sankt-Bach-Passion vor. Kagel ist aber ebenso auch interessiert an der Art und Weise, wie seine Stücke von Hörern aufgenommen und «verstanden» werden. Es ist wohl nicht verfehlt, seiner Musik auch Elemente des Unterhaltsamen zumessen zu wollen. Mit dem Flaschenpost-Theorem Adornos hat Kagel nicht allzu viel im Sinn; näher liegt ihm die pragmatische Kommunikabilität des «herrschaftsfreien Diskurses» von Habermas. Kagel hat gelegentlich, etwa in den Instrumentalfiguren der Bühnenwerke Der mündliche Verrat und Présentation, seine musikalische Faktur so vereinfacht, dass sie fast mit den Stereotypen der Minimal music verwechselbar wird. Im Gegensatz zu Strategien der autonomen Musik seit dem Wiener Klassizismus fördert Kagel außermusikalische Assoziationen beim Hören, was besonders nahe liegt durch die vielfachen literarischen Inspirationen seiner Musik, so auch bei dem Vokalstück Interview avec D., also einem imaginären Gespräch mit Debussy über seinen Monsieur Croche, oder das Schwarze Madrigal mit seinem Verweis auf afrikanische Namen in Anlehnung an den afro-karibischen Dichter Nicolas Guillén. Humor ist ein Schlüsselwort für Kagels Poetik, von der skurrilen Tantz-Schul über das Divertimento? von 2006 bis hin zum ins Makabre reichenden Tribun. Oft genug bleibt das aufkommende Gelächter im Halse stecken, so bei der womöglich blanke Panik evozierenden Entführung im Konzertsaal, einer Etüde haarscharf entlang der Grenze zur terroristischen Realität, sozusagen in der Nachfolge eines berühmten, die Invasion von Außerirdischen suggerierenden Radiohörspiels von Orson Welles. Gleichsam als einen Grenz-Attraktor reklamiert Kagel für sich auch den blasphemischen Handstreich, so bei der Kammerensemblekomposition Finale von 1981, wo er gegen Ende dem Dirigenten, in den primären Aufführungen mithin sich selbst, zusammenzubrechen und leblos liegen zu bleiben vorschreibt – eine Tabuverletzung, die bei einer Wiedergabe in Helsinki denn auch eilfertige Hilfestellung aus der nichtfiktionalen Welt provozierte. Kagel ist also nicht nur der Rezeptionsästhetiker, der sein Publikum freundlichherzlich bei der Hand nimmt, sondern er hantiert auch mit überraschenden Querschlägern, mit surrealen Plötzlichkeiten, mit gewaltigen und oft genug auch ausnüchternden Watschen an die Adresse des Feinsinns.

    Radio

    Jeder weiß, dass Mauricio Kagel der wichtigste Exponent des «instrumentalen Theaters» wurde und dass er sich auf diesem Terrain viel ausdauernder betätigte als Cage, Ligeti oder selbst Stockhausen und Schnebel. Man kann sogar die These aufstellen, dass Kagel mehr noch als ein literarischer, literarisierender Komponist, gleichsam musikalisches Pendant zu dem «literarischen» Malersurrealisten René Magritte, ein Theatraliker ist. Alle seine Stücke enthalten performative Tendenzen, und oft sind diese geradezu beherrschend wie in dem ersten Streichquartett von 1964, das genau das vorführt, was in der üblichen Streichquartettpraxis verdrängt und verschwiegen wird: indem vier einander womöglich unsympathische Instrumentalisten sich dazu angehalten fühlen, einem Publikum nicht stillvergnügte Eintracht und verständige Werkhingabe vorzuspiegeln, sondern Gleichgültigkeit für einander und eigenbrötlerisches Tun praktizieren. Auf der körpersprachlichen Ebene wirkt Kagels Stück enorm dramatisiert, aber die Klänge verbleiben in einer Art diskreter Verstörtheit. Gerade das Umgekehrte geschieht in dem ebenfalls aus jener Zeit stammenden Streichquartett von Michael von Biel, wo die Quartettisten, äußerlich in gewohnt diszipliniertem Miteinandergehen, berserkerhafte Destruktionen des kammermusikalischen Schönklangs bewerkstelligen. Theatralische Wirkung hat auch noch Kagels Chorepisode Quasi niente von 2007, wenn die Sänger sich beim Erscheinen des Dirigenten ostentativ von diesem und dem Publikum abwenden und mit geschlossenen Mündern die Sprachmelodien ihrer Personalien ins Off murmeln. Die Omnipräsenz des Theatralikers Kagel auch noch im späteren Komponisten vermeintlich absoluter Musik wurde, vor allem in einem profunden Siegener Symposium im vergangenen Jahr, als Weg vom «instrumentalen» zum «imaginären» Theater nachgezeichnet.

    Zur Distinktion des «imaginären Theaters» will es gut passen, dass Kagel in der Galerie seiner Lieblingswörter nicht «Theater» nennt und auch nicht «Film» oder «Kino», und «Fernsehen» schon gar nicht, wohl aber: «Radio». Vielleicht ist das Generationssache und von den heute Jüngeren, die in ihrer Kindheit nicht mehr das Radio Kagels oder Woody Allens kennen lernten, überhaupt nicht nachzuvollziehen. Auch für mich war das Radio – ein Radio, was es heute schon lange nicht mehr gibt – einst eine enorm kulturierende und sozialisierende Instanz, zugleich eine unerschöpfliche imaginäre Bühne mit vielfältig wechselnden Akteuren, Darbietungsformen und -inhalten. Man braucht sich nur zu erinnern an die virtuose Eloquenz der auditiven Fußballreportagen noch aus den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Oder an die ein- oder mehrstündigen Sendepausen, in denen sich erst die erwartungsvolle Neugier auf die Wiederkunft des gesprochenen oder des musikalischen Programms aufbauen konnte. Mauricio Kagels Radioerinnerungen verbinden sich überdies mit seiner Großmutter, die mit den Rundfunksprechern in Buenos Aires zu dialogisieren pflegte, jene auf Porteño-Spanisch aus dem Apparat, sie vor dem Empfänger sitzend auf Russisch. Dass Kagel ein vom Radio herkommender Theatraliker und kein – um es in vielleicht etwas verschrobener Klarheit auszudrücken – Theater-Theatraliker ist, beweist sein Festhalten an der ausgearbeiteten Textur, einer stringenten Komposition als unaufgebbarer – zünftig gesagt – «Sendevorlage». So wurde Kagel einerseits zu einem Vorläufer des «postdramatischen Theaters», das, sehr zum Missbehagen konservativer Theaterfreunde, den großen Dramenwortlauten nur noch schwache Reverenz erweist und statt Hamlet das durch eine ästhetische Mischmaschine geschickte Hamletmaterial spielt. Die Gleichberechtigung aller möglichen Theateringredienzien würde Kagel umstandslos goutieren, wenn sie das Ergebnis sorgfältig aufeinander abgestimmter Partitur-Parameter wäre, aber nicht als quasi improvisatorische Maßnahme eines Theatermachers. Kagel unterstützt nur einen begrenzten Abbau der ästhetischen Hierarchien und behält gerne die Kontrolle über seine kompositorischen Hervorbringungen.

    Kagel

    Hier ging es sowieso nie um etwas anderes als den Künstler Mauricio Kagel. Kagels Musik, Kagels Künstlerschaft überhaupt, hat etwas Proteushaftes, was natürlich an Strawinsky denken lässt, den Kagel mit dem Stück Fürst Igor, Strawinsky von 1982 ehrte. An Strawinsky klingt vieles zumal beim späteren Kagel an, beispielsweise der Ragtime à deux von 1997 oder einiges aus dem Rrrrr-Zyklus, vor allem die Jazzstücke. Dabei geht Kagel, eine kompositionshistorische Schraubendrehung weiter als Strawinsky, den umgekehrten Weg von der Parodie der Atonalität zur parodistischen «seriellen Tonalität». Es war wahrscheinlich ästhetische Kurzsichtigkeit, die in der Wiederkehr einer nichtfunktionalen, einer künstlichen, elaborierten und uneigentlichen «Tonalität» ein eindeutiges Regressionsphänomen erblickte. Eher ist, mit einigem Bedauern und mit großer Bewunderung für die exponierten modernen Komponisten des 20. Jahrhunderts von Schönberg und Varèse bis zu Lachenmann und Ferneyhough, die Atonalität als eine großartige Sackgasse der Kompositionsgeschichte zu betrachten. Kagels Praxis vollzog sich mitten in einer flagranten Phase der materialästhetischen «Erschöpfung». Sie betraf um 1960 die Vorgehensweisen und die ästhetischen Entdeckungen der Atonalität und weckte das Problem einer neu zu formulierenden musikalischen Sprachähnlichkeit, mithin auch den Versuch diskursiver Verständigungsbrücken zu einem nicht nur aus eingeschworenen Anhängern bestehenden Publikum. Ernüchternder gesagt: Es ging ums Weitermachen auch nach dem Ende «letzter» ästhetischer Gefechte. Kagel hat wie kaum ein anderer das Verdienst, nicht in materialästhetischer Erstarrung verblieben oder in einen vom Weihrauch der Irrationalität geschwängerten Olymp aufgestiegen zu sein, sondern pragmatisch vom «erschöpften» Material sich abgewendet, aber die Methoden einer rationalen und rationellen Materialbehandlung, wie sie der Serialismus lehrte, aufbewahrt, weitergeführt und vervollkommnet zu haben. Doch sollte man das Kagelbild auch nicht allzu sehr fixieren oder sistieren. Kagel hat immer etwas von einem Spieler, also Taschenspieler. Eines der «windigsten» Werke seines Œuvres ist sicherlich das Stück Eine Brise für 111 Radfahrer, eine «flüchtige Aktion», die auch als «musikalisch angereichertes Sportereignis im Freien» annonciert ist; vielleicht handelt es sich da um eine etwas unmartialischere Konkurrenz zum Stockhausen’schen Helikopter-Streichquartett aus dem LICHT-Zyklus. Kagel ist alles andere als ein akademisches Naturell, nicht einmal ein so recht seriöses. Seine Kunst sagt niemals: So ist es. Sie sagt nicht einmal: Es scheint nicht so, wie es zu sein scheint. Alles bleibt in Bewegung, dialektisch, paradoxal. Kagel realisiert seine Kunst, im Sinne Adornos und Derridas, als das letztlich Unverfügbare (also auch der Analyse sich nicht ganz Erschließende), als das Nicht-zu-Fassende, Nichtidentische, als multiple Gestalt einer nicht zur Ruhe kommenden dekonstruktiven Energie.

    Woher – wohin?

    Mauricio Kagel zwischen «Palimpsestos» in Buenos Aires und «Anagrama» in Köln (1950-1957)

    Jürg Stenzl

    1

    Am 30. September 1957 kam der 26-jährige Mauricio Kagel mit seiner Ehefrau, der Bildhauerin Ursula Burghardt, mit einem einjährigen DAAD-Stipendium aus Buenos Aires nach Deutschland. – Ein einfacher, unproblematischer Satz in jeder Biografie des Komponisten. Doch dieser Satz verbirgt ein ganzes Bündel nicht gestellter Fragen: Wie war die argentinische Welt, wie die Metropole Buenos Aires beschaffen, in der Kagel aufgewachsen ist? Dass ihr nach Europa ausgerichtetes kulturelles Leben während und nach dem Weltkrieg ungemein reich war, ist bekannt und lässt sich beispielsweise in den Erinnerungen Unbedingt Musik (Frankfurt am Main 2005) des um vier Jahre älteren Michael Gielen nachlesen. Schier unübersehbar ist die Fülle

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