Im Laufe der Zeit: Kontinuität und Veränderung bei Hans Werner Henze
Von Schott Music
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Dieser Band ist eine hervorragende Erweiterung aller Bibliotheken und Sammlungen zur zeitgenössischen Musik.
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Buchvorschau
Im Laufe der Zeit - Schott Music
Bildnachweis
Einleitung
Hans-Klaus Jungheinrich
Im Laufe der Zeit geschieht allerlei und es ändert sich manches. Die Zeit läuft, wie sie will, und lässt sich nicht zuverlässig voraussagen und verplanen. Der Titel unseres Symposiums greift auf eine alte, schlichte und weise Redensart zurück, ist aber auch Reverenz vor einem schönen Film von Wim Wenders.
Die Idee zu diesem Symposium stammt von Hans Werner Henze selbst. Wir trafen uns im Mai 2000 anlässlich der Münchener Biennale in seinem Zimmer im Hotel «Vier Jahreszeiten» und sprachen den ganzen Nachmittag und Abend miteinander, schließlich bestellte Henze ein Abendessen aufs Zimmer, das ich hungrig verschlang, während er seine Portion kaum anrührte und bloß ein paar Gläser Wein trank. Über das Symposiumsprojekt war schnell zu Ende gesprochen, Henze überließ mir die Skizzierung der Themen und die Wahl der Referenten, bat nur darum, die Hamburger Henze-Experten um Peter Petersen nicht heranzuziehen, weil er diese mit einer separaten Parallel-Aktivität beschäftigt wusste. Der größte Teil des Treffens verging damit, dass mir Henze ausführlich und mit großem Behagen den Inhalt seiner neuen Oper L’Upupa und der Triumph der Sohnesliebe erzählte. Die Farbigkeit dieser Erzählung imaginierte eine Dimension, die mir zwar bei dieser Gelegenheit noch nicht evident werden konnte, aber doch erahnbar: die Musikalisierung dieser Geschichte, ihre Klangsphäre, in und mit der Henze unmittelbar lebte, was der Mitteilung in Worten Lust und Dringlichkeit gab, fast so, als sei sie vom weiter bohrenden Komponierimpuls selbst angestachelt.
Einige Tage später sprach ich mit Wolfgang Hocks, dem Chef der Alten Oper Frankfurt, der dem Symposiumsvorhaben sofort zustimmte und es in die sowieso zur Feier des 75. Geburtstags von Hans Werner Henze anberaumte Veranstaltungsreihe der Septembertage 2001 integrierte.
Natürlich wollen wir hier nicht den Weihrauchkessel schwingen. Henze ist eine komplexe, mannigfache Widersprüche verkörpernde, auch zu Widersprüchen herausfordernde Erscheinung. Ein aus unterschiedlicher Perspektive gewiss kontrovers zu beurteilender Disskussionspunkt wird Henzes Verhältnis zur Avantgarde sein; wir werden darüber mehr erfahren namentlich in den Beiträgen von Reinhard Kager und Jürg Stenzl. Ein für Henze zumindest eine Zeitlang zentrales Motiv war das der «politischen Ästhetik». Gerhard R. Koch wird es ausdrücklich beleuchten und es klingt auch bei Jan Müller-Wieland an, dessen Vortragsformulierung nicht von ungefähr Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss assoziiert. Henze ist vielleicht auch deshalb ein Zeitgemäßer, weil er seine Produktivität gewissermaßen weltkulturell verortet, also nicht mehr als Exponent einer Nationalkultur, vielleicht nicht einmal ganz mehr als Eurozentrist anzusehen ist – eine Erwägung, die Max Nyffeler vertiefen wird. Siegfried Mauser setzt seinen Akzent auf das Stichwort «musica impura» und damit auf einen Aspekt, der gewissermaßen als Henzes Avantgarde-Überholung und seine avant la lettre «postmoderne» Haltung gelten könnte. Postmoderne könnte schließlich auch für das Podiumsgespräch einiger Erörterung wert sein, Postmoderne, das Reich der Freiheit, das die Normen, Zwänge und Abschaffungen der Moderne im «Anything goes» aufhebt. Postmoderne freilich auch als eine fahle und sinnleere Jetztzeit, in der das Komponieren überhaupt obsolet und überflüssig zu werden scheint. Jedenfalls von solchen Anfechtungen der Dreißigjährigen ist Henze wohl nicht berührt; auch er gehört noch zu den Künstlern eines im gesamtgesellschaftlichen Maßstab «goldenen Zeitalters». Henze, ein Letzter unter den Großkomponisten? Im Laufe der Zeit wird sich klären, ob nach uns nichts Nennenswertes mehr kommt.
Der einsame Rebell
Hans Werner Henze und die Darmstädter Avantgarde
Reinhard Kager
«Er war sichtlich am stärksten an der Prozedur der Fortnerschen Form- und Klangzergliederungen beteiligt, wirkte mit seinen Fragen und Einwürfen sehr apodiktisch und über seine Jahre hinaus sicher; seine rasche Intelligenz verführte ihn dazu, im Gespräch wie in der Analyse mit den Dingen etwas obenhin fertigzuwerden. Zugleich fiel bei ihm, mehr noch als bei der übrigen Jugend, die in Darmstadt mitwirkte, ein wahrer Heißhunger nach Kenntnis und Erkenntnis auf, eine ungestüme Neugier auf das Vertrautwerden mit Kunst, und namentlich mit solcher der entwickelten, raffinierten, unkonventionellen und nicht uniformierten Art. Henze verkörperte auch hier am eindringlichsten und mit dem Maximum an Eingebung seine Generation, die sich schon in ihrer Knabenzeit gegen den kulturpolitischen Zwang eines totalitären Regimes innerlich aufgelehnt hatte und die nun Tore, Schleusen und Ventile geöffnet sah.»¹
Was Hans Heinz Stuckenschmidt 1958 in seinem Essay über Hans Werner Henze schrieb, umreißt nicht nur in präzisen Zügen einige Charaktermerkmale des Komponisten, sondern rührt an einem ganz wesentlichen biografischen Punkt: Henzes früh erfolgte Konfrontation mit dem Totalitarismus, der in Gestalt des nationalsozialistischen Vaters gleichsam bis ins innerste familiäre Gefüge drang, war nicht nur prägend für sein künftiges politisches Engagement, sondern auch für sein kompositorisches Denken. Es entbehrt nicht einer merkwürdigen Ironie, dass Henzes nicht minder früh erfolgte Begegnung mit der Avantgarde, die Stuckenschmidt aufgrund seiner Beobachtungen in einem Analysekurs Wolfgang Fortners bei den Darmstädter Ferienkursen des Jahres 1947 beschreibt, durch die furchtbaren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus ebenso anregend wie abstoßend auf den jungen Komponisten wirkte.
Diese Dialektik des Angezogen-Werdens und Sich-wieder-Ablösens lässt sich biografisch rasch erklären: Als der zum Kriegsende gerade mal Neunzehnjährige, der bei seinem Klavier- und Schlagzeugstudium an der Staatsmusikschule in Braunschweig kaum nennenswerte Anregungen erhielt, nach einigen Umwegen im Frühjahr 1946 in Heidelberg bei Wolfgang Fortner landete, war der Informationsstand über das während der Nazizeit als «entartet» gebrandmarkte Komponieren in ganz Deutschland ziemlich gering. Die Vertreter der Schönberg-Schule hatten sich durch die Emigration überwiegend in die USA zerstreut oder wurden von verirrten Kugeln niedergestreckt, wie Anton von Webern; das Notenmaterial war entweder verbrannt oder zumindest aus den Bibliotheken verbannt. Es galt also verlorenes Terrain wiederzugewinnen. Nicht zuletzt deshalb rief Wolfgang Steinecke 1946 erstmals auf Schloss Kranichstein die Internationalen Ferienkurse für neue Musik ins Leben, um in gemeinsamen Analysen mit prononcierten Vertretern der europäischen Avantgarde, wie René Leibowitz, Olivier Messiaen, Edgard Varèse oder Ernst Křenek, die theoretischen Grundlagen der verbannten Moderne aus den Trümmern des zerbombten Darmstadt wieder erstehen zu lassen.
Mit dabei von Beginn an: der junge Hans Werner Henze, dessen Heißhunger nach Informationen über die Technik der Dodekaphonie sich allein durch den drastischen Umstand erklärt, dass sein Vater, ein Schulmann mit einer offenbar fehlgeleiteten Vorstellung von Pflicht und Treue, den Sohn und dessen Freunde bei den Nazis zur Anzeige brachte, weil diese gemeinsam die «entartete» Literatur von Werfel, Trakl und Benn gelesen hatten. Das einst Verbotene in Freiheit genauer kennen lernen zu können, erklärt wohl viel von der Anziehungskraft, die die Darmstädter Avantgarde in den Anfängen auf Henze ausgeübt hatte. Er selbst schreibt darüber in einem seiner Essays: «Im Sommer des Jahres 1947 setzte ich, nach wochenlangen Versuchen an einem Violinkonzert, plötzlich zu einem Sprung an in die mir noch völlig unbekannte Dodekaphonie. Ich hoffte, daß mein Bedürfnis nach eigenen Ausdrucksmitteln und gleichzeitig nach strenger technischer Absicherung der Dinge, die ich sagen wollte, sich in der Dodekaphonie vielleicht eher erfüllen könnte als mit den Mitteln, derer ich mich bis dahin bediente.»²
Obwohl in Darmstadt dem Kammerkonzert für Klavier, Flöte und Streicher, dem ersten öffentlich aufgeführten Werk Henzes, noch einige weitere Uraufführungen folgen sollten, war es mit der anfänglichen Begeisterung ziemlich rasch vorbei. Der Grund für die jähe Abkühlung ist paradoxerweise erneut in Henzes Erfahrungen mit dem totalitären Nazi-Regime zu suchen: Der heute in der Tat etwas merkwürdig wirkende Schulterschluss der Darmstädter Avantgardisten, der die Gruppe nach außen hin – wie heterogen sie inhaltlich in Wahrheit auch war – gleichsam als Bollwerk einer dem künstlerischen Fortschritt verpflichteten Moderne hatte erscheinen lassen, erinnerte den jungen Henze viel zu stark an die Zwänge der nationalsozialistischen Gesellschaft, an bedingungsloses Unterordnen, an gruppendynamisch bedingtes Sich-Fügen. Zudem hatten schon bald nach 1946 sehr viele junge Komponisten denselben «Sprung in die Dodekaphonie» gewagt, was empfindlich mit Henzes deutlich von der spätromantischen Genieästhetik geprägter Einschätzung vom Komponisten als einsam-schöpferischem Individuum kollidierte: «Wozu bilden sich Gruppen?», fragte sich Henze 1955. «Wozu ist einer allein zu schwach? Wofür oder wogegen will man sich stark machen? Freiheit, wilder und schöner Klang, kann nur durch das Gefühl von Einsamkeit und Freiheit entstehen. Das wirklich Neue tritt nicht poliert, nicht etablierbar in Erscheinung, sondern robust, freigiebig, nicht einzuordnen. Es kommt daher, ohne dass Trommeln gerührt werden.»³
Henzes Abneigung gegen Gruppenbildungen war allerdings nicht der einzige Grund für die Kürze seines Gastspiels bei der Darmstädter und Donaueschinger Avantgarde. Ein ganz wesentliches Moment für den Ablöseprozess scheint mir in seiner Konzeption des Verhältnisses zwischen Musik und Sprache oder genauer gesagt: in seiner These von «Musik als Sprache» zu liegen. Schon 1957, zwei Jahre nach Vollendung der ersten Fassung der Oper König Hirsch, in der sich die Loslösung von der Darmstädter Avantgarde erstmals in aller Deutlichkeit manifestiert hatte, beklagte Henze die Tendenz zur Uniformierung der Technik, die klare, individuelle Musiksprachen verhinderte: «Ich bin nicht positionslos deswegen, weil ich mich bei der Idee langweile, Mittel anzuwenden, die ich schon angewandt habe, oder solche, die allgemein angewendet werden, vom Filmkomponisten bis zum Theorieschüler, und die verbraucht sind. Auch glaube ich nicht, daß es, wie man oft sagen hört, eine verbindliche Sprache unserer Zeit gäbe: eine Methode ist keine Sprache, und die Anwendung einer neuartigen Technik sagt über die Qualität des Musikstücks, auf das sie angewendet war, überhaupt nichts.»⁴
Dieser Gedanke von «Musik als Sprache» wird von Henze auch nach der definitiven Distanzierung von der Darmstädter Avantgarde in zahlreichen Aufsätzen, Notizen oder Interviews vorangetrieben. Noch ehe in der Schriftenreihe über «Neue Aspekte der musikalischen Ästhetik» 1990 ein eigener Band über Musik und Sprache unter dem Titel Die Chiffren⁵ erschienen war, hatte Henze diesen Gedanken am deutlichsten 1972 in einem Gespräch mit Hans-Klaus Jungheinrich ins Blickfeld gerückt, das später in einem Kompendium über Musik und Politik⁶ auch in Buchform publiziert werden sollte.
In diesem Gespräch umkreist Henze den Gedanken an eine «musica impura», die er von einem Ausdruck von dem chilenischen Dichter Pablo Neruda herleitet: eine Musik, die gleichsam «befleckt» ist «mit Schwächen, Nachteilen und Unvollkommenheiten», eine Musik mit «menschlichen, allegorischen, literarischen Involvements», eine Musik, die «Sprache wird und nicht dieser Klangraum bleibt, in dem sich das Gefühl unkontrolliert und ‹entleert› spiegeln kann», eine Musik, die «verstanden werden [müsste] wie Sprache».⁷ Naturgemäß spiegelt sich in diesem Konzept auch Henzes Wunsch nach einer politisch intendierten Musik, die sich aktiv gegen jede Form von Totalitarismus