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Oper in performance: Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen
Oper in performance: Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen
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eBook369 Seiten4 Stunden

Oper in performance: Analysen zur Aufführungsdimension von Operninszenierungen

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Über dieses E-Book

Clemens Risi widmet sich der Analyse von Opernaufführungen in Inszenierungen des sogenannten Regietheaters der letzten 15 bis 20 Jahre. Anknüpfend an aktuelle Forschungen zur Aufführungstheorie, Theorien des Performativen, Phänomenologie und Wahrnehmungstheorie, schlägt die Studie vor, das Konzept der Aufführung als Ereignis auf die Analyse von Opernaufführungen zu übertragen, und diskutiert dies anhand von Aufführungen von Repertoire-Klassikern von Mozart, Puccini, Johann Strauß, Verdi und Wagner in Inszenierungen von Sebastian Baumgarten, Calixto Bieito, Peter Konwitschny, Christoph Marthaler, Hans Neuenfels, Michael Thalheimer, Katharina Wagner und dem Regieduo Jossi Wieler/Sergio Morabito.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2017
ISBN9783957491299
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    Buchvorschau

    Oper in performance - Clemens Risi

    Autor

    1

    EINLEITUNG

    „Die Opernbühne muss den Zuschauer so herausfordern, dass der auf die äußerste Kante seines Sitzes rutscht und von dort aus, hellwach und mit kritischer Lust, seine private Auseinandersetzung mit dem Gebotenen riskiert, mit jeder Arie, mit jeder Fuge und mit jeder Bewegung."

    Hans Neuenfels1

    DIE OPER UND DAS PERFORMATIVE

    Komische Oper Berlin, Juni 2004, vor vollem Haus wird die öffentliche Generalprobe von Calixto Bieitos Inszenierung von Wolfgang Amadeus Mozarts Die Entführung aus dem Serail gegeben, es dirigiert Kirill Petrenko.2 Während Konstanzes Arie „Martern aller Arten", in der sie sich standhaft den Forderungen Bassa Selims, ihn zu lieben, widersetzt, wird die Sängerin Maria Bengtsson als Konstanze auf einem Stuhl gefesselt und muss, wie wir, mit ansehen, wie eine Prostituierte, dargestellt von einer Statistin, in langsamer Grausamkeit vom Zuhälter Osmin (Jens Larsen) mit einem Messer bis zur Bewusstlosigkeit gequält, geschändet und schließlich massakriert wird (Abbildung 1).

    Inmitten einer der vokal anspruchsvollsten Passagen der Arie3 bricht ein Tumult los. Buh-Rufe, Pfiffe, laute Ausrufe wie „Aufhören! oder „Mozart würde sich im Grabe umdrehen steigern sich dermaßen, dass der Geräuschpegel im Zuschauerraum zeitweise den auf der Bühne und im Orchestergraben deutlich übersteigt.

    In Calixto Bieitos Inszenierung von Mozarts Entführung aus dem Serail wird die Frage aufgeworfen, was Begriffe wie „Serail, „Haremsmäuse oder „Martern aller Arten" für uns heute bedeuten könnten, wie sich die Unterdrückung von und Gewalt gegen Frauen aktuell vermitteln lässt. Der gewählte Schauplatz ist ein Bordell; die gezeigten Praktiken von Sex und Gewaltanwendung sind – wie man lesen konnte – die in der Szene gängigen und verbreiteten. Die ebenso einschlägigen Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Neben den erwähnten Publikumsreaktionen in der Generalprobe gab es sofort nach der Premiere großen Aufruhr im Sponsoren- und Freundeskreis der Komischen Oper Berlin, ausführliche Debatten in Publikumsgesprächen und Universitätsseminaren und natürlich in der Presse, vom Qualitäts-Feuilleton bis zum Boulevard. Die BZ, das Berliner Blatt mit den höchsten Auflagenzahlen, widmete der Inszenierung am 22. Juni 2004 die komplette Titelseite („Sex-Skandal an Komischer Oper – Und dafür gibt’s auch noch Steuergelder!") und zwei weitere Seiten im Mittelteil.4

    Abbildung 1: Die Entführung aus dem Serail. Inszenierung: Calixto Bieito. Maria Bengtsson (Konstanze), Guntbert Warns (Bassa Selim), Jens Larsen (Osmin), Statistin. Komische Oper Berlin 2004. Foto: Monika Rittershaus

    Szenenwechsel: Salzburger Festspiele, Sommer 2001, Felsenreitschule, auf dem Programm steht Johann Strauß’ Operette Die Fledermaus, dirigiert von Marc Minkowski und inszeniert von Hans Neuenfels. Vor Ort ist ein Fernsehteam, das Reaktionen der Besucher der Festspielpremiere einfängt: „Also es ist eine Zumutung für einen Österreicher, sich das anzuschauen. – „Es ist eine Unverschämtheit dem Publikum und unseren ausländischen Gästen gegenüber. Ich schäme mich für diejenigen, die das kreiert haben. Pfui Deifel! – „This is shit! This should be banned, you understand? Everybody should go to the fucking jail, including Gérard Mortier, the idiot! – „Ich hab’ gebuht, ich hab’ auch geweint, weil das ist alles meine Jugend, das ist meine ganze Kindheit. Das hab’ ich zu Silvester alles gehört. Also ich find’, das ist wirklich so traurig, dass Österreich so heruntergekommen ist, dass wir uns solche Sachen gefallen lassen.5

    Was war geschehen? Der seit 1991 amtierende Festspielintendant Gérard Mortier hatte es wieder einmal und in seiner letzten Spielzeit noch radikaler gewagt, mit der Wahl eines Regisseurs und dessen Sicht auf eines der beliebtesten Stücke des Repertoires sein Publikum vor den Kopf zu stoßen. Umstritten war insbesondere der Auftritt des bekannten Vokalperformers und Schlagzeugers David Moss in der Rolle des Prinzen Orlofsky, einer Rolle, die üblicherweise als Hosenrolle zum Paraderepertoire von Mezzosopranistinnen und Altistinnen zählt. Besonders Moss’ erster Auftritt mit dem Couplet „Ich lade gern mir Gäste ein" erregte den lautstark artikulierten Unmut der Mehrzahl der Festspielbesucher – und bewog gleichzeitig die DVD-Firma Arthaus, ihre Werbestrategie ganz darauf zu konzentrieren (Abbildung 2).6

    David Moss war mit einem Morgenmantel und einem gestreiften Schlafanzug bekleidet, dessen Oberteil aufgeknöpft war, sodass sein nackter Oberkörper zu sehen war; die Haare trug er in Rasta-Manier. Aufsehenerregend war aber in erster Linie seine vokale Performance. Was Moss nämlich nicht bot, war das gewohnte und erwartete Belcanto-Ideal der „schönen oder brillanten Stimme, die durch einen weittragenden, vollen, warmen, weichen oder glänzenden Klang mit einem regelmäßigen Vibrato ausgezeichnet ist, hervorgerufen durch „tiefe Kehlkopfstellung, erweiterte Ansatzräume sowie eine optimale Balance von Atemdruck und Kehlkopffunktion7 – ein Ideal, das zum Beispiel die Mezzosopranistin Brigitte Fassbaender in die Erinnerung der meisten Opernbesucher eingeschrieben hat und das dort als klingende Erwartungshaltung immer präsent ist. Diesem fest gefügten Gesangscode setzte Moss eine via Microport verstärkte Palette vokaler Ausdrucksmöglichkeiten entgegen, die viele im Publikum in erster Linie irritierte und eine Kollision mit der Erwartungshaltung produzierte: bassige, satte und überhauchte Töne, ein Überschlagen der Stimme ins Falsett, Röchel-, Krächz- und Seufz-Laute, es dabei mit der Intonation nicht immer ganz genau nehmend. Zu allem Überfluss zog sich Moss’ Orlofsky zwischen einzelnen Phrasen auch noch eine Line Koks in die Nase – ein verstörendes Bild, das durch seine Dauer in die musikalische Kontinuität des Strophenverlaufs eingriff, Handlung über Musik setzte.

    Abbildung 2: Die Fledermaus. Inszenierung: Hans Neuenfels. David Moss (Prinz Orlofsky). Salzburger Festspiele 2001. Foto: Mara Eggert/Theatermuseum München

    Was die beiden geschilderten Ereignisse vereint, ist ein Bündel von Merkmalen, das geradezu kennzeichnend zu sein scheint für eine bestimmte, seit einigen Jahrzehnten insbesondere im deutschsprachigen Raum verbreitete Opernaufführungspraxis,8 die häufig mit dem Begriff Regietheater apostrophiert wird – einem Begriff, der nicht selten im selben Atemzug wegen seiner begrifflichen Unschärfe kritisiert wird, in jedem Fall selbst höchst umstritten ist.9

    Die Aufführungen sind in der Regel als Inszenierungen tradierten Materials angekündigt und funktionieren insbesondere über die Idee und Praxis des Repertoirebetriebs.10 Im Wesentlichen handelt es sich um bekannte Werke, bei denen die schöpferische Urheberschaft einerseits beim Komponisten und andererseits beim Regisseur liegt und die eine Erwartungshaltung zwischen Wiedererkennen und Überraschung durch Abweichung produzieren. (Uraufführungen und Ausgrabungen stehen nicht im Zentrum dieser Aufführungspraxis.)

    Eine besondere Aufmerksamkeit in der Produktion der Inszenierungen wird dem Verhältnis von auditiven und visuellen Elementen zuteil, also der Frage, wie die musikalische mit der szenischen Ebene interagiert. Diese Aufmerksamkeit für das Zusammenspiel von Hören und Sehen gilt insbesondere den Darstellerinnen und Darstellern, den Sängerinnen und Sängern, indem sowohl in der Produktion als auch in der Wahrnehmung durch das Publikum die Körperlichkeit ebensolches Gewicht erhält wie die Stimmlichkeit.

    Die Abweichungen des Erlebten von dem, was viele als Erwartung an die Realisierung eines bekannten Werkes des Repertoirekanons mit in die Aufführung gebracht haben, kulminiert nicht selten in der Irritation darüber, ob die erlebte Inszenierung denn überhaupt noch als Interpretation eines bekannten Werks zu bezeichnen ist oder ob es sich nicht vielmehr um etwas ganz anderes handelt. Die Premieren solcher Regietheater-Inszenierungen gehen häufig (nicht immer) einher mit lautstarken Publikumsreaktionen von gleichzeitig Zustimmung und Ablehnung bis hin zu Protesten, Skandalen und Ausschreitungen.

    Kaum eine andere Theaterform vermag so heftige Reaktionen auszulösen – in positiver wie negativer Hinsicht – wie Aufführungen des Opernrepertoires. Von Liebeserklärungen einer Fan-Gemeinde bis zu wütenden und lautstarken Protesten und Tumulten versammelt insbesondere die Oper in ihrer aktuellen Aufführungsdimension die vielleicht vielfältigsten und extremsten Ausdrucksformen einer performativen Wechselwirkung zwischen Bühne und Publikum. Es ist dieses Wechselverhältnis von Agierenden und Zuschauenden/Zuhörenden in der einmaligen, ereignishaften Aufführungssituation Oper – für die das Zusammenspiel von Körperlichkeit, Stimmlichkeit, Zeitlichkeit und Wahrnehmung bestimmend ist –, dem die nachfolgenden Überlegungen gewidmet sind.

    Spätestens seit den Debatten um Wieland Wagners Bayreuther Inszenierungen der Meistersinger von Nürnberg von 1956 und 1963, insbesondere aber seit dem Einzug eben jenes Regietheaters in die Oper (seit den siebziger Jahren mit Regisseuren wie Ruth Berghaus, Patrice Chéreau, Götz Friedrich, Joachim Herz, Harry Kupfer oder Hans Neuenfels), wird die Frage nach den Möglichkeiten, Grenzen und Notwendigkeiten von Regie in der Oper gestellt, die Frage nach dem viel zitierten Zusammenhang von „Werk und Wiedergabe"11, die Frage nach der vermeintlichen Dichotomie von Substanz und Wandel, von Bewahren einer „Werk-Substanz"12 und notwendiger Veränderung durch Eingriffe.

    Wenn es um den „richtigen Umgang geht, ist seit Jahren ein regelrechter Kampf zwischen Bewahrern und Erneuerern zu beobachten. Auf Seiten der Bewahrer grassiert die Angst vor Zerstörung. Vom „Operntheater als „Baustelle für die Demontage der Texte"13 ist die Rede, von „Entmündigung und Entwürdigung der Texte, die zur „Entmündigung des Zuschauers14 führe, vom „Würgegriff vermeintlicher Interpreten, die das Werk zur Folie der eigenen Wirklichkeitsbewältigung degradieren. Mit Bezug auf die Inszenierungspraktiken bei den Bayreuther Festspielen wird von einer „Werkstatt, in der Werkzeuge hergestellt werden, die nicht zur permanenten Erneuerung, sondern zur Vernichtung des Inventars führen, gesprochen und von „gequälten, geschundenen, zerzausten, geklitterten, gedemütigten Werken, denen gewünscht wird, dass sie durch Schließung der genannten Werkstatt „endlich zur Ruhe kämen.15 Um welche Bedrohung geht es hier? Was ist es, das hier angeblich geschunden und zerstört wird? Bei einem Gegenstand wie dem Musiktheater, das ja recht eigentlich seine Bestimmung erst in der flüchtigen und multimedialen Gestalt des einmaligen Theaterereignisses findet, sind Diagnosen wie die zitierten höchst schwierig zu verifizieren. Denn eine Opern-Inszenierung, und dies ist eine der Ausgangsthesen dieser Studie, vollzieht sich als Transformation einer Vorlage/eines Materials in ein neues Medium, da die Partitur und der Text keine Körper, keine Stimmen, keine Bewegungen zur Verfügung stellen. In jeder Aufführung kommt es zu einem Zusammentreffen der unterschiedlichsten Ereignisse – zu einem Zusammentreffen von mehr oder minder vorhersehbaren, weil gelenkten Handlungen (geprägt durch Bühnenbild, Kostüm, Bewegungskonzept) und gänzlich unvorhersehbaren Ereignissen wie der jeweiligen Präsenz und Tagesform eines Sängerdarstellers, einer Sängerdarstellerin, einer Dirigentin, eines Dirigenten und den unerschöpflichen Assoziationsreservoirs, Erwartungshaltungen und Tagesformen des Publikums. Bei dieser Transformation eines Materials, also einer Partitur, in ein anderes Material, nämlich eine Aufführung, entstehen unweigerlich immer auch Veränderungen am Material. Und jede Zeit, jede Generation definiert die Freiheiten bzw. die Grenzen, innerhalb derer sich diese bewegen, immer wieder neu und anders. Aufführen – im Gegensatz etwa zur Lektüre oder einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Texten – heißt auch, etwas hinter sich zu lassen, die Welt der gedruckten Spuren auf der Buch- und Partiturseite und die mit ihnen verknüpften Imaginationen zu verlassen, die Realität des Verschrifteten ab einem gewissen Punkt zu negieren, sich der Realität des lebendigen Augenblicks des szenischen Vollzugs zu verschreiben und eine neue Realität zu erschaffen.

    Die Aufführungspraxis von Oper scheint sich gegenwärtig in drei Richtungen zu bewegen: Zum Ersten sind Versuche zu erkennen, die Texte durch die Zusammenstellung mit anderem Material neuen Reibungen auszusetzen. So äußerte etwa der Regisseur Sebastian Baumgarten bereits vor einigen Jahren in einem Interview mit Barbara Beyer den Wunsch, auch in der Oper mehr mit Fragmenten arbeiten zu können: „Mich würde eher interessieren, Verdi, Mozart, Bach oder Wagner ausschnittweise zu behandeln, mit Fragmenten zu arbeiten. Als Ausschnitt oder in der Vergrößerung kann ich etwas noch genau beschreiben, da kann ich mich noch hineinbegeben."16 Praktiziert wird ein solches Vorgehen in den letzten Jahren vermehrt unter dem Terminus „Kreationen, der – auf eine Idee des Intendanten Gérard Mortier zurückgehend – insbesondere auf Festivals wie der Ruhrtriennale Verwendung findet. Es handelt sich dabei um Hybridformen, die in Nischen zwischen Schauspiel und Oper entstanden sind und der Musik einen exponierten Stellenwert einräumen, sich dabei aber weder um Gattungsgrenzen scheren, noch etwa an Partiturzusammenhänge oder Ähnliches gebunden fühlen, sondern freizügig musikalische Bruchstücke aus den unterschiedlichsten Kontexten kompilieren. Solche „Kreationen etwa von Christoph Marthaler (The unanswered question, Theater Basel 1997) oder Alain Platel (Wolf oder wie Mozart auf den Hund kam, Ruhrtriennale 2003) lassen sich dabei durchaus als Wiederbelebung historischer Aufführungs- und Inszenierungspraktiken, zum Beispiel des Pasticcio (dem Zusammenfügen einzelner Arien oder ganzer Akte aus unterschiedlichen Werken in einen neuen Zusammenhang), oder ganz allgemein als Wiederaufgreifen der Traditionen von Einlegearien, Kürzungen, Umstellungen etc. beschreiben – Praktiken, die mit dem Erstarken des Werkbegriffs im 19. Jahrhundert aus der Mode kamen.

    Zum Zweiten halten sich eigentlich überwunden geglaubte Forderungen nach Werk- und Texttreue hartnäckig sowohl auf Rezipierenden- wie auch auf Produzierendenseite. Immer wieder ist von Gegnern der im Regietheater praktizierten Aktualisierungstendenzen zu hören: Wieso kann man es nicht auch im Szenischen so machen wie zur Entstehungszeit der Musik, wenn Musik aus dieser Zeit, also etwa aus dem 18. oder 19. Jahrhundert, aufgeführt wird? Selbstverständlich ist es möglich, die zur Verfügung stehenden Erkenntnisse über historische Aufführungspraktiken anzuwenden, wie etwa in den Aufführungen, die vom Centre de musique baroque de Versailles betreut werden, oder bei den mit großem Erfolg aufgeführten, wirkungsvollen Inszenierungen von Sigrid T’Hooft (wie Händels Radamisto bei den Händel-Festspielen in Karlsruhe 2009, Abbildung 3).

    Abbildung 3: Radamisto. Inszenierung: Sigrid T’Hooft. Delphine Galou (Zenobia), Berit Barfred Jansen (Fraarte). Händel-Festspiele Staatstheater Karlsruhe 2009. Foto: Jacqueline Krause-Burberg

    Doch so aufschlussreich und ästhetisch reizvoll diese Ausweitung der Experimente mit der historisch informierten Aufführungspraxis auf das Szenische auch ist: Weder die Erfahrungen noch die Wirkungen von damals lassen sich unter unseren heute völlig anderen Aufführungs- und Zuschaubedingungen rekonstruieren. René Jacobs meinte in diesem Zusammenhang einmal sehr richtig: Für historische Zuschaubedingungen des Barock dürfte es kein elektrisches Licht und keine einzige Toilette im Theater geben.17 Zudem bestand beim Publikum eine Vertrautheit mit der spezifischen Bedeutung der einzelnen Gesten, die die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne machten – eine Vertrautheit, die heute verloren ist.18 Historische Gesten lassen sich studieren und auch reproduzieren, aber es wird immer eine Konstruktion sein, nie eine Re-Konstruktion, da die Wirkung aufgrund unseres fehlenden Verständnisses a priori eine andere ist. Unmittelbarkeit und Vertrautheit der Gesten- und Bewegungssprache lassen sich erzielen, wenn aktuelle, bekannte, durchaus auch alltägliche Gesten eingesetzt werden – ein Mittel des (häufig aktualisierenden) Regietheaters. Konfrontiert mit historischen Gestenrepertoires, tritt zuallererst deren Fremdheit zutage und der Umstand, dass sie die eindeutige Lesbarkeit, die sie in der historischen Epoche hatten, verloren haben. Mit der Anerkennung dieser Fremdheit erweist sich die Darstellungspraxis der historischen Aufführungsversuche als nicht stärker legitimierte Aufführungsweise als andere Darstellungspraktiken, die mit eigens entwickelter choreographischer Sprache oder stilisierter Formalisierung arbeiten.

    So betrachtet, hieße „historisch informiert" zu erkennen, dass man Geschichte nicht rekonstruieren kann, weil sich nie mehr alle Bedingungen herstellen lassen (wir sind andere, wir haben anderes gehört, anderes erlebt). Aber auch zu akzeptieren, dass es unter den unendlich vielen denkbaren Aufführungsrealitäten einer bestimmten musikdramatischen Vorlage nicht die eine gibt, die grundsätzlich besser als alle anderen wäre. Und schließlich sollte „historisch informiert" bedeuten, anzuerkennen, dass es eine viel längere Tradition gibt, frei und variabel und improvisierend und experimentierend mit dem vorhandenen Material umzugehen, als es die Tradition ist, an bestehenden Konventionen festzuhalten. Ausgehend von dieser Experimentierlust wird deutlich, dass die historisch informierte Aufführungspraxis sehr wohl Potenzial jenseits der Nischen von historischen Spezialfestivals birgt. Mit dieser Experimentierlust wird das Tor auch ganz weit aufgestoßen in die Gegenwart und die Oper anschlussfähig gemacht für aktuelle Bildsprachen und Bewegungsrepertoires.

    Zwischen den genannten Tendenzen einer Fragmentierung und Neuzusammenstellung von Material auf der einen Seite und den Forderungen nach historischer Aufführungspraxis im Sinne einer vermeintlich realisierbaren Text- bzw. Werktreue auf der anderen Seite bewegt sich die vor allem im deutschen Sprachraum weitverbreitete und unter dem Schlagwort „Regietheater in der Oper" subsumierbare Aufführungspraxis unter Beibehaltung der musikalischen Dramaturgie bei gleichzeitig radikaler Infragestellung, Neubefragung und Neukontextualisierung der in den verfügbaren Texten (Libretto, Partitur, Diskurs der Aufführungsgeschichte) vermittelten und ermittelbaren Bedeutungsschichten einer Oper. Eine konkrete Veränderung der Partiturgestalt in ihrer musikalischen Dramaturgie (wie Abfolge und Vollständigkeit) stellt in dieser Opernaufführungspraxis noch immer ein Tabu dar. Eingriffe in die musikalische Sukzession und Dramaturgie (wie etwa die Unterbrechungen in Peter Konwitschnys Berliner bzw. Hamburger Inszenierungen des Don Giovanni 2003 oder der Meistersinger 2002), die über die historisch üblichen Striche oder vorsichtige Umbesetzungen von zum Beispiel Continuo-Instrumenten hinausgehen, sind weiterhin radikale Ausnahmen.

    Gerade die im Regietheater praktizierte, in erster Linie intellektuelle Auseinandersetzung mit Lesarten und neuen Bedeutungen hat auch die „andere" Seite der Wahrnehmung von Opernaufführungen wieder verstärkt zum Vorschein gebracht: die Wahrnehmung von Momenten, die sich nicht als Darstellung (Verkörperung, Repräsentation) von etwas beschreiben lassen, sondern in erster Linie intensive Erfahrungen und körperliche Reaktionen auf das Erlebte auslösen. Momente, die sich häufig durch Irritation, Aussetzen des Verstehens, Intensität, Bewusstwerdung der Wahrnehmung oder bewusste Zeiterfahrung auszeichnen. Angesprochen ist hiermit das Wechselverhältnis von Repräsentation und Präsenz, von Sinn und Sinnlichkeit, das in jeder Opernaufführung am Werk ist und das für die je Aufführung charakteristischen Wahrnehmungsprozesse bestimmend ist.19 Dabei schließen sich Repräsentation und Präsenz keineswegs aus. Im Gegenteil, Sinn und Sinnlichkeit bedingen sich gegenseitig. Momente der Präsenz sind ebenso für die spezifische Bedeutungsbeilegung in einer Szene verantwortlich, wie dem Aussetzen des Verstehens ein Verstehensprozess vorausgegangen sein muss. Mit Hans-Thies Lehmann könnte man es auf die Formel bringen: Die Rezeption singender Darstellerinnen und Darsteller auf der Opernbühne changierte immer schon zwischen der geglaubten Verkörperung (Repräsentation) und der bewunderten Auto-Deixis (Qualität der Performer im Sich-Ausstellen, Sich-Präsentieren in ihren Qualitäten).20

    Wenn in dieser Studie die Aufführungsdimension von Oper in den Mittelpunkt gerückt werden soll, stellt sich die Frage, wie diese theoretisch und analytisch zu fassen ist. Die Opern- und Musiktheaterforschung, die traditionell (auch international) fast ausschließlich in der Musikwissenschaft angesiedelt ist, versteht sich in erster Linie als Kompositionsund Librettogeschichte und nimmt in der Analyse insbesondere bzw. in der Regel die Partitur in den Blick. Ausgeklammert bleibt hingegen zumeist die Frage einer adäquaten analytischen Annäherung an die performative Dimension des Musiktheaters, wenngleich erste Ansätze dazu in jüngster Zeit zu erkennen sind, sowohl in der Theaterwissenschaft als auch in der Musikwissenschaft. Exemplarisch möchte ich hier die Studien von Carolyn Abbate, Robert Braunmüller, Joy Calico, Linda und Michael Hutcheon, Gundula Kreuzer, David J. Levin, Christopher Morris, Stephan Mösch, Gerd Rienäcker, Mark Schachtsiek, Jürgen Schläder, Mary Ann Smart oder Robert Sollich21 nennen, die sich in je unterschiedlicher Weise, aber deutlich vom Aufführungsgeschehen einer Operninszenierung zu ihren Überlegungen haben inspirieren lassen. Meine eigenen Überlegungen zur Aufführungsdimension sind den genannten Studien in vielerlei Hinsicht verpflichtet. Es ist zumeist jedoch der Transformationsaspekt der Inszenierung, der im Fokus dieser Studien steht, weniger die Prozesse des Aufführungsgeschehens. Eine konsequente Auseinandersetzung mit der Aufführungsdimension findet in der Regel nicht statt.

    In der Musikwissenschaft haben sich in den letzten Jahren zwei Forschungsrichtungen etabliert – „music as performance"22 und Interpretationsforschung23 –, deren Erkenntnisse ebenfalls fruchtbar und gewinnbringend für die nachfolgend dargelegten Überlegungen sind, wenngleich die Vertreter der Richtung „music as performance" die Oper als Untersuchungsfeld bislang noch weitgehend ausgespart haben. Was die Interpretationsforschung angeht, so wird noch im Detail zu erläutern sein,24 wie sich in vielen dieser Überlegungen eine Tendenz zeigt, eine Hierarchie zwischen Partitur und Aufführung zu etablieren oder von einer solchen auszugehen – eine Hierarchie, die die Partitur als Ausgangs- und Zielpunkt der Analyse von Interpretationen bzw. Aufführungen festschreibt.

    In Abgrenzung und im Gegensatz zu dieser Auffassung und in Ergänzung und Erweiterung der zuvor genannten widmet sich die vorliegende Studie der Etablierung eines neuen Verständnisses des Verhältnisses von Text und Aufführung, einer Fokusverschiebung: Statt von der Aufführung als Interpretation einer Partitur zu sprechen, wird dafür plädiert, die Partitur als eines von verschiedenen Materialien25 zur Hervorbringung einer Aufführung zu verstehen. Diese Fokusverschiebung öffnet den Blick auf all die Elemente und Ereignisse einer Aufführung, die sich nicht in der Partitur finden lassen, aber für die Wirkung und Wahrnehmung einer Aufführung mindestens so bestimmend, wenn nicht gar noch bestimmender sind, als das zugrunde liegende Material, das Stück, die Partitur. Gemeint sind konkret erklingende und individuelle Stimmen, konkret und individuell sich bewegende Körper, immer neu und anders sich ereignende Kommunikation, Dialoge zwischen Aufführenden und Publikum. Geöffnet wird der Blick für die Eigenart, durch die sich die Aufführung gegenüber Texten und anderen Artefakten unterscheidet und auszeichnet: dass sie nämlich nur im Moment, in der Zeit ihres Erscheinens und nur in der leiblichen Ko-Präsenz und Interaktion von Darstellenden und Zuschauenden/Zuhörenden existiert.

    In dieser Studie wird ein Ansatz vorgeschlagen, der sich der Analyse von Opernaufführungen ausgehend von und fokussierend auf die performative Dimension annimmt. Die Studie widmet sich dem Versuch der Übertragung des Konzepts der Aufführung als Ereignis auf die Oper, aufbauend auf und anknüpfend an aktuelle Forschungen zur Aufführungstheorie,26 zu den Theorien des Performativen27 und zur Wahrnehmungstheorie, insbesondere aus der Phänomenologie.28 Der Ansatz der Studie gründet auf der Beobachtung, dass auch und gerade in Opernaufführungen Momente stattfinden, die sich nur in den Kategorien beschreiben lassen, die durch die Performativierungsschübe in den Künsten seit den sechziger Jahren in den Blick geraten sind – die Konzentration auf die Materialität, die Betonung der sinnlichen gegenüber den sinnhaften Momenten und die Fokussierung auf die Ereignishaftigkeit der Aufführung.

    Die Studie versteht sich als Plädoyer, das oftmals vorhandene, aber häufig in der Latenz gehaltene Bewusstsein der Relevanz der Aufführungsdimension von Musiktheater auch in eine Form der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu überführen, die die Wahrnehmung aller die Aufführung konstituierenden Elemente berücksichtigt. Vorgeschlagen wird eine Neuausrichtung oder Neujustierung des analytischen Umgangs mit Musiktheater, indem an konkreten Beispielen das Zusammenwirken von auditiven und visuellen Elementen,29 das Wechselspiel von Repräsentation und Präsenz,30 das Verhältnis von Stimmlichkeit und Körperlichkeit,31 die Erfahrung von Zeitlichkeit und Rhythmus32 und

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