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Der offene Mund: Über ein zentrales Phänomen des Pathischen
Der offene Mund: Über ein zentrales Phänomen des Pathischen
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eBook514 Seiten6 Stunden

Der offene Mund: Über ein zentrales Phänomen des Pathischen

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Über dieses E-Book

Die Weitung des Mundes markiert den Menschen grundlegend als aisthetisches Wesen. Daher ist es kaum verwunderlich, dass der offene Mund die Kultur- und Kunstgeschichte von der antiken Maske bis zur gegenwärtigen (Pop-)Performance durchzieht. Allerdings offenbart der geweitete Mund zuvorderst jene pathische Erfahrung, die sich weder auf Zeichen, Bilder oder Sprache reduzieren lässt. Wovon kündet folglich der offene Mund? Was geht aus ihm hervor?

Anhand seiner vielfältigen und vieldeutigen Weitungen - Gähnen, Schreien, Heulen, Staunen, Sprechen, Lachen, Singen - beschreibt Lorenz Aggermann in seiner Studie den spielerischen Umgang mit den sonoren und affektiven Registern des Subjekts und etabliert derart eine anthropologisch grundierte Theorie der darstellenden Kunst. Zahlreiche Abbildungen bieten zudem eine kleine Phänomenologie des offenen Mundes.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. Mai 2013
ISBN9783943881479
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    Buchvorschau

    Der offene Mund - Lorenz Aggermann

    VITA

    I. EINE ‚LEERSTELLE‘?

    Das Wort entschläft überall dort,

    wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt.

    J. Améry

    UNRUHEHERDE

    Eine anthropologische Konstante

    Oi Oí, Otototoi, Iu Iu, Iuah, Aiaí: scharfe Schreie, schrill tönende Klagen. Mit diesen und ähnlichen Ausdrücken kommt die griechische Tragödie auf uns zu und sorgt für ein gewisses Maß an Unverständnis. Was für ein seltsames Getön. Doch das Druckbild täuscht nicht: Die onomatopoetischen Formeln sollen das markieren, was schlichtweg nicht zu fassen ist und wohl gerade deswegen zum zentralen Element der Tragödie werden konnte, im Text jedoch nicht anders als über Vokalfolgen wie „Oi, „Iua, „Ai oder „Au, über Striche (–) oder Auslassungen (…) beschrieben werden kann. Diese ‚Leerstellen‘ geben, egal mit welchen Zeichen oder Lauten man sie füllt, ihren affektiven Gehalt nicht adäquat wieder, sie widersetzen sich einer sprachlichen, sprich syntaktischen wie semantischen Logik und reißen Löcher in den Text, da sich ihr Inhalt nicht adäquat erfassen, abbilden oder zur Sprache bringen läßt. In ihnen wird ein affektives Potenzial substituiert, das sich nicht bändigen läßt und das unmittelbar in Schrecken, Schaudern, Angst, aber wohl auch Freude und Lust umschlägt: zu intensiv in der Wahrnehmung und gleichsam zu wenig signifikant für die Darstellung beziehungsweise Artikulation. Gemeinhin wird dieser Sachverhalt mit dem altgriechischen Terminus πάθος‘ umschrieben, der auf jene Widerfahrnisse verweist, die dem Menschen zustoßen, ihm ohne eigenes Zutun entgegenkommen, ihn anrühren.² Pathos ist jedoch nicht als ‚schweres Leid‘ oder ‚Leidenschaft‘ zu verstehen – diese Begriffe, mit denen pathos noch immer synonym gesetzt wird, implizieren bereits eine Wertung und nehmen dem ursprünglichen Terminus sein Potential – sondern als Voraussetzung für jegliche Art der Erfahrung und Wahrnehmung an sich, die sich stets aus einem ‚zu viel‘ speist und das menschliche Subjekt vor die Aufgabe stellt, diesem Überangebot Herr zu werden. Pathos ist somit eine zentrale Kategorie der menschlichen Existenz, „keine Grundschicht also, sondern ein Geschehen, in das wir wohl oder übel und auf immer verwickelt sind."³ Als solches zeichnet sich pathos durch das ihm eigene Chaos aus, in welchem sich jeweils mehr beziehungsweise anderes zeigt, als sich beschreiben, darstellen oder bezeichnen läßt. Pathos muß folglich unweigerlich mit ‚Leerstellen‘ Hand in Hand gehen, da es die Sphäre des Menschen übersteigt, sich diesem nur als Chaos offenbart.

    Diese Überforderung ist jedoch kontingent: Pathos appelliert an das Potential des Menschen, an seine Kreativität, und eröffnet ein Spiel – auf daß die ‚Leerstelle‘ nicht leer bleibe. Und so ist der Mensch stets bemüht, diesem ‚zu viel‘ habhaft zu werden, ohne dies letztgültig erreichen zu können; umgekehrt kann er seinerseits spielend ein ‚zu viel‘ hervorbringen, welches ihm wiederum zum Widerfahrnis wird. Allerdings wird er niemals zum Souverän in diesem Spiel: Der Mensch kann pathos nie vollends auflösen, restlos in Ausdruck oder ratio überführen. Folgt man dieser Überlegung, so ist es nur ein kleiner Schritt zu der Feststellung, daß das menschliche Subjekt nur mit Hilfe seiner Kreativität und Imagination leben kann;⁴ daß dies die unabdingbare Notwendigkeit für seine Auseinandersetzung mit der Lebenswelt darstellt. Pathos ist demnach ein Geschehen, das das menschliche Wesen treibt und determiniert, Kunst die Bezeichnung für den notwendigen spielerischen Umgang mit diesem Unfaßbaren. Damit ist eine erste leitende Prämisse der vorliegenden Studie benannt, für welche Aischylos’ Perser und die darin auftauchenden, eigentümlichen ‚Leerstellen‘ ein markantes Beispiel geben können. Denn auch die Exklamationen „Oi Oí, „Ie Ie, „Aiaí" versuchen letztlich, eine Transformation von scharfem, schrillen Getön zu sonorer, verständlicher Klage zu gewährleisten und das pathos zu erwidern.

    Mögliche Metaphern und Belege

    Doch wie lassen sich diese ‚Leerstellen‘ erfassen? Wie der spezifische Sachverhalt erörtern, daß etwas, das kein Zeichen haben kann, doch signifikant und hierdurch dem menschlichen Subjekt bewußt und rationell zugänglich wird?

    Der Terminus ‚Leerstelle‘ ist eine notwendige Hilfskonstruktion, die auf den ersten Blick sogar widersprüchlich erscheint. In Auseinandersetzung mit der literarischen oder kunsthistorischen Tradition ließen sich, gerade wenn von Schrift und Text ausgegangen wird, vermutlich auch andere Termini finden. Zum Beispiel könnte man den gemeinten Sachverhalt als ‚Kluft‘ zwischen den Worten oder auch als ‚Schatten‘ der Worte umschreiben. ‚Kluft‘ böte sich insofern an, als sein französischsprachiges Korrelat ‚béance‘ in der Medizin die Öffnung des Kehlkopfes bezeichnet und über diese Linie auch Eingang in die psychoanalytisch inspirierte Kulturtheorie gefunden hat.⁵ Diese Metapher würde vor allem die physiologische und medizinische Dimension des Sachverhalts hervorheben und auf die scheinbar unbewußten akustischen und affektiven Regungen aufmerksam machen. Zugleich erscheint sie jedoch als zu einschränkend, zu sehr einer medizinischen Topik verpflichtet, der die oben aufgestellte These von pathos als permanentem Appell, als grundlegendem Geschehen widerspricht. Vom ‚Schatten der Worte‘ oder der ‚Aura der Schrift‘ zu schreiben, ließe wiederum die Nähe zu kunsthistorischen Theorien deutlich werden,⁶ die in der vorliegenden Arbeit durchaus vorhanden ist. Eine derartige Wortwahl würde indes die anthropologische Komponente des Sachverhalts zu kurz kommen lassen, da sie pathos vornehmlich vom Menschen unabhängigen Objekten zuschreibt. Insbesondere der Schatten ist nicht nur eine Frage der Beleuchtung von Kunstwerken, er haftet ebenso dem menschlichen Wesen und seinem Wirken an – mehr noch: Er schlägt ein Loch in dessen strahlendes Antlitz. Die etwas weniger eloquente Metapher der ‚Leerstelle‘ ist folglich, obgleich contradictio in adjecto, bewußt gewählt. Sie ähnelt dem, was die Astronomie im Begriff der ‚schwarzen Sterne‘ bezeichnet, die aus Antimaterie bestehen und nur über einen Umweg – die Krümmung des an ihnen vorbei strahlenden Lichtes – markiert werden können.

    Innerhalb der schriftlichen Ausdrucksmöglichkeiten, der auch diese Arbeit folgen muß, läßt sich der affektive Gehalt der ‚Leerstellen‘, der recht eigentlich übervoll an Bedeutung und Implikationen ist, nicht erfassen, geschweige denn wiedergeben. Die Substitute, ob Onomatopoetika wie „Oi, „Aua, „ach, „haha oder, von Fall zu Fall auch Interpunktionen wie (…) sind nie adäquat, schlicht weil das darin nach Ausdruck, nach Artikulation Heischende nicht der schriftlichen und sprachlichen Logik zugehört. Es gibt hierfür keine Worte und auch schwerlich Zeichen. Und dennoch wird die Überfülle, das pathos gerade als ‚Leerstelle‘ deutlich: am eindrücklichsten im offenen Mund, ob er sich nun zum Schrei, im Erstarren, im Erstaunen oder auch zum Lachen weitet. Die eingangs zitierten Lautfolgen „Oioi, „Io und „Ie" zwingen den Leser, diese Geste nachzuvollziehen, selbst den Mund zu weiten und der Sphäre des Chaotischen Platz zu machen. Gerade deshalb soll der offene Mund das zentrale Signet der vorliegenden Arbeit bilden, die nach ebendiesen ‚Leerstellen‘ und, damit unweigerlich verbunden, nach zeitgenössischen Strategien der Transformation von pathos über Affektion zu Emotion fragt. Der offene Mund ist somit mehr als eine bloße Metapher. Die Wortgeschichte macht den Mund ursprünglich zum Loch.⁷ Als solches hat er eine zentrale, das Subjekt konstituierende Funktion: Erst das Loch bestimmt den Status eines Körpers im Raum,⁸ und im weiteren Sinne, den des Subjekts in der Welt. Das Loch ist die zentrale Stelle, um die alles kreist und die doch nie zu erreichen oder zu erfassen ist. Es kann allenfalls umschrieben werden. In Gestalt des Mundes findet sich das Loch mitten im Antlitz des Menschen wieder, und der Mund ist auch das erste Organ, das einen Anspruch an die Seele stellt⁹ und somit das Subjekt von den physiologischen Funktionen über das Affektive hin zum Psychischen weitet. Das Loch (ver)birgt jene Dimensionen, die das menschliche Subjekt konstituieren.

    Tatsächlich nimmt dieses Loch – der offene Mund – einen herausragenden Wert in der Kunst- und Kulturgeschichte ein. Bereits in der griechischen Antike weisen sowohl Masken als auch die Onomatopoetika der Tragödie überdeutlich auf diese ‚Leerstelle‘, auf das Loch hin. Die Weitung des Mundes markiert hier stets den Moment der Affektion, der den Prozessen der Signifikation entgeht, sprachlich nicht erfaßt und daher auch nicht verständlich artikuliert werden kann. Ein derartiger Moment stellt das Subjekt unweigerlich in Frage, und es ist gerade die Tragödie, mittels welcher der Mensch versucht, hierauf eine Antwort zu finden.¹⁰ Das antike Theater läßt das zentrale und basale pathos bereits in der Maske der Spieler evident werden. Diese ist durch ein überdimensioniertes Loch gekennzeichnet, und so tritt der offene Mund signifikant hervor, weithin ersichtlich, ehe eine Stimme ertönt, ein Wort gesprochen wird. In den bereits erwähnten Lauten des Chores am Ende der Tagödie wird der offene Mund hingegen ohrenkundig, tritt das pathos sonifikant hervor und sorgt für nachhaltige Resonanz. Im offenen Mund manifestiert sich das Aktuale des Affektiven, das nach Verhandlung, nach spielerischer Erwiderung drängt, und dies gilt ebenso für den Akt der Rezeption, wenn den Zuschauenden der Mund im Schrecken und im Erstaunen offensteht oder sich zum Lachen weitet – Akte, die paradigmatisch vom affektiven Einbezug des Publikums künden. Die Affektion verbindet das Ereignis mit den rezipierenden Subjekten, über Zeit und Raum hinweg, von der Antike bis in die Gegenwart. Der offene Mund ist unvergänglich. Als zentrale Evidenz für diesen Sachverhalt sticht nicht nur die antike Maske oder sein Gegenstück, der Gesang des Chores hervor, eine spontane und alles andere denn auf Vollständigkeit zielende Aufzählung von Theorien, Bildern, Filmen, Performances und Objekten, in denen der offene Mund eine zentrale Rolle spielt, bestätigt diese Annahme und ihre Gültigkeit durch die Jahrhunderte hindurch:

    Die Beispiele reichen von Skulpturen wie der ebenfalls aus der Antike stammenden, Hagesandros zugeschriebenen Laokoongruppe (Rom, 1. Jahrhundert) und weiteren Versuchen, diesen markanten Ort des Realen bildlich einzufangen (von Hieronymus Boschs Garten der irdischen Lüste aus dem 15. Jahrhundert bis zu Francis Bacons Bild Head IV aus dem Jahr 1948), bis zu Bauwerken, die als offene Münder den Eingang in die Unterwelt markieren (so der Orkus in der zwischen 1552 und 1585 für Vicinio Orsini angelegten Gartenanlage von Bomarzo, oder der Eingang des „Cabaret L’Enfer in Paris um 1900). Die Nachfolger dieser Schlünde erfüllen auch im 20. Jahrhundert in zahlreichen Vergnügungsparks ihre lächerlichschauerliche Funktion (so im Falle der „Märchengrottenbahn im Wiener Volksprater der Nachkriegszeit); ihre Vorgänger finden sich wiederum nicht nur als Fresken in zahlreichen romanischen und gotischen Kirchen, sondern auch in den mittelalterlichen Mysterien- und Passionsspielen, in welchen der Mund als Eingang zur Hölle ein tragender, die Handlung bestimmender Teil der Bühne ist (wie beispielsweise im Altfranzösischen Adamsspiel aus dem 12. Jahrhundert oder in der Passion von Valenciennes aus dem 16. Jahrhundert), aus dem bei entsprechender Umsetzung die realen Schreie der vermeintlichen Sünder dringen.

    Dies macht wiederum deutlich, daß der offene Mund nicht nur materialiter, im Artefakt und somit primär visuell manifest wird, sondern vor allem aufgrund seiner akustischen und performativen Dimension hervortritt: Populärwissenschaftliche Mythen wie Arthur Janovs Urschrei-Theorie (Arthur Janov, The primal scream, New York 1973), die in der filmischen Darstellung des Affenmenschen durch Johnny Weißmüller ihren fiktionalen Vorläufer findet (Tarzan – the ape man, 1932, Regie: W. S. van Dyke), müssen daher ebenso als Beleg für diesen Sachverhalt gewertet werden wie jene Gedichte, welche das Potential der daraus hervorbrechenden Stimme akustisch einfangen (Kurt Schwitters, Ursonate, 1923–1932; Allen Ginsberg, Howl, 1955; Ernst Jandls Lautgedichte aus den fünfziger Jahren). Ein Theaterstück, in dem die leere Bühne einzig und alleine von einem Mund bespielt wird (Samuel Beckett, Not I, 1972) und audiovisuelle Erkundungen rund um die und in der Mundhöhle aus dem Bereich der Kunst (Vito Acconci, open book, 1974) wie der Populärkultur (Jim Sherman, The Rocky Horror Picture Show, 1975) stellen die konsequente, moderne Fortführung dieser Auseinandersetzung mit dem Mund als Loch und ‚Leerstelle‘ dar.

    Vor allem die darstellende Kunst rückt den Mund immer wieder in den Mittelpunkt, und dies nicht nur in der antiken Tragödie. Im Musiktheater wird er zu einem impliziten Hauptdarsteller, im komischen und karnevalesken Spiel wird der Mund nahezu übermäßig eingesetzt, in Gestalt der Maske ist er in zahlreichen populären Spielformen abseits der Bühne vertreten. Selbst klassische, dramatische Texte wissen diese ‚Leerstelle‘ als wesentliches dramaturgisches Element zu nutzen (so das „Ach" der Alkmene in Heinrich von Kleists Amphitryon, 1803). Postmoderne und -dramatische Performances widmen sich ausführlich und exklusiv dem offenen Mund. Marina Abramovićs Freeing the voice aus dem Jahre 1976 folgen zahlreiche weitere orale Experimente (beispielsweise in Gestalt von endoskopischen Selbstbespiegelungen wie in Giulio Cesare der Socìetas Raffaello Sanzio, 1997), eine Entwicklung die derzeit in Aufführungen gipfelt, in welchen der sich permanent weitende Mund zum Solo-Instrument eines Konzerts wird (so bei Antonia Baehr, Lachen, 2009) oder als in Worten und Bewegung umschriebener Abgrund dem Tanz implizit zu Grunde liegt (La Ribot, Laughing hole, 2006).

    Zu guter Letzt läßt sich dieser Aufzählung noch eine surreale Paraphrase anfügen, wenn der Mund als Evidenz für pathos in etwas so scheinbar Banales, Alltägliches wie ein Sofa verwandelt wird, wie bei Salvador Dalís Objekt Mae West von 1937, dessen gepolsterte Lippen seidig glänzen und bei dem das pathos in Komik zu kippen scheint.

    In all diesen Beispielen kündet der offene Mund von mannigfaltigen Versuchen, das Affektive spielerisch einer Transformation zu unterziehen und darüber eine Erfahrung, eine Realität zu generieren. Sie verweisen paradigmatisch auf die pathische Grundierung des Subjekts und ihr Zentrum, den offenen Mund. Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme irrt folglich, wenn er in einem Essay über die Mund-Skulpturen des Schweizer Künstlers Anselmo Fox schreibt: „Der Mundraum ist niemals ein Ort künstlerischer Erkundung gewesen."¹¹ Vielmehr durchzieht der Mund in seinen verschiedenen Erscheinungsweisen die Kunst von ihren Anfängen an, durch alle Gattungen und Ausformungen hindurch. Aber was ist der offene Mund? Was bedeuten seine Weitungen?

    Charles Burns, Black Hole, 2004

    Comics spielen exzessiv mit dieser ‚Leerstelle‘, für die der Mund paradigmatisch steht. Sie gewinnen ihren Effekt maßgeblich aus einer brüchigen, löchrigen Kombination. Das singuläre Bild wird in eine Polyphonie überführt, zugleich treten die Auslassungen dazwischen hervor. In dieser Form wird die ‚Leerstelle‘ äußerst spielerisch vor Augen geführt und ihre Erwiderung von den Lesenden eingefordert. ‚Leerstellen‘ tauchen hierbei nicht nur zwischen den einzelnen Rahmen auf, sie determinieren auch das singuläre Bild und rücken die Differenz zwischen den verschiedenen Modalitäten der Darstellung in den Fokus: Die Schrift bietet fragmentarisch und den Vorgaben der Syntax nur lose folgend Inhalte und Bedeutungen an, die in einem verschobenen Verhältnis zum Abgebildeten stehen; die Bilder beinhalten wiederum weitere oder andere Referenzen und verschieben derart die Ebene der Schrift. Die sowohl in Schrift als auch im Bild fehlende akustische und affektive Dimension wird über optische Impulse kompensiert: subtile, graphische pathos-Miniaturen anstelle einer massiven Pathosformel.

    Welche verhängnisvollen Ängste aus der Tatsache entstehen können, ein oder auch mehrere Löcher zu haben und entsprechend durchlässig zu sein, führt der amerikanische Zeichner Charles Burns sehr gewitzt vor. Seine adoleszenten Figuren, die primär damit beschäftigt sind, eine Identität, eine Kontur – eine annähernd abgeschlossene Persönlichkeit – zu entwickeln, konfrontiert er mit dem Auftauchen von Löchern und Rissen an allen (un)möglichen Stellen des Körpers. Die Körper erweisen sich indes nicht nur als perforiert und durchlässig, aus diesen Löchern ergeht immer wieder eine eigene, andere Realität, sei es, daß diese Löcher sprechen oder Dinge auswerfen, sei es, daß sie umgekehrt Dinge und Körperteile verschlucken und verbergen. Diese, aus den Löchern hervorgehende Realität entscheidet immer wieder den Gang der Handlung und somit die Geschichte der Figuren. Es ist das Loch, das ihren Körper, ihre Persönlichkeit, sowie ihre soziale Ein- und Anbindung letztlich bestimmt. Den konsequenten Auftakt zu dieser Erzählung bildet oben abgebildete Sequenz, welche die übliche Konfrontation mit dieser ‚Leerstelle‘ verkehrt, indem der Blick aus dem Loch heraus geworfen wird. Das titelgebende ‚black hole‘ wird damit von Anfang nicht nur als ein Ort der Nichtung, sondern auch als ein Signet der Genese und der Geburt ausgewiesen. Seine Form zeitigt nicht zufällig die Konturen einer Vagina: Deren Ränder begrenzen und konturieren bekanntermaßen den Muttermund, durch den ein jedes menschliche Subjekt zur Welt kommt. Ein jedes Loch, ein jeder Mund verweist paradigmatisch auf diese sexuelle und (re)produktive Dimension.

    Die vorliegende Arbeit nimmt diese prominente ‚Leerstelle‘ im menschlichen Antlitz zum Ausgangspunkt, um das Spiel zu skizzieren, das sich aus ihrer Weitung entwickelt, das in mehrerlei Hinsicht konstituierend für das Subjekt ist, und in welchem der Akt der Rezeption unweigerlich mit dem Akt der Produktion verknotet ist. Denn der offene Mund fordert von den Betrachtenden gerade das ein, worauf er als Loch nur verweist: sonore und affektive, aber durchaus auch sprachliche und intellektuelle Resonanzen. Indem sie den Mund, das Loch, als Verweis auf Alterität und Negation begreift, setzt sie sich deutlich von solchen Studien ab, die den Einschränkungen eines zeichentheoretischen Modells entweder über die Konzeption eines performativen Ereignisses, das auf Basis einer Ästhetik des Erscheinens konzipiert wird, oder durch den Rekurs auf eine phänomenologische Intentionalität und Leiblichkeit entgehen wollen.¹² Der Glaube, die Entfremdung und Hybridisierung des Körpers durch den verstärkten Fokus auf sinnliche Präsenz kompensieren zu können, basiert, so die hier vertretene Position, auf einer Chimäre. Jede Erscheinung birgt ihren Schatten, jede Wahrnehmung impliziert notwendig einen Bruch, eine Verschiebung des Wahrgenommenen. Sinn/Bedeutung ergeht immer nur aus dem Widerstreit mit seinem Anderen, dem Sinnfreien, dem (noch) Nicht-Bedeutenden. Erst aus der Überbrückung dieser Klüfte und Leerstellen konstituiert sich unser Selbst- und Weltbild, ergeben sich Wahrnehmung und letztlich Bedeutung.¹³ Gerade der offene Mund verweist in aller Deutlichkeit auf diese Brüche. In Konsequenz muß nach der möglichen Verbindung zwischen dem Ereignis beziehungsweise Objekt und dem rezipierenden Subjekt gefragt werden. Diese Verbindung läßt sich – eine weitere, maßgebliche Prämisse der Studie – primär als eine Form der Affektion, genauer noch als affektive Resonanz beschreiben, weshalb eine darauf aufbauende ästhetische Theorie zwangsläufig die sonore Sphäre des Menschen reflektieren muß. Über die Resonanz wird indes keine Schließung dieses basalen Spaltes behauptet, denn auch sie ist eine Figuration des Bruchs. Hierauf macht insbesondere die akustische Sphäre des Menschen aufmerksam, die ihrerseits nur über den Umweg von Mund zu Ohr funktioniert. Da jede Evokation zugleich vernommen wird, geht mit ihr immer eine Spiegelung des Subjektes einher. Spiegelung heißt, etwas gleichsam zu entwerfen und wahrzunehmen, Projektion und Rezeption. In die Resonanz sind somit auch unweigerlich kognitive Mechanismen und Dispositive eingeflochten, die letztlich auch das Affektive umfassen. Trotz zahlreicher Studien zur Stimme fristet die akustische, sonore Episteme bislang jedoch ein Schattendasein. Die vorliegende Studie kann sich folglich nur auf wenige diesbezügliche Theorien berufen und muß ihrerseits Grundlagen in Hinblick auf ein resonierendes Subjekt schaffen.

    MÜNDLICHE WISSENSCHAFT

    Der offene Mund ist kein Phänomen alltäglicher Reflexion. Die Höflichkeit gebietet es, sich beim Gähnen oder Husten die Hand vor den Mund zu halten; Lachen mit weit aufgerissenem Mund wirkt obszön. Der offene Mund ist unangenehm, er verweist eindrücklich auf das Innenleben, auf den Bereich des Organischen und des Affektiven – eine Sphäre, mit der die Subjekte der Abendlandes für gewöhnlich nur mittelbar konfrontiert werden wollen. Unterschiedliche Mechanismen der Kultivierung dienen dazu, diese reale, physiologische Sphäre zu marginalisieren, aus dem Blick zu rücken; die Öffnungen des Körpers, zuvorderst der Mund und der After, bringen jene organische und reale Basis jedoch immer wieder in Erinnerung: Einverleibung und Ausscheidung sind die einfachsten Zugänge des Menschen zu seiner Umwelt, sie ermöglichen, eine Erfahrung zu machen und eine Spur zu hinterlassen. Im Umgang mit diesen grundlegenden Körperfunktionen werden daher erste kulturelle Formierungen deutlich, die hierbei entwickelten Techniken und Praktiken markieren den Anbruch von Kultur.

    Der offene Mund ist von erheblicher Relevanz für die Kultur- als auch die Subjekttheorie. Doch während die Ausscheidung, und damit der After, immer wieder zum Thema ästhetischer und theoretischer Auseinandersetzung gewählt wurde,¹⁴ ist der Mund als ebenso markantes Objekt bislang selten einer theoretischen Erörterung würdig befunden worden. Dies verwundert, da nicht erst seit Auffinden der Laokoongruppe der Mund im Zentrum des abendländischen Ästhetikdiskurses steht – bislang jedoch stets implizit und unreflektiert, als unbeschriebene und unbeschreibbare Leerstelle, „welche die widrigste Wirkung von der Welt tut."¹⁵ Der offene Mund ist in der Tat ein Anathema, während es zur Stimme als auch zur Eßkultur bereits eine Fülle an wissenschaftlicher wie belletristischer Literatur gibt. Die generelle Bedeutung des Oralen wird darüber hinaus vor allem von Seiten der psychoanalytischen Theorie reflektiert. Eine Studie, die jedoch den offenen Mund als zentrales Signet einer Ästhetik als auch einer Kultur des Performativen setzt und sich aus dieser Warte seiner annimmt, existiert bislang nicht.¹⁶ In ihr muß es um jene akustischen, visuellen und affektiven Äußerungen gehen, welche in den Weitungen des Mundes evident werden und die zwar nicht gänzlich im Gegensatz zu Sprache und Sinn zu denken sind, aber dennoch deutlich auf andere Formen der Erwiderung verweisen. Denn die mannigfaltigen Weitungen des Mundes eröffnen ein Feld, das von Sprache und ratio sowie von Schwingungen, Tönen und anderen physiologischen Vorgängen gleichsam durchdrungen, nicht aber begrenzt wird und welches mit unterschiedlichsten Strategien ihrer Diskursivierung und Ausdifferenzierung bestellt wird.

    Fallweise wird dieses Feld etwas plakativ mit den diametralen Polen der „Sinnkultur beschrieben, der unbedingt eine „Präsenzkultur als Kontrast gegenüber gestellt werden müsse, da die sinnhafte Sphäre für die Erklärung der Welt nicht ausreiche.¹⁷ Obgleich dies eine nachvollziehbare Forderung ist, stellt sie dennoch eine unzulässige Verkürzung dar. Sprache und ‚Leerstellen‘, Sinn und Präsenz, sind nicht als einander ausschließende Antagonismen zu denken: Sie gehören zwar unterschiedlichen Epistemen an, sind jedoch im menschlichen Körper verbunden – in Art einer Nicht-Übereinstimmung, eines Risses, einer Kluft. Deutlich wird dies beispielsweise im Gesang, welcher zwischen ausdrucksstarken Worten und sinnfreien Vokalisen changiert. Dies darf indes nicht zum vorschnellen Postulat einer wie auch immer gearteten Präsenz oder Materialität der Stimme verleiten. Gerade Gesang ist ‚weder/noch‘ und zugleich ‚mehr als‘; er ergibt sich aus beidem, ohne den Spalt dazwischen zu schließen. Die menschliche Stimme ist somit stets mehr als reines kommunikatives Mittel oder ausschließlich klangliches Instrument. Dazu wird sie erst im Ohr, sowohl im eigenen, wie in dem des Zuhörers, womit wiederum eine Form der Vermittlung und Reflexion zum Tragen kommt, die letztlich den Zweck und die Intention der stimmlichen Regung determiniert. Die reine Präsenz der Dinge als auch des Menschen erweist sich als eine Chimäre, oder zumindest als etwas Imaginäres, sie läßt sich nur vor dem Hintergrund von Leerstellen und Klüften, vor dem Inkommensurablen und Nicht-Verständlichen postulieren, und dies gilt nicht nur für die Figurationen und Artikulationen des offenen Mundes. Die Dinge sind uns – so die methodische Prämisse der Phänomenologie, die in der vorliegenden Arbeit einen Referenzpunkt darstellt – nicht durch physikalische Beschaffenheit oder ihre chemische Zusammensetzung, sondern primär in der Wahrnehmung gegeben. Diese ist aber stets an eine Form der kognitiven Transformation gebunden, welche das Ergebnis, die Form der Repräsentation, im Gehirn bestimmt. Der phänomenologische Terminus Intentionalität rückt daher weniger die gegebenen Objekte der Lebenswelt in den Fokus als das Subjekt und dessen Wahrnehmung und Bewusstwerdung. Wahrnehmung ist weder mit dem rezipierten Objekt oder Ereignis, noch mit dem Resultat, welches dem Wahrgenommenen seinen Titel gibt, identisch.¹⁸ Vielmehr ist davon auszugehen, daß im Prozeß der Wahrnehmung etwas Drittes entworfen wird, oder aber dieses Dritte, wie auch immer es bezeichnet wird, jegliche Wahrnehmung beeinflußt, filtert und dem Subjekt erst zugänglich macht.¹⁹ Die Rede von rein sinnlicher Wahrnehmung oder unmittelbarer Präsenz und ihrer Kultur gilt es daher zurückzuweisen. Gerade im Falle des Mundes und der aus ihm hervorbrechenden Stimme fragt sich, worauf seine Präsenz gründet, optisch wie akustisch: Ist es der Rachen? Sind es die Stimmbänder? Die leere Höhle? Das Gehege der Zähne?

    Aus kritischem Impetus gegenüber einer allzu oberflächlich verstandenen Phänomenologie, die vorschnell in der rein dualen Verbindung von Mensch und Lebenswelt mündet, setzt die psychoanalytische Kulturtheorie – die zweite wesentliche Referenz dieser Studie – in der fundierten Reflexion jener den Menschen spaltenden Differenz an und gesteht ihm ein weiteres, imaginäres Register zu, so daß das menschliche Subjekt nicht nur auf Materie/Präsenz und Sinn/Struktur zurückgeworfen ist, sondern, dank besagter Einbildung, auch der Täuschung und des Vertauschens dieser beiden Episteme ausgeliefert ist. Wahrnehmung als Imagination, als Entwurf meint denn auch, daß hierbei keine wie auch immer geartete totale, der Welt tatsächlich entsprechende Repräsentation erzielt werden kann, sondern der Entwurf immer erst vom Subjekt eingeholt werden muß. Dies heißt indes nicht, daß die wahrgenommene Lebenswelt eine utopische wäre. Konträr dazu bezeichnet das Imaginäre die Ordnung der vorhandenen Erscheinungen und faktisch beobachtbaren Phänomene.²⁰ Imaginär sind diese, da mit jedem oberflächlichen Erscheinen zugleich eine verborgene Struktur einhergeht, jede Präsenz solchermaßen zugleich von etwas Abwesendem kündet und jeder subjektive Blickpunkt die ihm eigene blinde Stelle birgt. Dies gilt nicht nur für die Objekte der Lebenswelt, sondern vor allem für das Subjekt. Auch das Ich ist, dem bekannten und prägnanten Slogan der psychoanalytische Theorie nach, stets ein anderer.²¹ Auffällig wird dies erst, wenn das Loch diesen Anderen akustisch reflektiert. Nicht zuletzt der Mund vermag diese Prämisse zu verdeutlichen, gerade weil aus ihm fallweise etwas anderes spricht, aber auch, weil seine Äußerungen fallweise weder der Kommunikation noch der Repräsentation dienen, sondern – wie im Gesang – ausschließlich auf etwas Imaginäres zielen. Erneut sei an dieser Stelle darauf verwiesen, daß nachgerade Kunst als ein Spiel zu verstehen ist, welches das Abwesende, Verborgene und Unfaßbare zur Grundlage hat und hierdurch das Imaginäre nicht nur in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt, sondern es gegebenenfalls, wie im Gesang, direkt adressiert. Das Spiel mit dieser imaginären Sphäre entpuppt sich als Notwendigkeit, um einem Umgang mit der Realität zu finden, diese lebbar zu machen.

    Vehement gegen das Spekulative und Obskure der Psychoanalyse wendet sich seit geraumer Zeit die Neurobiologie, die bekanntermaßen dem Theorem huldigt, daß ausschließlich das Gehirn die Vorstellung von den Objekten und letztlich von der den Menschen umgebenden Welt erzeugt. Die in der Neurobiologie entwickelten Erklärungen, welche mit jenen, den Schauspieltheorien nahestehenden Termini „Spiegelneurone oder „Als-Ob-Körper-Schleife umrissen werden, lassen indes keinen wirklichen Aufschluß über den Zusammenhang von lokalisierbarer Hirnaktivität und subjektiver Äußerung zu, können die Verschiebung und Entwicklung von Substanz zu Sinn ebenso wenig erklären wie die Phänomenologie oder Psychoanalyse. Letztere kann diese Verschiebungen immerhin in einem kleinen Rahmen nachzeichnen, weshalb führende Vertreter der Neurobiologie auch einen stärkeren Einbezug dieser Disziplin fordern.²² Doch auch hierdurch wird keine letztgültige Erkenntnis zu erwarten sein. Vor allem die Philosophie legt immer wieder dar, daß Bewußtsein weder durch die konkrete Reaktion auf ein Ereignis, noch durch das Zustandekommen einer meßbaren kognitiven Regung erklärt werden kann, sondern der Selbstreflexivität und dem Personenaspekt Genüge tun muß.²³ Daher ist es auch nicht zwangsläufig im Inneren des menschlichen Subjekts zu suchen, sondern ebenso in seinen Handlungen, in seiner Bewegung: „Consciousness is not something that happens inside us. It is something we do or make. Better: it is something we achieve. Consciousness is more like dancing than it is digestion",²⁴ schreibt der amerikanische Philosoph Alva Noë, das Bedeutungsfeld des Mundes über die Metaphorik der Verdauung aufgreifend, und fordert so dazu auf, bei der Suche nach dem Sinn und Unsinn der Dinge sowie der uns umgebenden Welt dem bewegenden und lebendigen Körper gegenüber dem toten Buchstaben, der vereinzelten Synapse, wieder verstärkt Aufmerksamkeit zu schenken. Denn es ist weder das gänzlich fremde, von uns abgetrennte Objekt, noch eine im Menschen angelegte abstrakte Struktur/Matrix, welche uns Wahrnehmung und Bewußtsein ermöglichen, sondern vor allem der Körper in seiner Eigenschaft als beweglicher, intelligibler sowie affektiver Resonanzraum.

    Die andere Seite der Hermeneutik

    Bei so ausgeprägten Kontroversen, die die starke Tendenz haben, zu Glaubensfragen zu mutieren, empfiehlt sich umso mehr die Bezugnahme auf das konkrete Objekt, auf den Mund und seine Weitungen. Als bedeutend erweist sich im Falle der ‚Leerstellen‘ primär der Akt der Artikulation, der Moment, an dem der Mund im übertragenen Sinne tanzt und zum offensichtlichen Zeichen des schwingenden, ‚resonierenden‘ Körpers wird. Die Weitungen und Schwingungen des Mundes tragen zur Herstellung eines Sinnes, zur Artikulation und Kommunikation mit einer Umwelt maßgeblich bei, ohne sich darin vollends zu erschöpfen. Der Mund beteiligt sich an erster Stelle an jenen Prozessen, die das Werden und wohl auch das Scheitern des Subjektes in Bezug auf den umgebenden Raum, die umliegende Welt und damit auch das (Un-)Bewußte bestimmen. Jegliche Weitung des Mundes, ihre phonetischen und visuellen Äußerungen müssen folglich als wesentliche und paradigmatische performative Akte aufgefaßt werden: Sie schaffen eine Realität, markieren den Ort des Subjekts in einem relationalen Gefüge und sind gerade deswegen als Akte der Setzung zu begreifen.

    Es war der amerikanische Sprachphilosoph John L. Austin, der im Jahre 1962 ausführlich darlegte, daß Sprache mehr als nur beschreiben kann. Jene Artikulationen, die zugleich einen Sachverhalt schaffen, in deren Äußerung sich zugleich eine Handlung vollzieht und eine Realität hergestellt wird, bezeichnete er fortan als „performative Akte, im Gegensatz zu jenen „konstativen Akten, in denen Sprache lediglich dazu verwendet wird, etwas zu be- und umschreiben. Performative Sprechakte sind für Austin durch zwei wesentliche Kriterien definiert: Sie sind selbstreferentiell, indem sie auf die Setzung, die sie durch den sprachlichen Vollzug herstellen, zugleich explizit hinweisen, und sie können sowohl in der Setzung als auch im Verweis darauf scheitern.²⁵ In Erweiterung von Austin, der im Rahmen seiner Forschung ausschließlich auf den alltäglichen Gebrauch von Sprache fokussierte und spezielle poetische oder ästhetische Akte der Sprachverwendung für seine Theorie unbeachtet ließ, hat die vorliegende Arbeit indes zur Prämisse, daß auch alle Weitungen, die mit dem Mund einhergehen, als performativ gelten müssen.²⁶ In diesen wird, wie einleitend gezeigt, ein Moment des chaotischen Ur-Sprungs evident. Die zugrunde liegende Weitung und Bewegung führt zu einer akustischen oder visuellen Artikulation, sie produziert eine eigene vermittelbare Realität. Sie stellt somit einen ersten performativen Akt dar, selbst wenn das Ergebnis nur aus unverständlichen und unübersetzbaren Lauten besteht, wie beispielsweise im Jammern, Weinen, Heulen und Klagen. Der mit dem offenen Mund verknüpfte performative Akt ist nicht intentional zu erfassen, und dies macht wohl auch seine Übersetzung in Sprache unmöglich. In all seinen Artikulationen stellt sich der offene Mund jedoch aus, sei es akustisch, sei es visuell, insofern ist er immer selbstreferentiell; und in all diesen Artikulationen kommt die Möglichkeit des Scheiterns paradigmatisch zum Ausdruck, da hierin ein Subjekt zur Debatte gestellt wird, das sich nur teilweise verständlich vermitteln kann. Der offene Mund wird diesen beiden, nach Austin wesentlichen Charakteristiken des Performativen mehr als gerecht, und macht dennoch keinen Sinn, sondern produziert am ehesten noch eine andere Form von Bedeutung.

    Es gilt jedoch nicht zu vergessen, daß neben jenen Figurationen, die fernab des Textes liegen und eine Setzung abseits des Sprachlichen zum Ziel haben, der offene Mund sowohl vor der Sprache (ehe etwas zu Worten gerinnt) als auch in Folge dieser (als Zeichen der Rezeption) evident wird, vor allem im Staunen und Lachen, und so in einem mittelbaren Verhältnis zur Sprache steht. Dieses Verhältnis läßt sich wohl am ehesten als eines der Negation beschreiben. Daher sei auf weitere Implikationen des Begriffes ‚performativ‘ hingewiesen, welche auf den offenen Mund ebenso zutreffen:

    Peggy Phelan stellt in ihrem erstmals 1993 publizierten Buch Unmarked die These auf, daß sich hinter diesem Begriff – den sie im übrigen, anders als Austin, aus der Kunst ableitet – gerade nicht markante Vollzüge und Handlungen verbergen. Seine Eigenheit resultiere vielmehr aus dem gegenteiligen Sachverhalt, daß darin etwas ‚Unmarkiertes‘ zum Ausdruck gelange, was den herkömmlichen und dominierenden Strategien der Repräsentation üblicherweise entgehe. Obwohl er immer wieder evident wird, gilt dies für den offenen Mund wie für kein weiteres Organ oder Körperteil des Menschen. Er ist über die Maßen auffällig, zugleich in seiner Bedeutung verschwommen. Seine Repräsentation ist, wie die angeführten Beispiele mehrfach gezeigt haben, nur ex negativo möglich. Für Phelan und ihre dezidiert feministische wie politische Argumentation resultiert dieses Nicht-Bezeichnete, das dem Performativen eigen ist, jedoch nicht aus einer ontologischen Prämisse des Realen – es ist folglich nicht nicht-bezeichenbar. Es geht vielmehr aus den spezifischen Strategien der Marginalisierung durch die Herrschenden hervor: Es soll beziehungsweise darf nicht bezeichnet werden. Das Nicht-Bezeichnete/Unmarkierte steht in Phelans Lesart unter Verweis auf die poststrukturalistische Theorie und mit Rückgriff auf Lacan und Freud vor allem für das Weibliche, indes der Bezeichnende als maskulin ausgewiesen wird. Ihr Fokus auf das ‚Unmarkierte‘ ist daher hauptsächlich als Kritik an der vorherrschenden Ideologie innerhalb der Wissenschaft und Kulturtheorie zu verstehen. Entsprechend weist sie mit der nötigen Insistenz auf all jene ‚Leerstellen‘ und blinden Flecke hin, welche die Formen der Repräsentation (bei Phelan vor allem Kunst und Politik) zwangsläufig hervorbringen, welche innerhalb der Kulturtheorie bislang jedoch nicht reflektiert wurden, da diesen, nicht nur von Seiten der Wissenschaft, kein adäquater Wert beigemessen und ebenso wenig Aufmerksamkeit zuerkannt wird. Dieser Sachverhalt kommt bei Phelan durch den Begriff ‚unmarked‘ nicht nur im metaphorischen Sinn zum Ausdruck,²⁷ der Begriff bildet recht eigentlich das Antonym zu Repräsentation. Phelan nimmt hierdurch eine wesentliche und nachhaltige Position im Begriffsverständnis von Performativität und im methodischen Diskurs der Performance-Studies ein,²⁸ die

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