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Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Wagner im Gegenlicht
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eBook455 Seiten5 Stunden

Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Wagner im Gegenlicht

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Über dieses E-Book

Editorial Aufsätze zum Schwerpunkt: Y. Tal: En blanc et noir - Debussys musikalische Wagner-Rezeption – S. Stauss / D. Borchmeyer: „... Tat und Wort am rechten Ort ...“ - Richard Wagner im Gegenlicht der Parodie – K. Schüssler-Bach: „Einige Tropfen Tannhäuserblut“ - Die Rinaldo-Kantate von Johannes Brahms - eine Befreiung von Wagner? – H. R. Vaget: Wagner in Amerika - Stationen einer alternativen Wirkungsgeschichte. Teil I: 1885-1917 – G. Braam: Richard Wagner in der zeitgenössischen Fotografie - Zur Wiederentdeckung des Wagner-Porträts von Louis Buchheister – H. Jacobs: Darauf einen Walküraçao! - Richard Wagner, betrachtet mit dem jüdischen Humor Alexander Moszkowskis – Aufsätze – P. P. Pachl: Richard Wagner und Karl von Holtei – A. Stollberg: Auf der Suche nach dem verlorenen Jetzt - Zeit-Paradoxien in der Götterdämmerung – K.-H. Reuband: Der Bayreuther Parsifal im Kino - Das Publikum der ersten Live-Übertragung der Bayreuther Festspiele und dessen Beurteilung der Aufführung und Übertragung ins Kino – Besprechungen / Bücher – CDs / DVDs
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Sept. 2014
ISBN9783826080258
Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Wagner im Gegenlicht

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    Buchvorschau

    Wagnerspectrum - Udo Bermbach

    Autoren

    Aufsätze zum Schwerpunkt

    En blanc et noir

    Debussys musikalische Wagner-Rezeption

    Yaara Tal

    Im Jahre 1861 kam Tannhäuser samt Venusberg-Skandalballett in Paris zur Aufführung und entzweite die französische Kulturwelt in Liebhaber und Gegner. Die spezielle französische Wagner-Wahrnehmung – der sogenannte „Wagnérisme" – betraf sein Werk, seine sonstigen Ab- bzw. Einsichten und nicht zuletzt die von ihm geschaffenen Mittel, um seine ästhetischen Träume zu verwirklichen. Diverse Musiker, Schriftsteller, Philosophen, haben viel und oft dazu ihre Meinungen geäußert, darüber geschrieben, gestritten, polemisiert, die werten Meinungen revidiert usw.

    Aber ein Komponist hat noch eine zusätzliche Möglichkeit – eine präzise und geheimnisvolle zugleich – seine Meinung bzw. seine Haltung kundzutun, und zwar direkt in seiner Musik, unter Umständen sogar im Widerspruch zu seinem verbalen Output. Diese Möglichkeit hat Debussy (1862–1918), dessen Beziehung zu Wagner im Allgemeinen als eine Bewegung vom Glühen ins Kühle gesehen wird, konsequent und virtuos genutzt.

    Zeit des Glühens

    Während der Phase der Schwärmerei entstand Debussys L’après-midi d’un Faune (1891–1894) nach einem Gedicht des Wagner-Bewunderers Stephan Mallarmé. Die betörende Schönheit der ersten Takte verführt Ohr und Seele unmittelbar in einen jenseitigen Traumraum:

    Notenbeispiel 1

    Claude Debussy: L’après-midi d’un Faune, T. 1–6 (Transkription für Klavier)

    Eine Analyse dieser Phrase lässt einige Merkmale erkennen, darunter die Tonart E Dur, und eine einsame Melodie, die um die Haupt-Töne cis und h mäandert, um sich endlich in das ais zu ergießen. In diesem Augenblick (T. 4) erscheint zum ersten Mal im Stück eine Harmonie, die den Flötenklang sanft empfängt und auffängt – als wäre dies die Urharmonie schlechthin.

    Stellt man dem die Schlussphrase des eingangs erwähnten Venusberg-Bacchanale gegenüber, wenn der Rauschpegel abebbt und Tannhäuser bei Venus ermattet döst, dann sieht das so aus (siehe S. 13).

    Man staunt nicht schlecht: Die langgestreckte, sehnsuchtsvolle Kadenz ist in E Dur, und die Melodie pendelt traumverloren um cis und h … Die Schlummerbewegung erreicht einen sanften Stillstand auf einer schwebenden Terz mit h in der Oberstimme.

    Spielt man die Klavierauszüge beider Werke direkt nacheinander, so fließen der Schluss des Wagner-Balletts und der Beginn des (zukünftigen) Debussy-Balletts völlig bruchlos ineinander – als habe Debussy sagen wollen: „Herr Wagner, ich nehme Ihre kulturhistorisch betrachtet so missbrauchte Liebesmusik auf und führe sie weiter in eine neue Liebe. Die agierenden Darsteller sind bei Ihnen, so wie im Gedicht von Mallarmé, ohnehin fast die Gleichen … Ich mache einfach da weiter, wo Tannhäuser unglücklicherweise eine ungünstige Fährte verfolgt. Wir behalten ihn in einer Welt, wo Liebe durch Erotik und Sinneslust zu sich selbst findet!" Oder mit anderen Worten: Wer als Tannhäuser eingeschlafen ist, wacht als ein Faun auf …

    Notenbeispiel 2

    Richard Wagner: Tannhäuser, Bacchanale (Schluss)

    Und um quasi jeglichen Zweifel daran auszuräumen, wo Debussy seine Inspiration sozialisiert sieht, setzt er diesen wunderbar schimmernden Akkord unter das besagte ais (Beispiel 1, T. 4): der Tristan-Akkord, leicht verwandelt.

    Notenbeispiel 3

    Tristanakkord „im Original, in „enger Ausführung, in der 1. Umkehrung, und dann transponiert = so wie im Faune

    Es lohnt sich, noch einen Blick auf das im Beispiel 2 zitierte Ende der Venusberg-Musik und dann gleich einen weiteren auf die letzten drei Takte des „Fauns" zu richten:

    Notenbeispiel 4

    Claude Debussy, L’après-midi d’un Faun (Schluss)

    Hier wie dort finden sich die getupften Glockenklänge vor dem E-Dur-Hintergrund und zuletzt eine in der Luft hängende Terz (als würde Debussy eine Einladung an einen zukünftigen Komponisten aussprechen, eine Fortsetzung zu schreiben und endlich dem frustrieren Faun eine unflüchtige Nymphe zu bescheren).

    Zeit der Kühle

    Kaum 15 Jahre später widmete Debussy seiner kleinen Chouchou den zauberhaften Zyklus Children’s Corner. Im letzten Satz, „Golliwogg’s Cake-walk", finden wir die folgende, berühmt gewordene Phrase:

    Notenbeispiel 5

    Claude Debussy: „Golliwogg’s Cake-walk" (Children’s Corner), T. 61–68

    Debussy zitiert mehrfach und offenkundig aus dem „Prélude" zu Tristan und Isolde und als Spielanweisung notiert er „avec une grande émotion um darauf – ganz trocken – jeweils ein verstohlenes Gekicher als Kommentar zu servieren. Dieses „große Gefühl wird entweiht und dabei degradiert zum Motivspender für einen Mittelteil in einem swingenden Ragtime, der ansonsten eher Entertainment und Spaß zum Inhalt hat. Hier geht Debussy auf Distanz zu Wagner und zeigt, was er als lächerlich und überholt empfindet. Tristan als Treppenwitz. Damit thematisiert er die mittlerweile entstandene Kluft zwischen den künstlerischen Konzepten der beiden Komponisten: Für Debussy ist nämlich der optimale Ausdruck eines Gefühls erst dann erfasst, wenn es subtil angedeutet, versteckt, flüchtig, aber nie allzu eindeutig, nie zu ausufernd ist.

    Bereits die Eck-Beispiele Faune und „Golliwogg lassen erahnen, wie komplex und uneinheitlich der „Austausch zwischen Debussy und Wagner war, wie viele Facetten und Aspekte dieses Spannungsverhältnis auszuhalten hatte. Und wie viel Widerspruch.

    Eine Umleitung: Was machten derweil die Kollegen?

    Wagner’sche Leitmotive und Themen waren auch für andere französische Komponisten dankbare Objekte einer lästerlichen Begierde. Zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang z.B. die Souvernirs de Bayreuth von Fauré/Messager (1888) oder die Souvernirs de Munich von Chabrier (1886, beides Werke für Klavier zu vier Händen). Dass Saint-Saëns in seinem Karneval der Tiere (1886) einige seiner bereits verstorbenen Pariser Kollegen (Offenbach, Berlioz, Rossini) veralbert, ist bekannt. Ich denke, dass zu dieser Liste auch Wagner addierbar wäre: Im bombastischen sich löwenhaft gebärdenden Marsch zitiert er aus den Meistersingern wie auch aus dem Fliegenden Holländer :

    Notenbeispiel 6a

    Camille Saint-Saëns: „Königlicher Marsch des Löwen" (Karneval der Tiere)

    Notenbeispiel 6b

    Richard Wagner. Meistersinger. Ouvertüre

    Notenbeispiel 7a

    Camille Saint-Saëns: „Königlicher Marsch des Löwen" (Karneval der Tiere)

    Notenbeispiel 7b

    Richard Wagner. Fliegender Holländer. Ouvertüre.

    Notenbeispiel 8a

    Camille Saint-Saëns: »Königlicher Marsch des Löwen« (Karneval der Tiere)

    Notenbeispiel 8b

    Richard Wagner: Fliegender Holländer. Ouvertüre.

    Allerdings ist diese Art der Auseinandersetzung mit dem Phänomen Wagner relativ äußerlich, denn es werden dabei lediglich mehr oder minder bekannte Motive und Gesten in ein neues Musikgewebe eingeschleust, ohne eine spezifische, individuelle Bezugnahme zu verdeutlichen.

    Feiner und raffinierter geht Paul Dukas in seinem nach einer Ballade von Goethe komponierten Zauberlehrling (1897) vor:

    Notenbeispiel 9

    Paul Dukas: Der Zauberlehrling, T. 1–2

    Das irisierend-nachdenkliche, immer wiederkehrende Thema ist aber aus der Götterdämmerung entnommen:

    Notenbeispiel 10

    Richard Wagner: Götterdämmerung, Schluss-Szene

    Und was für eine reizvolle, mit Ironie behaftete Idee: Es handelt sich um das Wasserspiel-Leitmotiv der Rheintöchter! Dukas weist mit diesem Kunstgriff gleich von des Werkes Beginn an auf die verborgenen Gefahren im Element Wasser. Bei Wagner ist es ein Fluss – bei Dukas ein Eimer …

    Eine gesonderte Abhandlung hätte der wunderbare Albéric Magnard (1865–1914) verdient, dessen Musik (darunter drei Opern) immer noch sträflich ignoriert wird. Dabei gibt es kaum einen Komponisten, der so ehrlich und eigenwillig mit dem Erbe Wagners umgegangen ist wie er!

    Unerwartet ist der recht respektvolle Umgang Erik Saties mit Wagner – ausgerechnet von jenem Mann, der sich immer knapp und sarkastisch fasste, frei jeglicher Gefühlsduselei. Womöglich gerade weil Satie so anders geartet war, konnte er gelassen, schmerzlos und ohne Abriebverlust auf Wagner schauen. Freilich postulierte auch er (sogar noch vor Debussy, übrigens beides Rosenkreuzer-Sympathisanten), dass die französische Musik nur dann eine „Chance" hätte, wenn sie Wagner beiseite ließe und eigene Wege ginge.¹

    In Weiß und Schwarz

    Über den signifikanten Einfluss, den das Werk Wagners (speziell Tristan und Parsifal) auf Debussy ausgeübt hat und über dessen Widerhall beispielsweise in den Cinque poèmes de Baudelaire, in Pelléas et Mélisande oder Jeux, ist bereits reichlich berichtet worden.²

    In seinen Schriften (ab 1901) und in diversen Briefen wirbelte hingegen Debussy unermüdlich seinen Kritiker-Stab, dabei mit Vorliebe die deutsche Kultur samt ihrem Hauptvertreter Wagner genüsslich traktierend. Er distanzierte sich vehement, ja bisweilen fast angewidert von allem Deutsch-affizierten. Seine Glosse Eindrücke vom „Ring des Nibelungen" in London liefert dafür einen kraftvollen Beweis.³

    Indes thematisiert eine ganz bestimmte Komposition Debussys die vielschichtige Auseinandersetzung mit Wagner in bemerkenswerter Weise: Das enigmatische Triptychon En blanc et noir (ab jetzt: Eben) für zwei Klaviere aus dem Jahr 1915, anlässlich der kriegerischen Gewalt entstanden und durch den schmerzlichen Verlust eines geschätzten Freundes als Bekenntnismusik einzustufen. Der Zyklus hat Spätwerk-Charakter, lässt Klanggebilde entstehen, die musikalisch komplexe, zukunftsweisende Dimensionen eröffnen und erschließen. Collageartig komponiert, klingen Übergänge oftmals abrupt, beinahe zusammenhanglos. Schon der Titel impliziert das Vorhandensein eines Kontrasts, oder gar eines Konflikts. Freilich: Weiß und Schwarz sind auch die Farben der Klaviertastatur (und mit Ausnahme der kleinen Lindaraja ist Eben leider das einzige Werk Debussys für zwei Klaviere).

    Debussy streut, auf das ganze Werk verteilt, dezente Spuren, feine Hinweise, wie man sich dem Konzept dieser von Goyas Caprichos inspirierten Komposition nähern könnte: Der 1. Satz, ein Geschwind-Walzer, trägt als Motto eine Strophe aus dem Libretto zur Oper Roméo et Juliette von Gounod: „Wer an seinem Platz bleibt / und den Tanz nicht mitmacht / gesteht leise ein / dass er was dagegen hat". In Kriegszeiten geht es natürlich nicht um den Salon-Tanz, sondern um den Tanz der Krieger, und um die tatsächlichen und ideologischen Deserteure, Gesellschaftsvertragsbrüchige, die hier scheel angeschaut werden.

    Einem, der sich hingegen geopfert hat, dem Leutnant Jacques Charlot, widmet Debussy den 2. Satz, eine Art „War Requiem" en miniature. Als Motto sind einige Zeilen aus der Ballade Contre les ennemies de la France von Francois Villon vorangestellt. Eigentlich ein Fluch: „Mein Fürst, denjenigen mögen Äolus’ Knechte / in den Wald bringen, in dem Glaucus herrscht, / wo es weder Frieden noch Hoffnung gibt, / da er unwert der Tugend ist, / der Frankreichs Königtum Übles will".

    Der 3. Satz, ein Scherzando, trägt als Motto eine knappe Zeile, einem Gedicht von Charles d’Orleans entnommen: „Winter, Du bist ein übler Schuft …" Der Winter, die Zeit des Finsternis und der Kälte, hier als ein Symbol für das Böse, für die Kaltherzigkeit – dient er etwa als Thema für einen Scherz?

    Diese literarischen Vorlagen sind bereits ein Plan, ein Assoziationsrahmen. Im zentralen 2. Satz kommen zusätzlich aufklärende, musikalische Statements: Der Choral Ein feste Burg ist unser Gott wird einige Male zitiert, und soll „lourd bzw. „rude klingen; schwerfällig, grob, rau, roh.

    Als Widerpart kommt die Marseillaise des Öftern vor (und zwar im gesamten Zyklus), nur bemerkt man sie so gut wie gar nicht, denn sie versteckt sich, sie erscheint nur fragmentarisch angetupft, gerade nur einigermaßen erkennbar, „leggierissimo", wie Glockengeläut aus der Ferne … Bloß nicht allzu konkret.

    Versteht man dieses Prinzip der Gegensätze als programmatisch, als ein Bekenntnis zum ästhetischen Erlebnis-Bedürfnis beider Nationen, wird auch der 1. Satz mit seinen zum Teil krassen Brüchen plausibel: Wenn die fein gewebte klangliche Textur plötzlich durch polternde Geste jäh unterbrochen wird, dann sind da die Teutonen am Werke, die plump an die wohlbalancierte Konstruktion der französischen Ausdrucksdisziplin stoßen.⁴ Oder in Madame de Staëls Worten aus ihrem Bericht aus Deutschland: „In der Seele mag zwar Poesie schlummern, doch in den äußeren Formen gibt es keine Eleganz".⁵

    Der Tod

    Gerade dort, wo Debussy recht abschätzig über die deutsche Kultur sinniert, vor dieser Folie negativer Empfindungen, lässt er den Beginn des 2. Satzes aus Eben, seine „Tombeau-Komposition", so erklingen:

    Notenbeispiel 11

    Claude Debussy: Eben, 2. Satz, T. 1–5

    Große Terzen schleppen sich im Bassregister mühsam in die Tiefe. Dort verharrend, ertönen leise pochende C-Oktaven-Paare, unerbittlich, und düster, wie Debussy vom Pianisten erwartet. Ist diese Kombination nicht schon von irgendwo bekannt?

    Notenbeispiel 12

    Richard Wagner: Götterdämmerung, 3. Aufzug, 2. Szene (Siegfrieds Tod)

    Debussy betrauert in diesem Satz einerseits das Ableben eines jungen französischen Soldaten, prophezeit im weiteren Verlauf den Sieg Frankreichs – und zitiert gleich zu Beginn aus der Musik zum Tod des Wälsungensprosses! Er schafft dadurch eine unterschwellige Solidarität und Sympathie mit diesen beiden Figuren männlichen Unglücks. Und auf der Metaebene konstatiert er wohl die schicksalhafte Verbundenheit der beiden sich seit 1914 erneut bekriegenden Völker.

    Debussy „bedient" sich aber nicht nur des pochenden Bassmotivs, er harmonisiert zugleich die letzten vier Töne der schlangenhaften, finsteren Melodie, die den Tod Siegfrieds begleitet. Er addiert zur sinkenden Tonfolge B-As-G-G eine große Terz. Der Klang ist sehr eigentümlich. Obgleich so düster, hat er etwas Offenes und Schmerzliches:

    Notenbeispiel 13a

    Richard Wagner: Todes-Motiv (Trauermarsch)

    Notenbeispiel 13b

    Claude Debussy: Eben. 2. Satz, T. 1–3

    Als hätte Debussy ein Geständnis ablegen wollen: „Zwar schimpfe ich über Wagner so oft und so gut es nur geht, aber wenn es darum geht, den trefflichen musikalischen Ausdruck zu finden, der das Gefühl des Schmerzens, der Trauer, des Verlusts wiedergibt – da kenne ich nichts Besseres, Berührenderes. Wagner hat uns dazu das Ultimative geliefert". Man könnte sogar wagen weiterzugehen und sich vorzustellen, dass Debussy mit diesem Tombeau nicht nur dem gefallenen Soldaten ein Denkmal setzt, sondern auch Wagner. Eine Verbeugung, eine révérence.

    Dieser todhauchende Rhythmus musste wohl auch Ravel gefangen genommen haben: 1908 entstand sein dreiteiliger Zyklus Gaspard de la Nuit nach Gedichten von Aloysius Bertrand (der seine Inspiration wiederum bei Bildern von Rembrandt und Callot fand). Der Mittelsatz „Le Gibet (Der Galgen) hat als eine durchgehende, alptraum-beschwörende Klangkulisse diesen Oktaven-Doppelschlag. Ob dieser Zusammenhang dem genialen Ravel bewusst war, als er das Stück schrieb? Ob ja oder nein, ist hier eigentlich von marginaler Bedeutung, denn diese eindringlich pochende, Wagner zuzuschreibende „Erfindung hat sich – andere Optionen erfolgreich verdrängend – „durchgesetzt".

    Notenbeispiel 14

    Maurice Ravel: „Le Gibet" (Gaspard de la Nuit), T. 1–3

    „Marseillaise contra „Ein feste Burg

    Die Entscheidung Debussys, die Konfrontation zwischen Franzosen und Deutschen als Gegenüberstellung zweier Melodien darzustellen, ist nicht neu: In der Ouvertüre „1812" von Tschaikowsky beispielsweise, trifft die Marseillaise (alias Napoleons Armee) auf Gott schütze den Zar – und sie „unterliegt". Wollte Debussy dieser Schmach vielleicht ein anderes Szenario entgegensetzen? Ob mit les ennemies im Motto dieses Satzes wohl auch die russischen Krieger gemeint sind, die einst Napoleon besiegt hatten?

    Gerade dieser militärischen Niederlage hat Heinrich Heine sein Gedicht Zwei Grenadiere (1822) gewidmet: Die Vision eines schwer verwundeten französischen Soldaten erreicht ihren leidenschaftlichen Höhepunkt, als er über sein gedachtes Grab den eigenen Kaiser reitend imaginiert. Sowohl Robert Schumann (1840) als auch Richard Wagner (1839/1840) legten in ihren Vertonungen dieses Textes (unabhängig voneinander!) die Marseillaise unter die letzten Strophen der Romanze. Das wiederum konnte Debussy unmöglich gut finden! Er sagte – zwar nicht direkt im Bezug auf dieses Lied, doch im Allgemeinen: „Schumann hat Heinrich Heine nie verstanden. So ist wenigstens mein Eindruck. Er war ein großes Genie, aber für die feine Ironie bei Heine hatte er keinerlei Gespür."⁷ Diesen Mangel an „Feinheit, an „Ironie, fand Debussy schlichtweg unkultiviert. Dieses Urteil dürfte den Grenadieren Wagners umso mehr gelten, denn dort ist die Marseillaise und die gesamte Situationsschilderung noch pathetischer und bis zum Schluss krachend (bei Schumann stirbt dagegen am Ende die Stimme vollkommen desillusioniert).⁸

    Wagner schrieb 1871 (also etwa 30 Jahre nach der Komposition der Grenadiere) den recht pompös auftrumpfenden Kaisermarsch (WWV 104). Darin geht es um den Sieg Deutschlands über Frankreich und Ein feste Burg durfte als Siegeshymne dienen.⁹ Nach dieser herben Niederlage tat sich ein Abgrund zwischen beiden Kulturen auf, und deutsche Musik wurde in Frankreich fortan gemieden. Es herrschte eine Trennung, Abkehr, ja Abneigung, „Feindseeligkeit".

    Zunächst scheint Eben diese abgrenzende Haltung nur fortzusetzen zu wollen, aber bei genauerer Betrachtung sieht man wie behutsam Debussy die Essenzen beider Melodien ineinander verflicht. Das Kernelement des Marseillaise-Hauptmotivs ist eine Quarte, von einer Sekunde gefolgt; das des Chorals eine Quarte, die mit Sekundschritten gefüllt ist:

    Notenbeispiel 15

    Marseillaise:

    Ein feste Burg:

    Debussy aber setzt diese sich scheinbar entfremdeten Komponenten häufig so zusammen, als wäre das vollkommen natürlich, selbstverständlich, als wären sie unzertrennlich. Das möchte ich anhand zweier Stellen beispielhaft ausführen: Direkt nach dem „Siegfried-Zitat erklingen zwei „weiße Melodien. Ein volkstümliches Wiegenlied und eine „einsame Weise. „Weiß, weil auf den weißen Tasten gespielt und im Charakter rein, einfach, ursprünglich. Diese volkstümlichen, liedhaften Linien beinhalten die typischen Auszüge der sich „bekriegenden" Gesänge:

    Notenbeispiel 16a, 16b

    Claude Debussy. Eben, 2. Satz, T. 12–14

    T. 18–21

    Erinnert man sich an die schmerzgeladenen großen Terzen zu Beginn des Satzes (Beispiele 11, 13b) und kombiniert diese mit der Essenz der Marseillaise, entsteht eine wundersame Begegnung, die Wagner in das bewegende Wälsungen-Motiv „eingebaut" hat:

    Notenbeispiel 17

    Richard Wagner: Wälsungen-Motiv

    Das ist selbstverständlich kein Hinweis auf Ideenübernahme oder Ähnliches! Wohl aber auf den gemeinsamen Ursprung von Ideen, auf eine Art musikalische „Ursuppe", in der sich Gesten, Gebärden, Urmotive und Dergleichen tummeln, die von Tonsetzern aufgefischt werden, um daraus – je nach Genie – ein musikalisches Werk zu erschaffen.

    Scherzando

    Gilt der 2. Satz – der etwas von einer Totenmesse hat, in deren Mittelteil ein absurdes Schlachtengemälde evoziert wird – als eine nuancenreiche Auseinandersetzung mit der deutschen Kultur und ihrem Botschafter Richard Wagner, so ist der 3. Satz eine Ironisierung, ja beinahe eine Verspottung der Leitmotiv-Technik. Debussys Wahl, Themen aus dem Ring dafür zu verwenden (und nicht aus Tristan oder Parsifal) ist von seiner Warte aus gesehen konsequent und folgerichtig, denn er brauchte einen germanischen Stoff, um ihn vergnügt „durch den Kakao" zu ziehen. Und das tut er vom ersten Takt an: Zwei kurze Ketten leicht getupfter Sekunden, von einer aufsteigenden Terz gehalten, münden in einen säuselnden, lang ruhenden Akkord. Darauf bricht ein dreifaches Gegluckse aus. Diese Prozedur wird sicherheitshalber gleich wiederholt.

    Notenbeispiel 18

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 1–4

    Diese Vorgehensweise ist identisch mit derjenigen in Beispiel 5. Aber welchem Motiv gilt hier das Gekicher-Trio? Es ist eine Mutation der immer wiederkehrenden Sekundengirlanden des Trauermarsches aus Siegfrieds Tod (die ja auch zu Beginn des zweiten Satzes vorkommen):

    Notenbeispiel 19

    Richard Wagner: Götterdämmerung, 3. Aufzug, 2. Szene (Schluss)

    Es ist wieder an der Zeit zu betonen, dass Debussy sein Zitat-Material stets verwandelt. Das Körperhafte wird reduziert und sublimiert, ohne allerdings die Spuren völlig zu verwischen. Vor dem Sechzehnteln- Gekicher im Secondo (Beispiel 18 T. 3) gibt es im Primo drei Mal einen „Wisch. Dieser gehört, wenn man so will, zum Motiv der Riesen (Fafner und Fasold), zur Idee des ungehobelten Kraftprotzes, dem „Schuft im Motto des 3. Satzes (Französisch Original: Villain).

    Notenbeispiel 20

    Richard Wagner: Riesen-Motiv

    Der Satz entfaltet sich in Form eines Rondos. Der Refrain-Teil erklingt zum ersten Mal in den Takten 7 und 8. Das Motiv besteht aus Terzen die süß und weich ab- und aufschwingen:

    Notenbeispiel 21

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 7–9

    Die Oberstimme dieses Motivs umfängt eine Septime, die sich quasi unendlich rollen kann. Darin sehr verwandt mit dem Ring-Leitmotiv:

    Notenbeispiel 22

    Richard Wagner: Ring-Motiv

    In rhythmischer Metamorphose wird der Ring (der aus dem Rheingold geschmiedet wurde) auch zum goldenen Haar des Mädchens in Debussys anmutigem 8. Prélude.

    Notenbeispiel 23

    Claude Debussy: „La fille aux cheveux de lin" (Préludes I), T. 1–3

    Strawinsky

    Den 3. Satz widmete Debussy Igor Strawinsky, der zu jener Zeit im Schweizer Exil lebte. Der Hinweis auf den Schulterschluss mit dem jüngeren Kollegen, einem unerbittlichen Verfechter für das Neue in der Musik, will uns sagen: Diesen Kampf tragen wir gemeinsam aus! Debussy zitiert hier eine Melodie aus Strawinskys 1910 uraufgeführtem Ballett Der Feuervogel. Diese volkstümliche Melodie erscheint im letzten Teil des Balletts, nachdem der böse Zauberer Kastschai besiegt wurde und sein Zauberreich verschwunden ist.

    Notenbeispiel 24

    Igor Strawinsky: Der Feuervogel, 2. Tableau

    Es stellt sich die Frage, warum Debussy ausgerechnet aus dem Feuervogel zitiert. Die Geschichte des Balletts beinhaltet einige Elemente, die in dieser Kriegsdüsternis für Debussy von großer Faszination gewesen sein dürften: Schließlich geht es darin um die Befreiung vom Joch des Bösen durch Eleganz, Schönheit und Liebe. Und die Geschichte hat auch einen Zaubergarten, für Debussy eine Idee von unvergleichlicher Anziehungskraft und Inspiration. Pelléas et Mélisande sowie das Ballett Jeux sind die exponierten Beispiele dieser Affinität. Debussys Zaubergarten-Faszination hat ihre Wurzeln bei Wagner: Klingsors Zaubergarten im Parsifal ist bekanntlich die Quelle der Debussy’schen Garten-Passion. Schaffte er es, sich nachhaltig davon abzunabeln – so wäre er frei!

    Strawinskys liedhafte Melodie wird von Debussy jedoch nicht eins zu eins übernommen: Er hebt die für das Lied typischen rhythmischen Werte durch Angleichung auf, verändert hie und da leicht die Töne und gibt dem kleinen Zitat ein eigenes Ende (T. 25–28). Nun erleben wir, wie diese kleine Strawinsky-Phrase in die Wagnersche Mangel genommen wird: Debussy wendet hier eine Methode der Verarbeitung an, die sich Wagner so beherzt und atemberaubend gekonnt zunutze gemacht hat, nämlich Sequenzen einer Melodie sich emporwinden und in die Höhe schrauben zu lassen. Eine Art Mischung aus Verzückung und Entflammung.

    Notenbeispiel 25

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 25–42 (Auszug)

    Die Musik zu Brünnhildes letzten Worten am Scheiterhaufen (ab „Fühl meine Brust auch, wie sie entbrennt") gibt ein vorzügliches Beispiel für diese Technik.

    Notenbeispiel 26

    Richard Wagner: Götterdämmerung, Schlussszene (Auszug)

    Einmal ganz hoch oben angekommen, erfolgt – sowohl bei Wagner als auch bei Debussy – der anschließende, in großen Schritten vollzogene unvermeidliche Sturz (bei Wagner springt Brünnhilde ins Feuer):

    Notenbeispiel 27a

    Richard Wagner: Götterdämmerung (Schluss)

    Notenbeispiel 27b

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 45–48

    – wobei Debussy als Kommentar wieder das vom Beginn vertraute Gekicher (Beispiel 18) hinzufügt.

    Hagen und dessen letzte Worte

    Dieses Scherzando-Stück ist mit den typischen Spielanweisungen „leggierissimo, „dolce, „delicatamente usw. versehen. In Takt 61 tritt allerdings ein neues Thema auf: Dieses sollte „en dehors und „mordant" gespielt werden, also beißend!

    Notenbeispiel 28

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 61–68 (2. Klavier)

    Prüft man es auf seine rhythmische und melodische Charakteristik, so wird dabei eine musikalische Erinnerung wach: „The Little Shepherd, der kleine Schäferjunge, der auf seiner Flöte – „très doux et délicatement expressif – eine Melodie intoniert:

    Notenbeispiel 29

    Claude Debussy: „The Little Shepherd" (Children’s Corner), T. 1–3

    Was Debussy in einer idyllischen Kinderwelt so poetisch und zart präsentiert, wird in Eben zu einer Fratze, gespickt mit vielen bedrohlichen Tritonus-Intervallen. Was dadurch erkennbar wird, ist die Identität des vermeintlichen „Villain: Es ist Hagen! Das Hagen-Leitmotiv ist der absteigende Tritonus, von je her ein teuflisches Intervall! Daher könnten Skeptiker natürlich einwenden, dass dies doch noch kein genügender Beweis für diese Hagen-These sei. Um etwaigem Widerspruch zu entgegnen, hat es Debussy 20 Takte später für immer geklärt. Erinnern wir uns: Nach Brünnhildes letzten Worten kommt noch Hagens allerletzter Schrei „Zurück vom Ring! (danach sagt niemand mehr irgendetwas in der Götterdämmerung). Die entsprechenden Töne sind: Des, B und E. Direkt im Anschluss an diese Aufforderung wird Hagen von den Rheintöchtern mit in die Tiefe des Rheins gezogen (große Terzen, die nach unten purzeln):

    Notenbeispiel 30

    Richard Wagner: Götterdämmerung (Schluss)

    Und bei Debussy: die tonlich exakte Entsprechung. Sogar der Rhythmus ist vergleichbar.

    Notenbeispiel 31

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 96–97

    Ganz schadenfroh setzt Debussy fünf Takte später zum Hagen-Tritonus einen Triller im ersten Klavier, so als würde er beim Ertrinken blubbern, während im Secondo die Terzen in des Wassers Strudel stürzen:

    Notenbeispiel 32

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 102–103

    Feuerzauber

    Das Wesen, das musikalisch den Charakter des 3. Satzes am meisten bestimmt, ist aber Loge, der Wagner’sche Feuergott. Er ist befähigt, zusammen mit Strawinskys Feuervogel einen Brand zu entfachen, der alles Böse ausrottet und vernichtet. Ein Megabrand, wie am Ende der Götterdämmerung, wenn Walhall glüht – und die Götter mit.

    Trotz seiner enormen Wandlungsfähigkeit sind die Kleine-Sekund- Bewegungen das typischste Merkmal Loges:

    Notenbeispiel 33

    Richard Wagner: Loge-Motiv

    oder:

    Notenbeispiel 34

    Richard Wagner: Loge-Motiv

    Ein typischer, punktierter Loge-Rhythmus ist:

    wie hier:

    Notenbeispiel 35

    Richard Wagner: Loge-Motiv

    Debussy übernimmt diesen Rhythmus in der Verkleinerung:

    Notenbeispiel 36

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 117–118

    Dann gibt es das dunkle Lodern Loges:

    Notenbeispiel 37

    Richard Wagner: Loge-Motiv

    In der Eben-Variante:

    Notenbeispiel 38

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 126–128

    Eine wunderschöne Zusammenfassung verschiedener Loge-Motive hat Debussy brillant geschmiedet:

    Notenbeispiel 39

    Claude Debussy: Eben, 3. Satz, T. 129–131

    Entsagung

    Besonders trivial fand Debussy die Leitmotiv-Technik, wenn sie auf Personen bezogen ist: „Wie unerträglich werden diese Leute in Helm und Tierfellen am vierten Abend! Stellen Sie sich vor, dass sie nie ohne Begleitung ihres verdammten Leitmotivs erscheinen; manche singen es sogar! Sie gleichen gelinden Narren, die Ihnen Visitenkarte überreichen und gleichzeitig den Text wie ein Gedicht deklamieren!"⁴ Siegfried, Hagen, Loge: Ein Held, ein Bösewicht und ein

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