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Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Lohengrin
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eBook544 Seiten4 Stunden

Wagnerspectrum: Schwerpunkt: Lohengrin

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Über dieses E-Book

Editorial Aufsätze zum Schwerpunkt: E. Ukena-Best: Erzähltexte des deutschen Mittelalters in Richard Wagners Lohengrin – G. Neumann: „Nie sollst Du mich befragen“. Zum Ritual der Liebesprobe in Wagners Lohengrin – V. Mertens: Durch Gottes Sieg ... - Gottesurteile im Lohengrin und anderswo – M. Gockel: Gnadenlose Reue. Zur theologischen Dimension des Lohengrin – T. Janz: Vom Ende der Ironie – A. Stollberg: Schreiten - Schwimmen - Schweben. Zur „Formgebärde“ von Elsas Brautzug im II. Akt des Lohengrin – T. Seedorf / C. Bahr: Wagners Konzeption des Lohengrin und das Dresdner Sängerensemble – J. von Boehm: Lohengrin als Feindbild der „progressiven“ sozialistischen Kunst – Gespräch – S. Friedrich: „Ich gehe ja nicht in die Oper, um Töne zu hören“. Ein Interview mit Annette Dasch – Aufsätze – U. Konrad (mit Exkursen von Margret Jestremski und Christa Jost): Richard Wagner Schriften (RWS). Historisch-kritische Gesamtausgabe. Dimensionen und Perspektiven eines Editionsvorhabens – C. Behme: „Ein furchtbares Verbrechen ward begangen“. Schuld und Sühne in der Tannhäuser-Legende – K. Köpp: Wagner historisch. Methoden und Ergebnisse eines interpretationsgeschichtlichen Forschungsansatzes – Besprechungen / Bücher – CDs / DVDs
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Sept. 2014
ISBN9783826080296
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    Buchvorschau

    Wagnerspectrum - Udo Bermbach

    Aufsätze zum Schwerpunkt

    Erzähltexte des deutschen Mittelalters in Richard Wagners Lohengrin

    Elke Ukena-Best

    Die vielgestaltige, methodisch von Werk zu Werk variierende Mittelalterrezeption Richard Wagners ist in der Forschung häufig behandelt worden. Auch die mittelalterlichen Texte, die Wagner bei der Erarbeitung seiner Lohengrin-Dramatisierung1 heranzog, sind hinlänglich bekannt und insgesamt gut dokumentiert. Sie wurden mehrfach zusammengestellt, beschrieben und hinsichtlich ihrer Quellenfunktion untersucht.2 Auskunft über Aspekte und Umstände seiner Beschäftigung mit dem Lohengrin-Stoff geben Wagners eigene Äußerungen in persönlichen Aufzeichnungen verschiedener Art.3 Die literarischen Haupttexte, denen er die Grundlinien der Handlung mit ihren Personen und leitenden Motiven4 entnahm, gehören zum Bestand seiner in den Jahren 1842 bis 1849 aufgebauten Dresdener Bibliothek. Da diese fast vollständig erhalten ist, sind auch die von Wagner für seine Lohengrin-Version benutzten poetischen Werke – neben Editionen vor allem Übersetzungen und Nacherzählungen mittelhochdeutscher Erzähltexte – weitgehend original verfügbar.5 Den Lohengrin-Stoff lernte er während seines Paris-Aufenthalts 1842 kennen, wo ihm Samuel Lehrs die Nacherzählung des mittelalterlichen Lohengrin von C.T.L. Lucas zugänglich machte.6 Den im Faktischen alles Wesentliche enthaltenden Prosaentwurf schloss er nach der Textlektüre von Wolframs von Eschenbach Parzival und dem mittelalterlichen Lohengrin am 3. August 1845 in Marienbad ab.7 Nach Fertigstellung der dramatischen Dichtung und der mehrfach unterbrochenen Komposition fand am 28. August 1850 die Uraufführung des Musikdramas in Weimar statt.8

    Die Geschichte von Lohengrin, wie sie die Erzähltradition des deutschen Mittelalters überliefert, gehört zum Stoffkreis der Schwanrittersage, deren Vertreter zumeist gemäß dem Erzähltypus von der „gestörten Mahrtenehe" gestaltet sind.9 Im Zentrum steht die Liebesbindung zwischen einem Menschen und einem Wesen übernatürlich-jenseitiger Herkunft, die schicksalhaft an einer vom menschlichen Partner nicht eingehaltenen Tabubedingung scheitern muss. In den Erzählungen vom Schwanritter10 ist die Frau die menschliche Partnerin, der Mann in glänzender Rittergestalt das fremde, einem fernen Transzendenzbereich entstammende Wesen. Als Nothelfer gelangt er in einem Nachen, den ein Schwan zieht, über das Wasser in das Land der schwer bedrohten Landesherrin. Dem siegreichen Gerichtskampf gegen den sie zu Unrecht bedrängenden mächtigen Gegner folgt die Hochzeit, an die der Ritter das Verbot bindet, ihn jemals nach seiner Herkunft zu fragen. Nach Jahren erfüllter Ehe und der Geburt von Nachkommen bricht die Frau das Fragetabu und nötigt ihn damit, das Land und die Familie für immer zu verlassen. Sofern er nicht namenlos bleibt, trägt er den – in der Menschenwelt erst am Schluss genannten – Namen „Lohengrin oder „Loherangrin.

    Die weite Verbreitung der Schwanrittersage erklärt sich aus ihrer speziellen, auf die genealogische Begründung von Adelsgeschlechtern abzielenden Erzählintention. Eine bedeutende Dynastie, die den Schwanritter zu ihrem Ahnherrn erhebt, bezieht aus dem Ursprungsmythos ihre Legitimität.11 In diesem Kontext steht die Begründung der verbotenen Frage. Da die gemeinsamen Kinder einer genealogischen Absicherung bedürfen, ist das Wissen um die Herkunft des Vaters für sie existenznotwendig. Die daraus resultierende Zwangsläufigkeit des Tabubruchs durch die Ehefrau und der Rückzug des Helden ins Numinose sind integrale Komponenten des Erzählschemas.

    Wolframs von Eschenbach „Parzival und der mittelalterliche „Lohengrin

    Wagners Hauptquellen für seine Rezeption der Schwanrittersage sind zwei höfische Romane, Wolframs von Eschenbach etwa zwischen 1200 und 1210 entstandener Parzival und der Lohengrin, den ein unbekannter, sich im Text „Nouhuwius" nennender Autor wohl in den 80er Jahren des 13. Jahrhunderts in Strophenform geschaffen hat.12 Über beide Werke verfügte Wagner in Form von Textausgaben und Nacherzählungen. Wolframs Parzival besaß er in der Textausgabe von Karl Lachmann und den Übersetzungen von San-Marte und Simrock;13 der mittelalterliche Lohengrin lag ihm in der Edition von Gloekle mit der umfangreichen, auch über die Gral- und die Schwanrittersage informierenden Einleitung von Görres, der ausführlichen Nacherzählung durch Lucas und San-Marte sowie den Kurzversionen in den Deutschen Sagen der Brüder Grimm und den Niederländischen Sagen von Wolf vor.14

    Im Parzival kombiniert Wolfram in der nur knappen, dem Roman als genealogischer Ausblick angefügten Loherangrin-Erzählung (V. 823, 27–826, 30) die Schwanrittersage mit der Gralsage. Loherangrin, der Sohn des zum Gralskönig berufenen Titelhelden, gehört zur göttlich auserwählten Gralsritterschaft, die auf der Gralsburg Munsalvaesche über den Dienst am Gral in unmittelbarer Verbindung zu Gott steht. Von einer Inschrift auf dem Gral werden einzelne Ritter in die Welt gesandt, um als Herrscher eines Landes gebrochenes Recht wiederherzustellen und die Rechtsordnung dauerhaft zu festigen. Ausdrücklich wird zur Bedingung gemacht, daz er vrâgen widerriete / sînes namen oder sîns geslehtes (V. 818, 28f.: dass er [der Gralsritter] sich der Frage nach seinem Namen und seinem Geschlecht widersetzen müsse). Wird die Frage dennoch gestellt, muss er zum Gral zurückkehren.

    Loherangrin wird der (namenlosen) Fürstin von Brabant zu Hilfe geschickt, die allen Anfeindungen zum Trotz nur einen ihr von Gott bestimmten Mann heiraten will. Ein Schwan bringt ihn zum Hoftag nach Antwerpen, wo er nach ehrenvollem Empfang die Ehe mit der Fürstin eingeht, mit der Verpflichtung jedoch, dass sie ihn niemals nach seiner Identität fragen dürfe. Solange sie das Versprechen hält, führen sie zusammen mit ihren wohlgeratenen Kindern ein erfülltes Leben. Nachdem die Fürstin aber aus Liebe zu ihrem Mann die verbotene Frage gestellt hat, wird Loherangrin vom Schwan nach Munsalvaesche zurückgeholt. Als Erinnerungsgaben hinterlässt er der Familie ein Schwert, ein Horn und einen Ring.

    Durch umfängliche, aus verschiedenen literarischen und chronikalischen Quellen gezogene Erweiterungen der epischen Vorgänge entwickelt der Autor des mittelalterlichen Lohengrin aus Wolframs Loherangrin-Geschichte einen eigenständigen Lohengrin-Roman, in dem er Wolfram von Eschenbach die Rolle des Erzählers einnehmen lässt. Auf der Grundlage der Sächsischen Weltchronik baut er ihn zu einem pseudo-historischen Werk aus, indem er das Geschehen in der Regierungszeit des ostfränkischen Königs Heinrich I. (919–936) situiert. Die Schwanritter-Handlung bildet den Rahmen für die Darstellung der Heidenkämpfe Heinrichs gegen die Ungarn und die Sarazenen in Italien, in denen Lohengrin sich als herausragender, gottbegnadeter Kämpfer bewährt.

    Die geschehensauslösende Notsituation ist hier die vor dem König erhobene lügnerische Anklage Friedrichs von Telramunt gegen Elsam, die Tochter des verstorbenen Herzogs von Brabant, wegen der angeblichen Verweigerung eines Eheversprechens. Da Elsam für den angesetzten Gottesgerichtskampf keinen Streiter findet, wendet sie sich im Münster in inbrünstigem Bittgebet an Gott. Zur Unterstützung des Gebets läutet sie eine kleine, an ihrem Rosenkranz befestigte Glocke, deren Ton zur Gralsburg vordringt, dort als Hilferuf wahrgenommen wird und die Auserwählung Lohengrins durch die Inschrift auf dem Gral zur Folge hat. Ein gottgesandter Schwan zieht Lohengrin im Nachen nach Antwerpen, wo er als himmlisch beauftragter Retter Elsams empfangen wird. Noch vor dem siegreichen Kampf gegen Telramunt werden Elsam und Lohengrin von inniger gegenseitiger Liebe erfasst. Nach seinem Lügengeständnis wird Telramunt zum Tode verurteilt und enthauptet. Lohengrin heiratet Elsam unter der Voraussetzung, dass sie ein spezielles Sprechverbot einhalten müsse, wenn sie ihn nicht verlieren wolle. Über den Inhalt des Verbots wird zunächst nichts gesagt. Nach der Hochzeit bewährt sich Lohengrin als vortrefflicher Herrscher von Brabant und unterstützt Heinrich, der in Rom zum Kaiser erhoben wird, in seinen Kämpfen. Aus der ungetrübten Ehe gehen zwei Söhne hervor. Die Wendung zum Unheil erfolgt durch die Herzogin von Kleve, deren Ehemann von Lohengrin in einem Turnier schwer verwundet wurde. Um Vergeltung zu üben, äußert sie Zweifel an Lohengrins adliger Abstammung und erweckt Elsams Argwohn. Im ehelichen Schlafgemach bricht Elsam ihr Versprechen und erbittet die verbotene Auskunft. Lohengrin sagt öffentliche Aufklärung zu und gibt in Antwerpen vor dem Kaiserpaar und den Fürsten einen umfassenden Bericht über seine Gralsgesandtschaft. Er nimmt Abschied von den Söhnen, denen er Horn und Schwert seines Vaters aushändigt, und von Elsam, die den Ring seiner Mutter erhält. Nachdem der Schwan ihn fortgebracht hat, führt Elsam ihr weiteres Leben wie eine Herrscherin im Witwenstand.

    Wagners Rezeptionsverfahren

    Dem reichen Materialfundus der Erzähltradition, wie sie sich ihm durch die Originalwerke und die Nacherzählungen besonders in den über die deutschen Stoffbearbeitungen hinausgreifenden Sagensammlungen der Brüder Grimm und Wolfs übermittelt, entnimmt Wagner verschiedene Einzelmotive und Motivkomplexe, personale und situative Konstellationen sowie Vorgangs- und Strukturelemente, die er seiner Handlungsund Sinnkonzeption einpasst, dabei auch modifiziert, umformt oder in anderem Funktionszusammenhang neu gestaltet.

    Von der breiteren narrativen Ausfaltung in den epischen Versionen hebt sich Wagners Werk durch die dramatische Verknappung des auf den Ablauf von zwei Tagen (Gerichtstag, Hochzeitstag), zwei folgenden Nächten (Verschwörungsnacht mit Ortrud und Telramund, Hochzeitsnacht mit Elsa und Lohengrin) und einem Morgen (Lohengrins Abschied) verdichteten Geschehens im Formalgerüst der Dreiaktigkeit ab. In Annäherung an die Normen des „geschlossenen" Dramas wird die auf wenige benachbarte Schauplätze (Platz der Gerichtseiche am Ufer der Schelde bei Antwerpen; Platz zwischen der Burg und dem Münster von Antwerpen; Brautgemach im Innern der Burg) verteilte Handlung zielgerichtet und dramaturgisch stringent geführt.

    Wolframs Parzival und vor allem der mittelalterliche Lohengrin bieten Fixpunkte der Handlung. I. Aufzug: verleumderische Anklage Friedrichs von Telramund gegen Elsa von Brabant vor König Heinrich; Festsetzung des Gerichtskampfes; Lohengrins Ankunft als Schwanritter; Lohengrins Bereitschaftserklärung, für Elsas Recht zu streiten und sie zu heiraten; Frageverbot; Sieg im Gottesgericht über Telramund; II. Aufzug: Verunsicherung Elsas durch Zweifel an Lohengrins Herkunft; Hochzeit; III. Aufzug: Tabubruch durch Elsa im Brautgemach; Lohengrins öffentliche Preisgabe seiner Identität; Abschied von Brabant und Rückkehr nach Monsalvat.

    Doch nimmt Wagner eine entscheidende Änderung vor. Das in der mittelalterlichen Stoffüberlieferung so wichtige Genealogie-Thema wird umgelenkt. Lohengrin ist gerade nicht ausgeschickt, um als Ahnherr numinoser Herkunft mit Elsa eine Genealogie zu begründen. Seine Mission als „Streiter für der Tugend Recht (III/3) dient neben der Rettung Elsas der Wiederherstellung der gestörten rechtmäßigen Genealogie des Hauses Brabant. Daher will Lohengrin trotz seiner Heirat mit Elsa nicht den Titel des Herzogs, sondern nur den des „Schützers von Brabant tragen (II/3). Die Rolle des künftigen „Führers" bleibt dem legitimen Erben, Elsas jüngerem Bruder Gottfried, vorbehalten (III/3). Er erhält von Lohengrin zuletzt auch Horn, Schwert und Ring, die Gaben, die in den mittelalterlichen Versionen den zurückgelassenen Kindern (und der am Leben bleibenden Gemahlin) des Schwanritters zukommen.

    In Wagners Werk ist vielmehr die Tragik der vollkommenen Liebe zwischen Elsa, der Menschenfrau, und Lohengrin, dem Heilsbringer aus dem fernen Gralsreich, die noch vor ihrer Erfüllung an der diesseitigen Realität zerbrechen muss, thematisiert. Aus dieser Gestaltungsintention heraus erweitert Wagner das Geschehen um eine konfliktäre Vorgeschichte, die mit dem Beginn des I. Aufzugs als Gegenspiel ihre destruktive Dynamik entfaltet und den Verlauf der Handlung maßgeblich beeinflusst. Trägerin dieser Unheilshandlung ist die von Wagner neu eingeführte Figur der Heidin Ortrud, der Ehefrau Friedrichs von Telramund (der im Textbuch den Rollennamen „Friedrich" trägt) und Tochter des unbekehrbaren heidnischen Friesenfürsten Radbod, dessen einstige Herrschaft über Brabant ihm im Zuge der Christianisierung genommen wurde. Ortrud, die den heidnischen Göttern Wodan und Freia anhängt und über dämonische Kräfte verfügt, will nach dem Tod des christlichen Herrschers von Brabant die Macht zurückgewinnen, indem sie die dynastischen Nachfolger, die Kinder Gottfried und Elsa, gewaltsam verdrängt. Nachdem bereits Gottfried, den sie durch das Umhängen einer magischen Goldkette in einen wilden Schwan verwandelt hat, ihrer Zauberkraft erliegen musste, soll nun mit der Hilfe von Telramund auch Elsa ausgeschaltet werden. Ortrud stiftet ihren ihr willfährigen Ehemann zur Anklage gegen Elsa wegen Brudermordes an. Am Beginn der dramatischen Handlung (I/1) steht die Anklageerhebung vor König Heinrich, der zum Aufbieten eines Heeres gegen die ungarische Invasion und zur Rechtsprechung nach Brabant gekommen ist.

    Mit der historischen Einbettung des Geschehens und dem den gesamten I. Aufzug beherrschenden Gerichtsverfahren15 orientiert Wagner sich am mittelalterlichen Lohengrin. Die Durchführung des Verfahrens als Gottesgericht wird zum Auslöser der mit Lohengrins Ankunft in Brabant einsetzenden, an den gottgesandten Heilsbringer gebundenen Heilshandlung, die der Unheilshandlung entgegenwirkt. Durch das Gottesurteil ist Elsa Recht widerfahren, und ihr zuvor gegebenes Versprechen, das von Lohengrin geforderte Frageverbot einzuhalten, lässt dem Vollzug der Hochzeit und einer glücklichen Ehe scheinbar nichts im Wege stehen. Da Ortrud aber an der Goldkette, mit der Lohengrins Schwan den Nachen gezogen hat, den von ihr verzauberten Gottfried erkennen musste, verschwört sie sich mit Telramund, der zwar am Leben geblieben, doch geächtet ist, gegen Elsa und Lohengrin (Ortrud zu Telramund: „Sie ist für mich, – ihr Held gehöre dir!", II/2). Die so sich in allen weiteren Aktionen der Kontrahenten fortsetzende Unheilshandlung zielt darauf, Lohengrin das Geheimnis seiner Herkunft zu entreißen, ihn damit seiner Kraft zu berauben und der Zauberei zu überführen. Da Ortrud unfähig zur Erkenntnis der göttlichen Manifestation im Ordal ist, muss sie als Ursache seines Kampfsieges das Wirken magischer Kräfte annehmen.

    Zur Ausformung dieses Gegenspiels wählt Wagner verschiedene Motive aus ganz unterschiedlichen Erzählwerken aus, die er in seiner Konzeption stimmig vereint, wie etwa das Motiv des Fleischraubs aus dem Jüngeren Titurel oder das Motiv des gestörten Kirchgangs aus dem Nibelungenlied, von denen weiter unten noch die Rede sein wird.16

    Die Bewandtnis von Heils- und Unheilshandlung enthüllt sich in vollem Umfang erst am Ende durch auflösende Analepsen: Lohengrin offenbart mit der Gralserzählung die Vorgeschichte seiner göttlichen Sendung; Ortrud bekennt sich nach ihrem scheinbaren Sieg triumphierend zu ihrer Untat. Zuletzt ist zwar mit der Tötung Telramunds (nach seinem Eindringen ins Brautgemach), der Entlarvung und Entmachtung Ortruds und der nach Lohengrins Gebet von Gott verfügten Rückverwandlung des Schwans in Elsas totgeglaubten Bruder Gottfried das Verbrechen aufgeklärt und in der Restitution der regulären Genealogie aufgehoben, doch musste die der Heilshandlung zugehörige Liebeshandlung durch Elsas selbstverantworteten Tabubruch und die vom Gralsgesetz erzwungene Rückkehr Lohengrins für die Liebenden tragisch enden.

    Wagners synkretistisches Aneignungsverfahren lässt sich besonders auch durch Textvergleiche nachvollziehen. Angesichts der vielfältigen, zentralen oder peripheren Verwendung mittelalterlicher Quellentexte sind breitere Darlegungen hier jedoch nicht möglich. Einige ausgewählte Beispiele zur Text- und Motivrezeption können Wagners Vorgehensweise exemplarisch verdeutlichen.

    Für die in den Lohengrin eingegangenen mittelalterlichen Erzähltexte, wie unterschiedlich sie in ihrem literarischen Anspruch und ihrer poetischen Qualität auch sein mögen, gilt gleicherweise, dass sie auf ihre Gebrauchsfunktion, den mündlichen Vortrag vor einem literarisch interessierten höfischen Publikum, ausgerichtet sind. Ein prägender Gestaltungsfaktor ist daher das performative Element. Die Autoren arbeiten mit mannigfachen rhetorischen Mitteln, die dem Werk in der Vortragssituation Anschaulichkeit, Lebendigkeit und Aktualität verleihen. Dazu gehören auch die Redeszenen, die mit Monologen und Dialogen in direkter Rede die Zuhörer durch den Eindruck des unmittelbaren Miterlebens fesseln können. Wie es manche Textstellen nahelegen, hat Wagner sich mitunter wohl auch vom originalen Wortlaut seiner Vorlagen inspirieren lassen. Dass er sich intensiv mit den mittelhochdeutschen Urtexten beschäftigt und sich um das sprachliche Verständnis bemüht hat, bezeugt seine Bibliothek, die neben zahlreichen Ausgaben mittelhochdeutscher Epik und Lyrik auch das mittelhochdeutsche Wörterbuch von Ziemann, die deutsche Sprachgeschichte und den ersten Band der historischen deutschen Grammatik von Jacob Grimm enthält.17

    Einige mittelhochdeutsche Passagen, die im Folgenden dem entsprechenden Lohengrin-Text gegenübergestellt werden, können davon einen Eindruck vermitteln. Hält man, um ein kleines Beispiel voranzustellen, die kurze Abschiedsszene, in der Lohengrin den Schwan, der ihn im Nachen an sein Ziel gebracht hat, mit warmen Worten zurückschickt, in den Versionen Wagners und des Schwanritters von Konrad von Würzburg,18 einer Verserzählung aus den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts, sowie deren verkürzter Prosawiedergabe in den Deutschen Sagen der Brüder Grimm19 nebeneinander, so wird Wagners Rückbezug auf den Quellentext offenkundig:

    Lohengrin (I/3)

    „Nun sei bedankt, mein lieber Schwan!

    Zieh durch die weite Flut zurück

    dahin, woher mich trug dein Kahn,

    kehr wieder nur zu unserm Glück!

    Drum sei getreu dein Dienst getan!

    Leb wohl, leb wohl, mein lieber Schwan!"

    Konrad von Würzburg, Der Schwanritter (V. 240–245)

    „‚flueg dinen weg wol, lieber swan‘,

    sprach er guetliche wider in,

    ‚wan ich din aber duerfteg bin,

    und dich in noeden bruchen sol

    so kann ich dir geruoffen wol,

    und dich her wider bringen.‘"

    („‚Flieg deinen Weg wohl, lieber Schwan!‘ sprach er freundlich zu ihm, ‚wenn ich abermals deiner bedarf und dich in der Not brauchen werde, so kann ich dich wohl rufen und dich hierher zurückbringen.‘")

    Grimm, Deutsche Sagen (Nr. 538)

    „Flieg deinen Weg wohl, lieber Schwan! wann ich dein wieder bedarf, will ich dir schon rufen."

    Die inhaltlichen Unterschiede im Abschiedsgruß erhellen zugleich Wagners Rezeptionsweise. Im Schwanritter ist der Schwan gemäß der Erzähl-tradition ein wunderbares, den Menschen als gottgesandt erscheinendes Tier mit besonderen Fähigkeiten, das die Fahrt des (hier namenlosen) Ritters begleitet, lenkt und schützt.20 Konrads Ritter wendet sich dem Schwan mit einer anthropomorphisierenden Anrede zu, die das Tier zu einem verständigen, lieben Kameraden erhebt, seinen Existenzstatus aber nicht verändert. Der proleptisch angesprochene Rückruf des Schwans bezieht sich auf eines der Basiselemente der Schwanrittersage: die Trennung des Ritters von seiner Familie nach der Verletzung des Fragetabus.

    Wagners Lohengrin hat es demgegenüber mit einem Menschen in Tiergestalt zu tun, mit Gottfried, dem verzauberten Erben von Brabant. Wenn er für sich und den scheidenden Schwan ein glückliches Wiedersehen erhofft und ihm die Ableistung des treuen Dienstes nahelegt, so meint er damit die für ihn in Aussicht stehende Rückverwandlung in den Menschen Gottfried, der, wie es vom Gral bestimmt ist, nach einjährigem Dienst in Monsalvat erneut in seine frühere menschliche Existenz eintreten soll. Der Sinn dieser den Brabantern zunächst nicht erklärlichen Worte wird sich erst bei der Wiederkehr des Schwans und Lohengrins endgültigem Weggang von Brabant entschlüsseln (III/3).

    Die kausale Motivkette Frageverbot – Tabubruch – Identitätsenthüllung

    Bei der Ausarbeitung der dem Erzähltypus inhärenten Motivkette, die in kausaler Verknüpfung den Verlauf der Liebesgeschichte zwischen Elsa und Lohengrin nach dem Sieg im Gerichtskampf steuert, hat Wagner hauptsächlich die Fassungen Wolframs von Eschenbach (Frageverbot) und des mittelalterlichen Lohengrin (Tabubruch, Identitätsenthüllung) kombiniert.

    1. Frageverbot: Während das öffentlich erteilte Frageverbot im mittelalterlichen Lohengrin vom Gralsritter nicht direkt ausgesprochen wird, ist im Parzival der eindringlich formulierte Verbotstext die einzige in die Loherangrin-Erzählung eingelassene wörtliche Rede:

    Wolfram von Eschenbach, Parzival (V. 825, 15–24)

    „frouwe herzogîn,

    sol ich hie landes hêrre sîn,

    dar umbe lâz ich als vil.

    nu hoeret wes i‘uch biten wil.

    gevrâget nimmer wer ich sî:

    sô mag ich iu belîben bî.

    bin ich ziwerr vrâge erkorn,

    sô habt ir minne an mir verlorn.

    ob ir niht sît gewarnet des,

    sô warnt mich got, er weiz wol wes."

    („Edle Herzogin, wenn ich hier Landesherr werden soll, werde ich ebenso viel zurücklassen. Nun hört, worum ich Euch bitten muss. Fragt niemals, wer ich bin: Dann darf ich bei Euch bleiben. Richtet Ihr aber die Frage an mich, so verliert Ihr meine Liebe. Wenn Ihr Euch dadurch nicht warnen lasst, so wird Gott mich mahnen, er weiß wohl, wozu.")

    Den entscheidenden Imperativ „gevrâget nimmer wer ich sî" hat Wagner aufgenommen und die Identitätsfrage nach drei Kriterien differenziert: Herkunftsland, Name und Adelsgeschlecht.

    Lohengrin (I/3)

    „Nie sollst du mich befragen,

    noch Wissens Sorge tragen,

    woher ich kam der Fahrt,

    noch wie mein Nam’ und Art!"

    Die drei Tabukriterien „Woher […] der Fahrt, „Nam’ und „Art" konstituieren den Zusammenhang der Motivkette. Sie sind die Leitwörter des Verbots und der Frage und die Gegenstände der Enthüllung in der Gralserzählung.

    2. Tabubruch: Im Gegensatz zum Frageverbot erfolgt der Tabubruch in der Intimität des Schlafgemachs. Im mittelalterlichen Lohengrin erstreckt sich die Frageszene mit Spannungssteigerung über drei Nächte. In der ersten und zweiten Nacht kann Lohengrin Elsams Anliegen gerade noch abwenden, in der dritten Nacht spricht sie das Verbotene an:

    Der mittelalterliche Lohengrin (S. 175, Str. 4)

    „herre! wolt euch niht betragen,

    Und wolt ez lazzen ane zorn,

    So west ich daz gerne, wan ir wert geborn,

    Durch willen unserr kinde muz ich uchs fragen,

    Und seit mir min hertze, doch daz ir sit adelsriche

    Und daz ir uchs niht durfet schamen.

    Ir nent mir wol uwer geslehte und uwern namen:

    Ich wen sin kein uwer kint von scham erbliche."

    („Herr, wenn es Euch nicht verdrießt und Ihr nicht zornig werdet, so wüsste ich gerne, woher Ihr stammt. Um unserer Kinder willen muss ich Euch das fragen, wenn mir auch mein Herz sagt, dass Ihr von hohem Adel seid und Euch dessen nicht schämen müsst. Ihr werdet mir wohl Euer Geschlecht und Euren Namen nennen: Ich meine, dass keines Eurer Kinder deswegen von Scham erbleichen würde.")21

    Die Anrede Elsams an den Gemahl läuft auf die Erfragung von „wan [= woher] […] geborn, „geslehte und „namen" hinaus, wobei die Dringlichkeit der Auskunftsbitte mit ihrer Koppelung an das genealogische Argument der Zukunftssicherung ihrer Kinder verstärkt wird. Offensichtlich hat Wagner die drei schon in seinem Frageverbot angeführten Tabukriterien dieser Elsam-Rede entnommen.

    Im Brautgemach des Lohengrin (III/2) ist die Ausgangssituation eine andere, da die Hochzeit im Münster von Antwerpen gerade erst stattgefunden hat. Die bedrohliche Wirklichkeit, die durch Ortruds und Telramunds Zauberei-Anklage gegen Lohengrin geschaffen wurde, bleibt zunächst gänzlich ausgeschlossen und kann der über alles erhabenen Liebe der Frischvermählten keinen Schaden zufügen. Im zärtlichen Gespräch auf dem Brautbett werden sie sich der Präexistenz ihrer Liebe bewusst. Lohengrin bekennt, Elsa schon aus der Ferne geliebt zu haben ab dem Moment, wo er zu ihrem Streiter bestimmt war („war ich zu deinem Streiter auserlesen, / hat Liebe mir zu dir den Weg gebahnt), und dass ihn diese Liebe beim leibhaftigen Anblick Elsas umfassend ergriffen hat („dich sah mein Aug’, – mein Herz begriff dich da). Elsa erwidert, dass ihr seine Gestalt bereits in dem tröstenden Traum erschienen ist (I/1), den Gott ihr nach ihrem verzweifelten Bittgebet gesandt hatte („Doch ich zuvor schon hatte dich gesehn, / in sel’gem Traume warst du mir genaht: / als ich nun wachend dich sah vor mir stehn, / erkannt’ ich, daß du kamst auf Gottes Rat"). Über ihrer Liebesbindung, der das von Lohengrin gebrachte Heil innewohnt, liegt göttlicher Segen.

    Elsas bald gestellte Frage nach dem Namen des Geliebten ist nicht von Neugier oder Misstrauen geleitet, sondern von dem innigen Wunsch, dem Geliebten ebenbürtig und gleichwertig zu sein. Als er ihr die Antwort versagt und ihr ebenso die Bitte abschlägt, ihr als Vertrauensbeweis sein – vielleicht unheilvolles – Geheimnis zu eröffnen, und sie schließlich mit dem vagen Hinweis, „aus Glanz und Wonne" zu ihr gekommen zu sein, gänzlich verunsichert, wird das Wissen-Wollen so übermächtig, dass Elsa ihn in höchster Erregung flehend-fordernd mit den drei Verbotsbegriffen konfrontiert:

    „Den Namen sag mir an!

    […] Woher die Fahrt?

    […] Wie deine Art?"

    Zuletzt hat doch der Zweifel, den Ortrud in ihr erwecken konnte (II/5) – hier ist die Herzogin von Kleve aus dem mittelalterlichen Lohengrin das Vorbild – bei Elsa obsiegt. Wenn unmittelbar danach Telramunds Überfall geschieht, so ist damit zugleich sinnbildlich die feindliche Außenwelt in das Brautgemach eingedrungen, das unwiderrufliche Ende des Liebesbundes im Diesseits signalisierend.

    3. Identitätsenthüllung: Das Schlussmotiv verlagert das Geschehen wieder in die Öffentlichkeit, denn der Gralsritter trennt sich nicht nur von seiner Gemahlin (und seiner Familie), sondern auch von dem Land, in dem er durch die Heirat das Herrscheramt erlangt hat. Lohengrins große Abschiedsrede, die Gralserzählung, hat Wagner im mittelalterlichen Lohengrin vorgefunden und in Teilen rezipiert.

    Im mittelalterlichen Roman klärt Lohengrin die Versammelten vorab über das Frageverbot auf. Er habe der Herzogin untersagt zu erkunden, „wer ich were oder wanne komen" (S. 178, Str. 2, 4: wer ich sei und woher ich gekommen sei).22 Das Versprechen habe sie aber gebrochen: „nu hat sie die frage gein mir getan (S. 178, Str. 3, 5: nun hat sie mir die Frage gestellt).23 Die Antwort gibt er mit seiner weitläufigen Gralserzählung in drei Schritten: Genealogie des Gralsgeschlechts mit der Nennung seines Namens – Bericht über die Gralswelt und das Gralsrittertum – Erzählung von seiner Auserwählung und der Gesandtschaft nach Brabant.

    Wagners Lohengrin begründet seine Aufklärung mit dem „Verrat Elsas, die „ihren teuren Schwur gebrochen hat: „Zu lohnen ihres Zweifels wildem Fragen / sei nun die Antwort länger nicht gespart" (III/3). Seine Gralserzählung rekurriert auf die des mittelalterlichen Lohengrin, doch ist die Reihenfolge geändert und der Schwerpunkt auf den Gral und das Gralsrittertum gesetzt. Ohne Bezug auf sich selbst schildert er zuerst im objektiven Berichtstil das Mysterium des Grals, der als „ein Gefäß von wundertät’gem Segen auf der fernen, unzugänglichen Gralsburg Monsalvat aufbewahrt wird. Einst brachten ihn Engel vom Himmel auf die Erde, seither wird seine „Wunderkraft alljährlich von einer himmlischen Taube erneuert.24 Dann spricht er von der Glaubensgemeinschaft der auserkorenen Gralsritter, die als „der Menschen Reinste vom Gral mit „überirdischer Macht ausgestattet werden. Entsendet der Gral einen von ihnen „in ferne Land’ […] zum Streiter für der Tugend Recht, wird er seine „heil’ge Kraft behalten, solange er als Gralsritter unerkannt bleibt. Wird aber das Geheimnis seiner Herkunft aufgedeckt, muss er umgehend zurückkehren. Die Rede gipfelt darin, dass Lohengrin das zuvor Gesagte nun direkt mit seiner Person verbindet und die verbotene Frage Punkt für Punkt beantwortet. „Woher: „Vom Gral ward ich zu euch daher gesandt (Herkunft aus dem Gralsreich), „Art: „mein Vater Parzival trägt seine Krone (Abstammung vom Gralsgeschlecht), „Name: „sein Ritter ich – bin Lohengrin genannt. Der Entsprechungstext im mittelalterlichen Lohengrin lautet (S. 178, Str. 4):

    „Des sun man nande Parcifal, / Der ist mîn vater, und ist herre da zu dem gral. / […] Selber heiz ich Lohengrin".

    („Dessen [= Gamurets] Sohn nannte man Parzival, der ist mein Vater und Herr des Grals. […] Ich selbst heiße Lohengrin").25

    Im zweiten, von Wagner vor der Aufführung in Weimar gestrichenen Teil der Gralserzählung26 legt Lohengrin die Umstände seiner Aussendung nach Brabant genauer dar. Über Elsas Hilferuf lässt er wissen: „Ein klagend Tönen trug die Luft daher, / daraus im Tempel wir sogleich vernommen, / daß fern wo eine Magd in Drangsal wär’". Das akustische Signal, das die Notlage anzeigt, hat seine Parallele im mittelalterlichen Lohengrin. Während bei Wagners Elsa die Klagelaute ihrer Stimme zum Gral getragen werden, ist es dort aber die von Elsam zum Gebet geläutete kleine Glocke, die zu donnerndem, schier unerträglichem Getöse anschwillt und die Gralsritter zum Handeln nötigt, weil „der dôn daz houbet in allen breche; / Ob der kempfe niht balde wurde gesent der clagenden meide (S. 180, Str. 2: „der Ton ihnen allen den Kopf zersprengen würde, wenn der Kämpfer nicht schnellstens zu der klagenden Jungfrau gesandt werden würde).27 Die Drastik der Metapher vergegenwärtigt die höchste Eilbedürftigkeit der Nothilfe.

    Den Rezipienten des mittelalterlichen Lohengrin eröffnet die Gralserzählung keine Neuigkeiten, da die Ereignisse um Lohengrins Erwählung durch den Gral in einem zweiten Handlungsstrang bereits detailreich dargestellt wurden. Bei Wagner aber, der aus der Vorlage Einzelzüge ihrer formalen und inhaltlichen Ausgestaltung selektiert, ist sie nicht nur das Hauptstück des Motivs der Identitätsenthüllung, sondern mit diesem auch der dramatische Höhepunkt der gesamten Handlung.

    Das Motiv des Fleischraubs

    Der Jüngere Titurel, ein strophischer Versroman, wurde von einem nicht näher bekannten Autor namens Albrecht in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Anschluss an Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel als stoffreiche Historie des Gralsgeschlechts verfasst. 28 Der darin enthaltene Lohengrin-Teil lag Wagner wohl nicht original vor, sondern nur in den Teilübersetzungen, Nacherzählungen bzw. Inhaltsreferaten von Görres (genaueste Textwiedergabe), San-Marte, Wolf und in den Deutschen Sagen der Brüder Grimm.29 Die 1842 erschienene Ausgabe des mittelhochdeutschen Textes von Hahn (Lohengrin: Str. 5918–5963) kann ihm dennoch bekannt gewesen sein, wenn sie auch im Bestand der Dresdener Bibliothek nicht aufgeführt ist.30

    Die Lohengrin-Erzählung bei Albrecht entspricht nicht dem Schwanrittertypus; es ist die Geschichte vom Tod des Gralsritters. Da er hier im Gegensatz zur vorgängigen Brabant-Episode keine Mission des Grals zu erfüllen hat, steht er nicht unter dem existentiellen Schutz, den der Gral seinen auserwählten Streitern gewährt. Nach seiner ohne vorherigen Konflikt eingegangenen Vermählung mit der Fürstin Pelaie (auch: Belaye) von Liasperie (auch: Lyzaborie, Lizabune) ist Lohengrin zwar ein mächtiger Landesherr und kühner Kämpfer, gleichwohl verwundbar und sterblich.

    Pelaie, deren Liebe zu Lohengrin als maßlos und besitzergreifend charakterisiert wird, weiß um die Ereignisse von Brabant und vermeidet die Frage nach seiner Herkunft, wenngleich ihr das Tabu nicht auferlegt wurde. Sobald Lohengrin abwesend ist, leidet sie aus Furcht vor seiner Unbeständigkeit unter Verlustangst mit pathologischen Zügen. Ihr desolater psychophysischer Zustand, der sich in Sprach- und Bewegungsunfähigkeit äußert, erregt am Hof größte Besorgnis. Um Lohengrin dauerhaft an Pelaie zu fesseln, rät eine zauberkundige Kammerfrau schließlich zur Anwendung eines Bindungszaubers:

    „Nv wart ir sus geraten . sie solt von sinem libe.

    Ezzen einen braten . der rat gienc von einem kamerwibe.

    Heizzet im nemen den fuz zvr tenken siten.

    Vz an dem geiegede swenn er si entslafen sunder striten."

    (Str. 5941)

    („Nun wurde ihr aber geraten, sie solle von seinem Körper ein Stück Fleisch essen. Der Rat erging von einer Kammerfrau: ‚Gebt die Anweisung, ihm den Fuß auf der linken Seite zu nehmen, nach der Jagd, wenn er eingeschlafen ist, ganz ohne Kampf.‘")

    Nach Pelaies entrüsteter Zurückweisung – „owe der meine . die dv mir sagst man wer mich e begrabende. / Dann ob ich welt daz im ein vinger swere. (Str. 5942, 2–3: „O weh, diese niederträchtige Tat, die du mir vorschlägst! Eher würde man mich begraben, bevor ich es wünschen würde, dass ihn auch nur ein Finger schmerzen sollte) – ergreifen ihre von der Kammerfrau informierten Verwandten von sich aus die Initiative zum Fleischraub31 und dringen auf den schlafenden Lohengrin ein. Dieser erwacht, nimmt sein Schwert zur Hand und tötet mehr als hundert von ihnen, erhält dann aber selbst eine tödliche Wunde. Als die Angreifer ihn sterben sehen, fallen sie ihm zu Füßen. Pelaie, in ihrem Leid untröstlich und ohne Lebenskraft, stirbt Lohengrin hinterher.

    Wagner übernimmt das dominante Motiv des Fleischraubs als strategisches Element von Ortruds Racheplan, kehrt es aber funktional um und füllt es inhaltlich anders auf. Die Heidin Ortrud, nach deren Verständnis Lohengrins Kampfsieg nicht Gottes Wille, sondern Zauberei sein muss, will diese mit einem ihr geläufigen Gegenzauber außer Kraft setzen: Wird einer durch Magie unüberwindbaren Person ein Stück Fleisch vom Körper geschnitten, so verliert der Zauber augenblicklich seine Wirkung. Während im Jüngeren Titurel das Zauberwerk den Bindungszwang herbeiführen soll, geht es somit hier um die Aufhebung eines Zauberbanns. Auch spielt der Verzehr des Fleisches als magisches Ritual der Inkorporation eines geliebten Menschen keine Rolle.

    Das Motiv ist im Gefüge der Unheilshandlung dreimal an exponierter Stelle eingesetzt, zweimal im Dialog (Ortrud – Telramund; Telramund – Elsa) und einmal als handlungstragendes Element (Telramund – Lohengrin):

    1. Zuerst erklärt Ortrud im nächtlichen Verschwörungsgespräch (II/1) dem schaudernden Telramund den Zaubermechanismus:

    „Jed’ Wesen, das durch Zauber stark,

    wird ihm des Leibes kleinstes Glied

    entrissen nur, muß sich alsbald

    ohnmächtig zeigen, wie es ist."

    Diesen Part der Gewaltanwendung hat nach Ortruds Willen Telramund zu übernehmen, um das Gottesurteil als Zauberei zu entlarven und damit seine Schande zu rächen und seine Ehre wiederherzustellen.

    2. In der Szene vor dem Münster (II/5), als die verbalen Attacken Ortruds gegen Elsa und Telramunds gegen Lohengrin für Aufruhr gesorgt haben, tritt Telramund verstohlen an Elsa heran und trägt ihr den Plan des Fleischraubs auf infame Weise mit zweifacher, ganz auf Elsas Befindlichkeit abgestimmter Begründung an: zum einen als Mittel zur Wahrheitsfindung, zum anderen als Mittel, Lohengrin für immer in Treue an sich zu binden.

    „Laß mich das kleinste Glied ihm nur entreißen,

    des Fingers Spitze, und ich schwöre dir,

    was er dir hehlt, sollst frei du vor dir sehn, –

    dir treu, soll nie er dir von hinnen gehn!"

    Elsas heftige Abwehr („Ha, nimmermehr!) ignorierend nennt er ihr sogleich auch Zeit und Ort der Ausführung. In der kommenden Nacht solle es geschehen; er werde sich in ihrer Nähe, also beim Brautgemach, postieren und auf ihr Rufen das Vorhaben „ohn’ Schaden und „schnell" vollbringen.

    3. Im III. Aufzug, während sich Lohengrin und Elsa im Brautgemach aufhalten und Elsa bereits die verhängnisvolle Frage gestellt hat (III/2), schreitet Telramund, der das Paar wohl schlafend wähnt, zur Tat. Begleitet von den vier ihm ergebenen brabantischen Edlen stürzt er sich mit gezücktem Schwert auf Lohengrin. Mit Elsas Hilfe, die ihn durch einen Aufschrei warnt und ihm sein abgelegtes Schwert reicht, erwehrt sich Lohengrin des Überfalls und tötet Telramund mit einem Schwertstreich. Die Edlen werfen sich vor ihm auf die Knie. Im Misslingen des Fleischraubs bestätigt sich das Gottesurteil. Hatte Lohengrin dem im Gerichtskampf unterlegenen Gegner noch großmütig das Leben geschenkt (I/3), hat Telramund es nunmehr endgültig verwirkt. So wird Telramunds Tod an dieser Stelle handlungslogisch begründet.

    Den Verzweiflungstod der Pelaie wird Elsa am Schluss, wenn Lohengrin sich ihr endgültig entzogen hat, sterben.

    Das Motiv des gestörten Kirchgangs

    Nachdem Ortrud in der dem Gerichtstag folgenden Nacht nach heuchlerischer Demütigung vor Elsa von dieser in ihr Gefolge aufgenommen und beherbergt wurde (II/2), gehört sie am Hochzeitsmorgen zur Gruppe der Frauen, die Elsa zum Münster geleitet (II/4). Auf den Stufen zum Kirchenportal, die Elsa vor allen anderen betritt, stellt Ortrud sich ihr entgegen und verlangt gebieterisch mit rüden Worten den Vortritt:

    „Zurück, Elsa! Nicht länger will ich dulden,

    daß ich gleich einer Magd dir folgen soll!

    Den Vortritt sollst du überall mir schulden,

    vor mir dich beugen sollst du demutvoll!"

    Entsprechend ihrem Kalkül löst Ortruds Verhalten bei Elsa und allen Anwesenden Schrecken und Verwirrung aus. Die Kenntnis des Motivs vom gestörten Kirchgang und die Anregung zu seiner dramatisch höchst effektvollen Darbietung verdankt Wagner sehr wahrscheinlich dem Nibelungenlied, das ihm durch seine schon 1842 begonnenen sagengeschichtlichen Studien zum Nibelungenstoff vertraut war.32 Sein besonderes Interesse an der um 1200 entstandenen, bedeutendsten mittelhochdeutschen Heldendichtung (die ihn später noch intensiver beschäftigten sollte) bezeugt auch der Umstand, dass sich drei Ausgaben und eine neuhochdeutsche Übertragung des Nibelungenliedes aus der Zeit von 1840 bis 1843 in Wagners Besitz befanden.33

    Eine im ersten Teil der Dichtung herausragende und für den weiteren Geschehensverlauf entscheidende Szene ist der Streit der Königinnen Brünhild und Kriemhild, der vor dem Dom zu Worms eskaliert. Beide wollen mit ihrem Gefolge den Gottesdienst besuchen und treffen vor dem Portal aufeinander. Brünhild, die Gattin Gunthers, verlangt den Vortritt und damit den ständischen Vorrang vor Kriemhild, der Gattin Siegfrieds und Schwester Gunthers (Str. 781):

    „Ze samene si dô kômen vor dem münster wît.

    ez tete diu hûsvrouwe durch einen grôzen nît:

    sie hiez vil übellîche Kriemhilde stille stân.

    ‚jâ sol vor küneges wîbe nimmer eigen wîp gegân.‘"

    („Da trafen sie vor dem gewaltigen Münster zusammen.

    So verhielt sich die Landesherrin, erfüllt von großem Hass:

    Sie befahl Kriemhild mit bösen Worten stehenzubleiben.

    ‚Wahrhaftig, die Frau eines Eigenmannes darf niemals vor der Gemahlin eines Königs gehen.‘")

    Simrocks Übersetzung:

    „Nun kamen sie zusammen vor dem Münster weit.

    Die Hausfrau des Köngis in ihrem Zorn und Neid

    Hieß da mit schnöden Worten Kriemhilden stille stehn:

    ‚Es soll vor Königsweibe die Eigenholdin nicht gehn.‘"

    Die Funktion des Motivs als initiierendes Moment einer speziellen Folgehandlung stimmt in beiden Werken überein. Durch den Dissenz der Frauen vor dem Münster wird die Wendung zum unglücklichen, unwiderruflichen Ende der Liebesbeziehung des Protagonistenpaares ausgelöst. Die Handlung des Nibelungenliedes läuft nun konsequent auf die Ermordung Siegfrieds zu, die des Lohengrin auf seinen Fortgang von Brabant, der für Elsa dem Verlust des Geliebten durch den Tod gleichkommt.

    Unterschiedlich sind indes die Personenbeziehung, die Geschehenskonstellation und die Darstellungsintention. Im Nibelungenlied begegnen sich Brünhild und Kriemhild offensiv auf Augenhöhe und erheben wechselseitig schwere, objektiv nicht zutreffende Vorwürfe, von deren Richtigkeit sie aber aus ihrer jeweils eingeschränkten Perspektive überzeugt sein müssen. Ihre Rangstreitigkeit resultiert aus dem an Brünhild begangenen Werbungsbetrug, als Siegfried, der Xantener Königssohn, dem Brautwerber, König Gunther von Burgund, bei der Erwerbung der starken Brünhild hilft. Siegfried tritt vor Brünhild als Gunthers Dienstmann auf und kann mithilfe der in seinem Besitz befindlichen Tarnkappe an Gunthers Stelle die geforderten Kraftproben bestehen. Noch komplizierter wird die Lage durch den folgenden Brautnachtbetrug. Als Brünhild

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