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Teufelszwirn: Roman
Teufelszwirn: Roman
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eBook557 Seiten7 Stunden

Teufelszwirn: Roman

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Über dieses E-Book

Das bislang bedeutendste Werk von Christo Karastojanow ist die Trilogie "Teufelszwirn". Die Handlung spielt in einer Kleinstadt vor dem Hintergrund des für Bulgarien traumatischen Jahres 1923/24. Die Politik einer sozialen Marktwirtschaft, maßvoller gesellschaftlicher Reformen und der Aussöhnung mit Serbien durch den damaligen Premier Stambouliski hatte zu einem wirtschaftlichen Aufschwung geführt, aber auch zu einer unversöhnlichen Opposition seitens konservativer Kreise.
Der Mord an Stambouliski im Jahr 1923 stürzte das Land in ein Chaos und in eine Orgie von Gewalt. Karastojanow erzählt die miteinander verknüpften Geschichten einer Reihe von Bürgern in einer Provinzstadt, die - oft ohne es zu wollen - in den Strudel der Ereignisse mitgerissen werden.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum19. Juli 2013
ISBN9783943941333
Teufelszwirn: Roman

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    Buchvorschau

    Teufelszwirn - Christo Karastojanow

    Sophie

    ERSTES BUCH

    PERPETUUM MOBILE

    Denn die Zeit fliegt dahin, und nachts,

    da heult sie, dass es zum Fürchten ist!

    (vom Hörensagen)

    I read the news today

    (John Lennon, A Day In The Life)

    1

    MINISTERBESUCH

    DER GESTRIGE BESUCH DES HERRN MINISTERS IN K. VERDIENTE »VOLLES LOB«, WIE DER HERR MINISTER SELBST ÄUSSERTE. • WERTVOLLE EMPFEHLUNGEN ZUM GEDEIHEN DES LANDKREISES ERTEILT • »IHR BRAUCHT EIN WASSERSYNDIKAT«

    ZWEI PFERDE GESTOHLEN

    DIE POLIZEI IST DEM DIEB AUF DER SPUR

    Normalisierung des Lebens im Landkreis schreitet voran!

    FÜR DEN BALDIGEN ZUSAMMENSCHLUSS
    DER PARTEIEN

    Räuber im Gebiet Arpa-Dere Ungleicher Kampf mit schwer bewaffneter Bande. Werden nun endlich Maßnahmen ergriffen, um die Bevölkerung mit tauglichen Waffen auszurüsten? – Verfolgungstrupps angemahnt – Wer sind die Räuber?

    BAUERNBUND-REGIME VOR GERICHT

    Mehrere Ex-Minister verhört und unter Anklage gestellt

    FEIERLICHKEITEN IN RUSSLAND: In Russland beginnen die Vorbereitungen zum bevorstehenden 200. Jahrestag der Gründung der Russischen Akademie der Wissenschaften (siehe Seite VI)

    Das erste Mal, dass der neubestellte Bezirksgouverneur, der hochverehrte Herr Dantschew, von Burgas nach K. kam, war schon am 1. August, was ein Mittwoch war. Müde, unrasiert und ungnädig bestellte er die Bürgermeister der Gemeinden in den Salon der Kreisverwaltung ein und sprach zu ihnen: Meine Herren! Dass wir uns in Zukunft recht verstehen! Was ihr zu sagen habt, sagt es mir! Wagt es nie wieder, die Regierung mit euerm Firlefanz und euren unerhörten Dummheiten zu behelligen! Ja, aber!, sagten die Bürgermeister und stimmten sogleich ihr Klagelied an. Die Räuber! Höchste Zeit, so mahnten sie, die Bevölkerung zu bewaffnen! Wie sieht es denn aus heutzutage in den Gemeinden? Fünf mickrige Gewehre haben wir, das ist alles. Eins davon noch aus Türkenzeiten, eins unbrauchbar, weil mit einer geplatzten Hülse verstopft, das dritte gleich ganz ohne Patronen geliefert, so siehts aus. Und außerdem müssen unbedingt Verfolgungstrupps gebildet werden, wie es das Gesetz zur Eindämmung des Räuberunwesens vorsieht. Letzteres ist von übergroßer Wichtigkeit, nämlich da wo die Gemarkungen bewaldet sind!

    Unbedingt müssen sie das, soso, höhnte Dantschew bissig. Ich werd euch was von wegen unbedingt! Auf dem Ohr sind wir taub! Vor allem solltet ihr eure Zunge hüten, weil mit allen diesen Sachen, Räuber und was weiß ich, kommen wir ganz gut alleine klar. Das ist es, was ich gemeint hab, wie ich euch sagte, ihr sollt die Regierung in Ruhe lassen. Weil, der haben eure Räuber grade noch gefehlt! Aber was macht ihr? Diese Leserbriefe an die hauptstädtischen Zeitungen, was soll das? Von wegen Baldakow und Spissarewski und dass der eine den anderen verbleut haben soll? Palaver, Motzereien, Hirngespinste! Meint ihr vielleicht, ihr wäret alleine in diesem Bulgarien? Man hat von euch die Nase voll! Haltet endlich den Rand mit euerm dammichten 26. März!

    So las Dantschew ihnen die Leviten und kündigte abschließend an, sie sollten sich drauf gefasst machen, dass der Minister für Arbeit, Handel und Gewerbe ihnen die kommende Woche einen Besuch abstatte – auf eigenen Wunsch! – und sie sollten ja achtgeben, dass sie ihn gehörig empfangen. Ihm bloß nicht mit irgendwelchen Provinzpossen kommen wie die letzten Trottel. Erspart euch die Blamage!

    Sprachs und fuhr von dannen mit Getöse und unfassbaren 80 km/h, indem er eine Staubwolke über der Straße nach Simniza hinterließ. Während in K. alles durcheinanderlief, um das Programm für den Empfang des Ministers vorzubereiten.

    Dieser traf den darauffolgenden Dienstag ein, nämlich am 7. August 1923, was auch der Tag war, als vom Hof des hier ansässigen Petko Ch. Simidtschiew zwei Pferde gestohlen wurden – keine ganz teuren, aber auch keine ganz billigen, sondern im Gesamtwert von rund dreißigtausend oder annähernd so viel. Die Polizei setzte sich auf die Spur des Diebes und wusste schnell, wen sie zu suchen hatte; am Freitag machte sie ihn auf dem Markt von Nowa Sagora, wo er die Ware absetzen wollte, dingfest. Peter St. Komitow hieß der Mann. Noch an Ort und Stelle wurde er das erste Mal verprügelt, während der Fahrt nach K. und danach setzte es weitere Hiebe, doch kam dabei nichts weiter heraus, als dass er nur ein kleiner, dämlicher Pferdedieb war und keine Verbindungen zu irgendwelchen Untergrundräubern hatte. Die Räuber waren etwas ganz anderes, wie die Dorfbürgermeister dem Herrn Dantschew in der Plänkelei vom Mittwoch hatten begreiflich machen wollen. Eine finstere Bagage, die da jüngst im Landkreis verstärkt ihr Unwesen trieb, verdammt geschickt, tolldreist und einfach nicht zu fassen, und stahlen nicht bloß mal so eben zwei Pferde wie Peter St. Komitow, sondern langten ordentlich zu, auch anderes Vieh, herdenweise. Oder sie lauerten Reisenden und Händlern auf, überfielen sie aus dem Hinterhalt, zerrten sie aus den Kutschen und Cabriolets und misshandelten sie ausführlich, um sie zuletzt totzuschlagen – oftmals äußerst brutal und fast immer mit reichlich Blutvergießen, um die Leute in der Gegend in Angst und Schrecken zu versetzen. So widerfuhr es zum Beispiel Anton Karden, einem hier ansässigen Deutschen, der schon 1901 nach K. gekommen war und nun letzten Juli, auf dem Rückweg vom Staatlichen Zuchtbetrieb für Hornvieh und Hengste in Kaja Burun, zu Tode kam. Und dem jungen und intelligenten Viehhändler Nikifor Kowatschew aus Gabrowo, dem sie auf dem Hof eines gewissen Stujantscho Prodanow im Weiler Eski Machle den Schädel spalteten und zu Brei zerstampften. Wie sich herausstellte, hatte der junge Mann in Ausübung seiner Handelstätigkeit einhundertzwanzigtausend in bar bei sich gehabt, die bei dem Mord vollständig abhanden kamen; der Blutfleck war auf dem Hof noch lange sichtbar und hatte die Farbe von gedünsteten Dörrpflaumen.

    Der Minister traf jedenfalls mit dem Abendzug von Burgas kommend ein. Er war in Begleitung von Herrn S., dem hiesigen Parlamentsabgeordneten. Zur Begrüßung der beiden soll es, wie die Zeitung Freie Tribüne hinterher schrieb, einen Menschenauflauf gegeben haben. Lachend und winkend schritten sie über den am 26. März in Mitleidenschaft gezogenen Bahnhofsvorplatz und die beiden Brücken und hielten – eskortiert von den Kutschen der Stadtoberen und einer wogenden, staubschluckenden Menge im Schlepp – festlich Einzug in K. Hier grüßte der Minister die ihn Empfangenden noch einmal offiziell und wurde sodann zu einer Übung des Feuerwehrkommandos entführt. In all dem malerischen Befehlsgedonner und Rapportgeschmetter, Rädergeratter und Alarmgeklingel wurde ihm darzustellen versucht, wie das Kommando nunmehr, ganze fünf Minuten nach Auslösung des Feueralarms, am Brandort eingetroffen sei, so wie damals in Mogila bei der Feuersbrunst vom 17. Juli, als die wackeren Burschen nach nicht ganz siebenundzwanzig Minuten vor Ort waren; diese Schnelligkeit sei keine Hexerei, sondern einzig und allein der großen Disziplin zu verdanken, die der neue Feuerwehrkommandant Baruch Eshkenasi, dessen mächtiges Organ auch jetzt durch die Rauchschwaden scholl, seiner ohnehin eifrigen Truppe eingeimpft habe. Und das, obwohl Jude!, hieß es. Und vor dem 9. Juni wäre das sowieso undenkbar gewesen, kam man zum Schluß. Das verdient volles Lob!, versetzte der Minister und begab sich nun geradenwegs in die Lesehalle, um vor dem vielköpfigen Auditorium eine Rede zu halten, die staatsmännisch knapp, klar und verständlich und unnachgiebig gegenüber den Kommunisten war.

    Um halb sieben erhoben sich alle und zogen einträchtig auf die Festwiese zur großen Volksbelustigung, die die Kulturvereine der Stadt und das Orchester des legendären Siebenunddreißigsten Piriner Infanteriebataillons an diesem Tag veranstalteten und deren Programm in für K.er Verhältnisse nie da gewesener Fülle neben vielen anderen Musik- und Ringkampfnummern wilde Reiterspiele der Donkosaken aus Madame Plewizkajas Truppe vorsah, ferner Kussversteigerungen, Miss- und Mister-Wahlen, Schrotschießen, Blumen- und Konfettikanonen, Luftschlangen, Feuerwerk, Damenwahl, Lustige Wiesenpost, einen Venezianischen Abend mit japanischen Laternen im leider ausgetrockneten Flussbett, Tanz und Quadrille bis nach Mitternacht und dazu noch ein großes Konzert mit Scherzliedern und Romanzen besagter (ob ihrer Exilierung durch das neue russische Regime untröstlicher) Plewizkaja, Nadeshda Wassilewna¹. Das alles bekam der Minister aufgezählt und gesagt, dass sämtliche Einnahmen an das Musikgeschwader des legendären Siebenunddreißigsten Piriner Infanteriebataillons gehen und dass die Polizeistunde extra und nur für diesen Tag hinausgeschoben worden sei, wofür Dantschew in Burgas die Genehmigung erteilt habe, und man rechne damit, die Festwiese mit Beteiligten und schaulustigen Gästen überfüllt zu sehen.

    Volles Lob, wiederholte der Minister. Das alles zeuge von Einfallsreichtum und verdiene volles Lob!

    Doch im nächsten Moment durchzuckte es ihn, und er erkundigte sich kühl, ob es sich bei diesem legendären Siebenunddreißigsten Piriner Infanteriebataillon zufällig um jenes Siebenunddreißigste Piriner Infanteriebataillon handle, das, wenn ihn sein Gedächtnis nicht trog, im Zusammenhang mit der berüchtigten Vierten Gendarmerie zu Pferde bei der Niederschlagung der Märzrebellion der Anarchokommunisten in Erscheinung getreten sei, und gleich am 10. Juni habe das Kabinett doch angeordnet, nicht wahr, eine Untersuchung der Vorfälle vom 26. März einzuleiten?

    Da waren die Gastgeber in Verlegenheit, was sie dazu sagen sollten, drucksten herum, denn erstens wussten sie selber nicht recht, warum diese Untersuchungen noch nicht eingeleitet waren, und zweitens wollten sie an so einem Tag partout nicht an die Vorfälle vom März erinnert werden … Aber der Minister war schon dabei abzuwinken und zu erklären, es sei ihm im Grunde egal, er sei ja nur der Handelsminister, welches Amt ihm in der Nacht vom 8. zum 9. Juni nun mal zugefallen sei.

    Vergesst das Ganze, sagte er, aber was ich fragen wollte, meine Herren, wieso führt euer Fluss denn kein Wasser mehr? Da hatten sie ihm was zu erzählen – warum das so war. Sie machen sich keine Vorstellung, Herr Minister, lamentierten sie, was das für ein Jahr war für uns alle hier! Im Frühling: Regen ist kein Ausdruck. Von daher unbeschreibliche Überschwemmungen. Mai und Juni – kein Tropfen. Im Juli hats gehagelt und geschüttet, gleich stand das Wasser wieder überall. Und jetzt haben wir August, und, Sie sehen ja selbst, schon ist wieder absolut Ebbe. Sie sprechen den Fluss an, Herr Minister, aber wenn es nur der wäre! Einerseits ist die Ernte kompromittiert, als wie im Eimer, und andererseits haben wir Horden streunender Hunde in der Stadt, die sich von Aas und Unflat ernähren und derer, weil es sind Hunderte, die Hundefänger einfach nicht Herr werden. Epidemien bedrohen die Stadt, Euer Gnaden, Keim und Pestilenz, auf Schritt und Tritt!

    Aber, aber, meine Herren, entgegnete der Minister mit Vorwurf in der Stimme, wer wird sich denn beklagen! Wusstet ihr schon, dass zum Beispiel der Miami River in Nordamerika gerade mal zweihundertsechzig Kilometer lang ist und damit kürzer als eurer? Jawohl, meine Herren! Wenn ich es euch sage! Wobei dieser Miami in einen ungleich längeren Fluss mündet, den Ohio nämlich, so wie der Eure weiter unten in die Mariza fließt, denkt mal an, was für eine interessante Parallelität.

    Und nun müsst ihr euch ausmalen, fuhr er fort, dass am 23. März 1913 das ganze Tal von diesem Miamifluss auf einmal mit dicken schwarzen Wolken vollhing, ein unerhörter Sturm brach los, meine Herren, und es begann zu schütten wie aus Kübeln, Sturzbäche, kann ich euch sagen, die reinste Sintflut – ein Drittel der mittleren Jahresniederschläge in dieser geplagten Gegend, aufs Mal. Und so wurde das Miamital – flächenmäßig, nebenbei gesagt, der Nutzfläche von ganz Südbulgarien entsprechend – von einem reißenden Strom geflutet, elftausend Kubikmeter in der Sekunde, zwölfmal mehr, Pardon, als die größten Überschwemmungen hier bei euch. Dreißigtausend Hektar abgeschwemmter Mutterboden, ersoffenes Vieh im Wert von Tausenden, was sag ich, Millionen Lewa, vierhundert wertvolle Menschen fielen der Flut zum Opfer, von den materiellen Verlusten nicht zu reden, unterm Strich runde achthundert Millionen Lewa Schäden. Und das nach damaliger Rechnung, wo das Geld noch was wert war! Aber diese Amerikaner, was haben die gemacht, kaum dass das Wasser weg war? Sie haben gleich mal ein Wassersyndikat gegründet und, wie sie einhundertvierundzwanzig Millionen im Topf hatten, fünf Staubecken angelegt, von denen das größte dreihundertneunzig Millionen Kubikmeter Fassungsvermögen hat und, zusammen mit den kleineren allen, gehen da eine Milliarde und fünf Millionen Kubikmeter rein, und ihr, meine Herren, macht euch überhaupt kein Bild, wie viel Wasser das ist, eine Milliarde und fünf Millionen Kubikmeter, denn so viel kommt bei euch das ganze Jahr nicht vorbeigeplätschert, mit Verlaub. Aber das ist eben Amerika!

    Und nun passt mal auf, was dann passierte.

    Weil sie das Wassersyndikat hatten, konnten diese Amerikaner, indem sie sich vor neuen Überschwemmungen hüteten, mit dem aufgestauten Wasser auch gleich noch den Sommer lang ihre Saat bewässern und fahren seither eine fünf-, sechsmal größere Ernte ein als wir. Und so kommt es, dass sie bei den Nahrungsmitteln von dort aus bis nach hier konkurrieren, während doch eigentlich wir als die ausgefuchsten Landwirte und Gärtner denen da drüben Konkurrenz machen müssten.

    Also sprach der Minister, und seine schönen grazilen Hände unterstrichen energisch, was er sagte, am Ende höhnte er noch: Für diese Sache bräuchte es wohl erst mal ein paar so furiose Überschwemmungen, wie die Amerikaner sie hatten, dann kämen wir vielleicht drauf.

    So redete er zu ihnen, während sie ihn herzhaft angähnten, schwitzend unter dem Eindruck der niederschmetternden Zahlen (selbst wenn diese viel zu viele schillernde Nullen aufwiesen, um korrekt zu sein), doch bemüht, an den rechten Stellen zu lachen oder begeistert mit der Zunge zu schnalzen. Worauf sie sich einer nach dem anderen verbeugten und artig zur Seite trippelten, um ihm den Vortritt zu lassen zum sommerabendlichen Rundgang von einem Tanzpodium zum anderen, zwischen Turngeräten und tänzelnden Pferden hindurch, an Marktständen entlang, mit einem Abstecher zum verkrauteten Flussufer, wo Sprengmeister, vollkommen versengt und verrußt, Raketen zündeten. Zu guter Letzt landeten sie alle miteinander zum rustikalen Abendbrot im Familienlokal Harmonie, das von Georgi Walow und Dimo Semerdshiew (vormals Kebabbrater im Restaurant von Iwaniza Kawardshikow) geführt wurde und erst vor Wochenfrist, zum Ersten des Monats, neben dem Kontor von Jomtow, Awramow & Sohn in der Straße des 5. Januar eröffnet worden war. Im Separee hinter einem grünen Jägerzaun probierte der Minister von Georgis und Dimos Kebabtscheta² und was der Grill noch so bot – Rostbraten von Rind und Schwein in heroischen Dimensionen, auch Lamm und Pute – und war des Lobes voll; nicht minder ob des gut gereiften und gekühlten Bieres, der naturreinen Rotund Weißweine, erlesenen Kognaks und Obstler, Kartäuser- und Benedektinerliköre, des Mastika aus Stara Sagora und all der anderen Schnäpse und sonstigen Alkoholika; und natürlich lobte er die schnelle, adrette und diskrete Bedienung in den weißen Schürzchen und Moiréseidenwesten. So aß und trank er, was der Herrgott den Seinen in diesem August gegeben, warf zuletzt zufrieden die Serviette von sich und sprach: Prima, meine Herren, ganz vorzüglich, das verdient ein volles Lob! Ein so modern geführtes und eingerichtetes Lokal in K. vorzufinden habe er wirklich nicht erwartet, fügte er an, doch wenn alle sich einig seien, dann klappe eben auch dies.

    So sprach er zu ihnen, und bei dem Wort »einig« wurden alle Anwesenden enthusiastisch und riefen laut hurra und es lebe.

    Hier im Lokal Harmonie verabsäumten es die Honoratioren der Stadt nicht, dem Minister noch einmal zu versichern, dass ganz K. und Umgebung dem Zusammenschluss der Parteien zu einem wahrhaft demokratischen Bund mit großer Ungeduld entgegensehe. Nicht nur ihr wünscht euch das, gottlob!, entgegnete der Minister, das ganze rechtschaffene Volk, unter Wahrung von Ruhe, Ordnung und Bürgerfriede, erwarte den Parteienbund, der – als hohe demokratische Geste des neuen Kabinetts – nurmehr eine Frage von Tagen sei … So siehts aus, meine Herren, schloss er. Denkt mal an!

    Worauf die Männer um ihn her erneut in ohrenbetäubende, orkanartige Hurrarufe ausbrachen, aufsprangen, um donnernd ihre Bierkrüge gegeneinanderzustoßen, und das Orchester gegenüber spielte Es rauscht die Mariza³.

    Daraufhin hatte man anscheinend genügend Mut gefasst, den Minister, ohne dass Dantschew davon erfuhr, auf die Räuber anzusprechen, die Bewaffnung der Bevölkerung und die Verfolgungstrupps …

    Wie?, horchte der Minister auf. Von was für Räubern faselt ihr da, meine Herren? Im ganzen Land gibt es keine Räuber! Das hat bloß die Presse aufgebauscht, wusstet ihr das nicht?

    O nein, Herr Minister, kam Widerspruch von allen Seiten, mit Verlaub, Euer Gnaden, es gibt sie leider doch, und es ist nicht nur die Presse, die sie aufbauscht! Bandenweise, mit Verlaub, treiben sie in unserer Gegend ungestraft ihr Unwesen. Kaja Burun, Pantakli, Talaschmanli und noch ein paar Dörfer sind buchstäblich umzingelt von den Gangstern, weil da ist nichts drumherum als Wald und Felsen! Am Dritten dieses Monats erst wieder haben die Männer aus Botewo im Arpa-Dere-Tal eine ungleiche Auseinandersetzung mit diesem Hajdukengesindel gehabt. Und womit traten die Bauern dort zum Kampf an? Mit simplen Jagdflinten die einen, die anderen mit Knüppeln oder mit Forken und Rechen und was sonst zur Hand war, ihr Vieh zu schützen, während die Räuber aus properen Parabellum-Pistolen auf sie schossen, mitunter auch aus weitreichenden Mannlicher-Karabinern. Und hinterher verzogen sie sich mit Leichtigkeit wer weiß wohin, und an ihrem Nachtlager hinterließen sie einen Zettel, aus dem hervorgeht, dass sie nur zu fünft gewesen – der blanke Hohn, Herr Minister! Fünf Spitzbuben, die ein ganzes Dorf in Schach halten! Denn so hat es auf dem Zettel gestanden: Hier lagerten fünf Kämpfer für das Volkswohl. Gezeichnet: Gruppe Schwarzer März – und jetzt wirst du uns, Eurer Gnaden, bestimmt fragen, wie kann das sein: fünfzig-sechzig Bauern, gesunde Männer, tapfere Bulgaren, kommen mit fünf tumben Räubern nicht zu Rande, vermögen sie weder zu schnappen noch an Ort und Stelle zu liquidieren … Tja, dazu ist zu sagen, dass man die Situation vor Ort kennen muss, wenn man dort hinkommt sieht man nämlich, dass da kein Durchkommen ist, nicht mal ein Vögelchen flattert sich da so ohne Weiteres durch, geschweige dass ein Mensch so einfach daherspaziert, und die Fünfe hatten sich dort bestens verschanzt. Dazu noch die miese Bewaffnung bei den Bauern …

    Moment, ich darf doch sehr bitten, unterbrach der Minister die Wortführenden. Gab es denn außer diesem Wisch noch andere Indizien?

    So fragte er und brachte die Männer in Verlegenheit, denn sie wussten nicht, was er meinte.

    Und während sie noch zauderten und sich fragten, wie fortfahren, schnitt der Minister, der rot geworden war, ihnen mit herrischer Geste das Wort ab. Um unversehens das Thema zu wechseln. Er erzählte ihnen was von amerikanischen Automobilen!

    Meine Herren, sagte er. Ich sage euch, die Automobilproduktion in den Vereinigten Staaten ist im grenzenlosen Wachstum begriffen. Dass dem so ist, wird aus den folgenden hochinteressanten Tatsachen ersichtlich: Mister Ford, der König der Automobilbauer, hat seine Fabriken dermaßen vermehrt, dass er sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt, anno 1923, in den Kopf gesetzt hat, zwei Millionen Automobile zu fertigen.

    Die Männer in der Runde sahen einander verdutzt an, doch der Minister ließ sie nicht zu Wort kommen und fuhr in seinen Ausführungen fort. Für ein Fordsches Automobil seien durchschnittlich vierhundert Dollar zu berappen, das mache insgesamt achthundert Millionen Dollar. Respektive circa achtzig Milliarden Lewa! Derweil wechselten die Anwesenden verzweifelte Blicke und machten zugleich tz-tz!, womit sie Interesse heuchelten, und der Minister ließ sich immer noch nicht unterbrechen. Insgesamt, so sagte er, belaufe sich die Automobilproduktion in Amerika dieses Jahr auf schätzungsweise über drei Millionen Automobile, und setze man hier einen Mittelwert von sechshundert Dollar pro Automobil an, so ergebe sich die gigantische Summe von einer Milliarde achthundert Millionen Dollar, respektive einhundertachtzig Milliarden Lewa. Annähernd geschätzt. Für die zehn Millionen Automobile, die bereits auf Amerikas Straßen unterwegs seien, verbrauche man ungeheure Mengen an Benzin und Gasolin. Genauer gesagt: Wenn ein Automobil jährlich Benzin für zweihundert Dollar frisst, dann bedeutet das für sämtliche Automobile insgesamt gesehen einen Verbrauch im kolossalen Umfang von zwei Milliarden Dollar respektive zweihundert Milliarden Lewa …

    Das ist eine irre Summe, meine Herren!, rief der Minister mit Tränen der Ergriffenheit in den Augen den nun schon restlos erschlagenen Honoratioren zu. Ganz zu schweigen davon, dass der Automobilindustrie eine Reihe gleich gearteter Industrien zuzuordnen sind, deren Produktion sich ebenfalls auf Millionen von Dollar beläuft. Für unsere europäischen Begriffe hat die amerikanische Automobilindustrie überhaupt eine sagenhafte Entwicklung genommen. Dort drüben, meine Herren, ist ein Automobil für alle Schichten der Gesellschaft erschwinglich, und wenn Sie in Betracht ziehen, dass es hier in K. … Wie viele Automobile gibt es in K.?

    Hier? Ach … In K. gibts so was gar nicht, äußerten die Anwesenden wie vor den Kopf geschlagen.

    Ach!, sprach der Minister, da seht ihr mal! Ihr hier in K. habt nichts vorzuweisen außer vielleicht einem hübschen Biergarten, während dort alle – der Briefträger, die Wäscherin – alle sind sie automobil! Oder, meine Herren, wenn ihr wollt, guckt euch die Luxusflittchen an – auch die kommen im Automobil gefahren! Ja, meine Herren, das Dumme ist nur, dass dieses moderne Verkehrsmittel bereits zu einem Verkehrsverhinderungsmittel geworden ist.

    Was Ihr nicht sagt, gurrten die Herren erstaunt. Das kann doch nicht sein!

    Aber ja, fuhr der Gast unerbittlich fort, denkt doch mal nach! Tausende von Automobilen verstopfen dermaßen die Magistralen der amerikanischen Städte, dass man nicht weiß, wohin damit! Ein Drittel der Washingtoner Staatsbeamten fahren mit dem Automobil zur Arbeit, vor den Staatsämtern sammeln sich während der Arbeitszeit Massen von Automobilen an, die einfach auf der Straße stehen gelassen werden. Genauso die Angestellten in den großen Kaufhäusern, die haben auch ihre Automobile, und im Geschäftsviertel von New York – es heißt New York City, meine Herren, merkt euch das, wenn euch jemand fragen sollte, wisst ihrs und müsst euch nicht blamieren: New York City! – da auch. In dieser City bilden die Automobile zeitweise kilometerlange Schlangen, und keiner weiß, was damit anfangen. Die einen schlagen vor, die Dächer der Häuser dafür zu verwenden, andere wollen sie lieber unter die Erde stopfen. In der Stadt Seattle haben sie schon angefangen, extra Häuser zu bauen, wo die Automobile auf den Dächern parken können und warten, bis ihre Eigentümer sie mithilfe praktischer Vorrichtungen wieder herunterheben. In Washington wiederum plant man unterirdische Garagen zu bauen, und das an den belebtesten Plätzen. Diese Bauwerke, stellt euch vor, sind einfacher und kosten weniger als die Metropolitan genannten unterirdischen Eisenbahnen …

    Den Anwesenden sackten die Köpfe schon zwischen die Tassen und Teller, während der Minister endgültig in die Offensive ging:

    Interessant ist der Umstand, meine Damen und Herren, und deswegen bringe ich ihn zur Kenntnis, dass die Zigeuner in Nordamerika sich genauso mit Pferdehandel befassen, wie das bei uns die Zigeuner tun, nur dass die Pferde dort Automobile sind! Und mit Erfolg! Keine Angst, meine Damen und Herren, natürlich sind die Automobile, mit denen sie Handel treiben, alt – aber diese Art An- und Verkauf befindet sich vollständig in ihrer Hand. Und übrigens verschachern sie von den alten Automobilen weniger die neueren, sondern meistenteils Schrottdinger, die schon nicht mehr zu reparieren gehen, und je abgewrackter so ein Automobil ist, desto zufriedener sind sie, weil – jetzt kommts, meine Damen und Herren – so kaufen sie es als Alteisen, zum Schleuderpreis! Ha-haa! Die Zigeuner dort sind nicht auf den Kopf gefallen, meine Herren! Ein erfinderisches Völkchen! Denn anschließend macht der listige Geschäftsmann sich eigenhändig an die Reparatur und schafft es beinahe immer, das Unmögliche möglich zu machen, flickt die verschlissene Kiste wieder so weit, dass er sie mit gutem Gewinn absetzen kann, und hat ihn sich somit redlich verdient. Und auch dort ziehen die Zigeuner von Ort zu Ort, meine Damen und Herren, nur nicht mit dem Esel und Maultier wie unsere, auch nicht im Tross mit Karren und Planwagen, sondern mit Autoomnibussen kutschen sie von Dorf zu Dorf und lesen den Leuten aus der Hand …

    Stehend, mit dem Glas in der Hand, dozierte er, wählte die Worte brillant und präzise, und auch wenn er gestikulierte, ging kein Tropfen Wein verschütt.

    So ist die Lage, meine Herren!, brüllte er zuletzt, wovon die dösenden Herren um ihn her aufschraken. Und erst die Schauspielerinnen dort – hoho! – die angeln sich einen amerikanischen Millionär, um ihn zu heiraten, während ihr hier Däumchen dreht! …

    Das war der Moment, wo die Gesellschaft sich noch einmal aufraffte und ein mehrfaches Hurra durch die Rauchschwaden schmetterte, dass es das Biergartengetöse jenseits des grünen Zaunes übertönte.

    Gemunkelt wurde außerdem, dass zuletzt in jener schwülen Augustnacht eine Kutsche durch den warmen Staub auf dem Coburg-Platz⁴ rumpelte und den hohen Gast zum gegenüber gelegenen Hotel Neu-Amerika (vormals Alt-Europa geheißen, doch nach dem 26. März generalüberholt und umbenannt in Neu-Amerika) brachte, wo in der Tiefe der dunklen, kühlen Regierungssuite im ersten Stock, im spärlichen Licht des hohen, schmalen Fensters mit dem gewundenen schmiedeeisernen Gitter davor, spärlich bekleidet auch, beinahe nur im winterapfelfarbenen Hemdchen, ein zartes Wesen aus dem Ferienpensionat der französisch-katholischen Schule mit fescher Kurzhaarfrisur seiner harrte. Erstaunt taumelte er über sie her, um sie zu fragen, was sie in seinem Zimmer zu suchen habe und ob sie zufällig Schauspielerin sei, denn er sei Millionär, das täte passen – da hatte sie schon an der richtigen Stelle zugegriffen.

    Das Mädchen war durchaus keine Schauspielerin, wusste aber sehr genau, was sie hier suchte – und fasste leise kichernd gleich nach. Erzählte es außerdem hinterher brühwarm ihren vor Vergnügen krähenden Freundinnen vom Pensionat: Der Minister, berühmter Wrazaer Advokat, sei, als man ihn im Hotel ablieferte, schon dermaßen besoffen gewesen, dass er, als sie ihn dort unten anfasste, nur das große Zittern gekriegt und traurig gelallt habe: Ach, mein Fräulein, Sie verstehen mich nicht, gehen Sie bitte, es wäre nur schade – um sie im nächsten Moment mit herrischer Advokatengeste zurückzureißen, mit einer Hand von hinten zu umgreifen und an sich zu ziehen, während er sich mit der anderen fahrig die Kleider vom Leib riss; dann habe er nach ihrem bestickten Höschen gegrabscht, es ihr vom Hintern gezerrt, die Trophäe in seiner Faust geschwenkt – und hielt, nackt wie ein griechisches Standbild im Stadtpark, eine neue Rede ins Dunkle hinein: Was wir brauchen, meine Damen und Herren, so begann er diesmal, ist Begeisterungsfähigkeit, Idealismus, und dass wir alle Kraft in die Erhebung unseres Banners stecken; auferheben müssen wir das, hoch und höher, meine Damen und Herren, aus dem schändlichen Dreck, in den es die stinkenden Bastschuhe der Tölpel, der Verbrecher vom Bauernbund getreten haben … Damit unsere Nation wieder Rettungsanker wird … Friedensstifter … Kulturträger … Rettungsträger, Kulturanker …

    Das Volk, setzte er wieder an und schwenkte inbrünstig die Faust mit dem perlenbesetzten Höschen. Das Volk, das wir waren und wieder sein wollen werden, sobald wir die nötige Zeit haben … for regeneration, rebirth, revival, resurgence, renaissance – unseres nationalen Selbstbewusstseins, schlus-ss-endlich-ch-hach-ch-ch! … hol euch der Teufel!, ächzte er, während unversehens ein paar weißliche Tropfen seiner entfleuchenden Männlichkeit über das Mädchen spritzten. – Alle miteinander!, röchelte er und stieß noch einen Fluch auf Französisch aus – überraschend gewandt und furchtbar dreckig –, bevor er besinnungslos aufs Bett plumpste.

    Dies also hatte die junge Frau ihren Freundinnen zu berichten, und als man sie später ausfindig zu machen suchte, um ihr für diese Lügenmärchen heimzuzahlen, war sie längst aus K. verschwunden, so dass sie ihre Aussagen nicht weiter erhärten konnte – was aber auch nicht nötig war, denn in ihrer Kommode im Mädchenpensionat fand sich, o weh, ihr zerrissenes Höschen mit den erhärteten Flecken von des Ministers Entladung.

    2

    Wie schwer es ist, eine berühmte

    Frau zu heiraten!

    AUCH DAS ZWEITE KONZERT DER SÄNGERIN NADESHDA PLEWIZKAJA VOR VOLLEM HAUS • GRUSSADRESSE DER DANKBAREN BÜRGERSCHAFT • DIE TRÄNEN DER PLEWIZKAJA • TRÄNEN AUCH BEIM PUBLIKUM

    FREIWILLIGER DER GENDARMERIE BEGEHT IN DER KASERNE SELBSTMORD. DIE EINZELHEITEN.

    FREIW. KURUSANOW: WER WAR ER?

    PRINZ ALS CHAUFFEUR: Österreichischer Ex-Erzherzog Leopold im Gefängnis. Seine Hoheit, der seit einiger Zeit einen reichen Wiener chauffiert, wurde verhaftet, weil er zu schnell fuhr. Korrespondenz der Pester Lloyd

    Und immer noch in derselben atemberaubenden Nacht vom 7. auf den 8. August 1923, als das Volk sich nach der großen Volksbelustigung zerstreute und die Straßenhunde leise knurrend durch die verwaiste Stadt streunten, als einzig noch in Mitirisows Druckhaus die Walzen ratterten und rumpelten, weil dort die Freie Tribüne gedruckt wurde, als ein von der Müdigkeit, vielen Reden und vielem Trinken gefällter Minister hilflos in das extra für ihn entlauste Riesenbett im Neu-Amerika geplumpst war und der einstweilen noch unbekannte Peter St. Komitow ein Loch in den Zaun von Petko Ch. Simidtschiews Hof gemacht hatte und auf Zehenspitzen eingedrungen war, um die Pferde zu stehlen, da geschah es am anderen Ende von K., nämlich auf dem Hof der Kavalleriekaserne, dass ein gewisser Kurusanow, Freiwilliger der berüchtigten Vierten Gendarmerie zu Pferde, siebenunddreißig, ledig, weder angeklagt noch vorbestraft, zur Latrine schlich.

    Dort sah er sich mehrfach um, ehe er ein Streichholz anriss und an irgendwelche Papiere hielt.

    Dann zog er eine Pistole unter der aufgeknöpften Jacke der Sommeruniform hervor und schoss sich in den Mund, wovon seine Wangen bis zur völligen Unkenntlichkeit zerfetzt wurden und wie verkohlter Gummi aussahen.

    Noch an selber Stelle, im Tohuwabohu der von dem Knall aufgeschreckten Kaserne, wurde zweifelsfrei festgestellt, dass die Person einer jener Räuberbanden angehörte, denen der Diebstahl von Handgranaten und sonstigen Waffen aus dem Regimentsarsenal zur Last gelegt wurde; Kurusanow höchstpersönlich sei der Ideengeber für den Raub und bei seiner Durchführung in jeder erdenklichen Weise behilflich und so weiter gewesen; bereits im Dezember 1923 sei er mehrfach mit der Lehrerin Sofija M., auch mit Armanassi Stojanow und anderen Anarchisten, gesehen worden, und diese Selbstentleibung durch den Mund sei – eindeutig! – nur deswegen verübt worden, weil Kurusanow entweder seine verbrecherischen Handlungen gegen den Staat vertuschen und alle diesbezüglichen Spuren tilgen wollte, oder weil sein Gewissen ihn plagte.

    Da dies nun einmal feststand, spuckte man angewidert aus und überwand sich, den von Blut und Soldatenpisse triefenden, mit allerlei Unflat besudelten Leichnam aufzuheben und auf die erstbeste Decke zu werfen; noch vor Sonnenaufgang wurde er in der Tiefe des Kasernenhofes verscharrt, gleich neben dem schrecklichen Brunnen, in den am 26. März die zerfetzten und zerstückelten Leichen von acht – am darauffolgenden 27. noch einmal vier – jungen Anarchisten geworfen worden waren.

    Als zugeschaufelt war, kehrte man zurück ins Haus und wusch sich die Hände.

    (Nadeshda Plewizkaja wiederum bekam regelmäßig Briefe, in denen sie gebeten wurde, nach Russland zurückzukehren. Skoblin, ihr Gemahl, der dem Stab von Baron Pjotr Wrangel⁵ angehörte, schickte sie ihr nach, wo immer sie gerade weilte. Das neue System verlieh seiner Bitte auf verschiedenste Weise Nachdruck; Emissäre und Geheimagenten lockten mit reichlich Gold und Diamanten, Komfort und also Respekt; Telegramme pflasterten ihren Weg durch Europa und Amerika, doch diese vornehme Frau zog das Exil und die Freiheit und Unerschrockenheit des russischen Liedes den Diademen des Volkskommissars Georgi Tschitscherin⁶ vor – tat somit nur, so sagte sie, was Alexander Wertinski⁷ in den verräucherten, prallvoll mit Russen und glühendem Heimweh gefüllten Bukarester Kneipen und billigen Nachtklubs vormachte. Es war offenkundig, dass sie sich für länger in Bulgarien niedergelassen hatte, und Tschitscherin – der ohnehin nicht wusste, wo ihm der Kopf stand bei all den turbulenten Konferenzen, Protestnoten, feindlichem Schriftverkehr und dem unbeschreiblichen diplomatischen Hickhack – schien langsam einzusehen, dass so nichts zu machen war, winkte ab und schrieb keine Briefe mehr, statt dessen überstellte er der bulgarischen Regierung im Sommer 1923 überraschend eine diplomatische Note, in der er sie für die wachsenden Repressalien gegenüber Aktivisten des legalen Verbands zur Rückkehr in die Heimat (Sownarod)⁸, verantwortlich zieh. Des Weiteren erklärte er, dass im Falle, die Gefangenen würden nicht freigelassen, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken sich gezwungen sähe, gleich geartete Maßnahmen gegenüber den Hunderten in Russland lebenden Bulgaren anzuwenden – mit stillschweigender Unterstützung von Fridtjof Nansen⁹. Kein Wort indes in dieser Note über Nadeshda Plewizkaja! Sie selbst erfuhr von Tschitscherins Schreiben erst aus den bulgarischen Zeitungen und durfte daraus den Schluss ziehen, dass es ihm nur um die Sownarod-Gauner ging, nicht um sie. Ihre Verbitterung war groß, doch gab sie im ungastlichen Bulgarien weiterhin ihre Konzerte, als wäre nichts geschehen. Freilich in obligatorischer Begleitung einer Schar gnadenloser Kosaken, da sie die blutigen Rachegelüste des Weltbolschewismus und seiner Agenten bei Sownarod zu fürchten hatte. Tagsüber schwangen die Donkosaken virtuos ihre Säbel, führten ihre berühmten Reiterspiele auf und hatten ihre Geplänkel mit den Zeitungsreportern, weil die sie Dschigiten schimpften; abends sang sie in den verrauchten Salons der Offizierskasinos und in den nach Petroleum, Teeröl und Theaterschminke stinkenden Lesehallen, bekam Hunderte Grußadressen von Bürgern, die ihre Lieder zum Schluchzen gebracht, und drückte sich selbst ein paar heroische Tränen ab, während sie erzählte, wie man sie gewaltsam der Heimat beraubt hatte und wie sie sich seither standhaft Tschitscherins Einflüsterungen widersetzte, in das von der bolschewistischen Revolution und einem brudermörderischen Bürgerkrieg verwüstete Land zurückzukehren und sich und ihre Kunst in den Dienst des satanischen Regimes von Lenin, Leo Trotzki und Tschitscherin zu stellen, dem so viel Blut an den Händen klebte; zum Schluß trieben die Donkosaken die Traube ihrer Verehrer ohne Pardon auseinander, schlugen sich und vertrugen sich beim Saufen, wobei sie sich nicht genug wundern konnten über den in bulgarischen Kneipen herrschenden Überfluss, verschacherten ihre Kurzgewehre gegen Brot, während die Diva von einer Handvoll russischer Adliger – Freunden ihres Mannes, denen er sie auf ihren Reisen anvertraut hatte – ins Hotel nebenan geleitet wurde, wo sie regelmäßig an einem Tisch für sich zu Abend aß, während ihres Mannes Kumpane sich an den Nachbartischen betranken.)

    So trat Nadeshda Plewizkaja also auch an jenem 8. August in K., nachdem sie auf dem vom Minister beehrten Volksfest gesungen hatte, noch ein zweites Mal auf – wegen der großen Nachfrage des hiesigen Publikums, jedoch auch, um Kasse zu machen. Wieder gab es Danksagungen, wieder erzählte sie, wie der hinterlistige Tschitscherin sie zu locken versuchte, und den Donkosaken konnte es wieder einmal nicht schnell genug gehen, dass die Schülerinnen vom Gemischten Pädagogischen Gymnasium und die anderen Verehrer verschwanden, und überhaupt war alles wie sonst auch, nur dass diesmal, während sie zuletzt im roten Salon des Neu-Amerika dinierte, sich jemand schwer auf einen Stuhl an ihrem Tisch fallen ließ, und das war Noah Markow.

    Meine Dame, sprach Noah Markow versonnen, bestimmt wissen Sie nicht – woher sollten Sie auch, Sie sollten aber! –, dass ganz K. zu Noah Markow gerannt kommt, Wiener Kastenbetten kaufen, frisch eingetroffen und in sämtlichen Farben und Modellen vorrätig, auch die erlesensten Geschmäcker befriedigend … Verkaufe selbstverständlich auch in Raten!, wandte er sich herausfordernd den russischen Adligen am Nachbartisch zu, die starr, mit vollem Mund, herüberglotzten. Sprachs, um seine Aufzählung fortzusetzen: brandneues photographisches Material zu gesenkten Preisen, Gardinenstangen, Beistelltische, Handtuchhalter und Sonstiges … Aber ich bitte Sie, meine Dame! Sie hören ja gar nicht zu, was ich Ihnen sage! Äugen in der Weltgeschichte herum. Lassen Sie doch diese Blödiane da sitzen. Hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe, dann wird Ihnen alles klar! Wenn Sie zum Beispiel Interesse an hochwertig-günstigen Webmützen haben, Baretten, Schildmützen für Schüler und noch anderen, wo gehen Sie als erstes hin? Natürlich zu mir in meinen Laden, der sich am Coburg-Platz befindet, vis-à-vis vom Kaffeehaus Sliwen, das wiederum gerade hier gegenüber liegt, Sie könnten mein Geschäft demnach ganz bequem durch das Fenster des Restaurants sehen, in dem zu sitzen wir die Ehre und das Vergnügen haben, wenn es im Moment nicht gerade dunkel wäre … Wo waren wir stehen geblieben … Außer dem oben Genannten habe ich Oberhemden, Büstenhalter, Blazer, Krawatten, Handtücher und, Pardon, Schnupftücher im Angebot, außerdem Ärmelschoner, Strumpfhalter und auch, wenn ich das sagen darf, die zugehörigen Strümpfe, desgleichen Handschuhe, Unterhosen aus dem Hause Eger … Und erst meine Parfümerie – was das Herz begehrt – ich kann Ihnen sagen! Toilettenseife, Cremes, Puder, Lippenstifte, Kosmetik, Brillantinen und Pomaden, nämlich aus Kronstadt, Kölnischwasser, Feuchtpuder der Marke Schwan, Zahnpulver, Kinderspielzeug, Überzieher, will meinen: Präservative, mit Verlaub …

    Was für eine Unerhörtheit!, kreischte Madame Plewizkaja endlich auf, doch es war nur ein schwaches Piepsen. Sie Barbar! Meine Herren, so tun Sie doch was!

    Noah Markow, nervös werdend, klopfte einmal hart mit dem Knauf seines Krückstocks auf den Tisch, während die adligen Herren aufsprangen, um die Donkosaken zu Hilfe zu holen, die längst im Bulgaria gegenüber saßen (da, wo Krikor Derlemisjan morgens das einfache Glück – im Sinne von Gesundheit, nämlich in Form von frischem Joghurt – unter das Volk brachte, abends ab halb sechs dann zum Ruhme seines Lokals russischen Wodka) und sich wacker besoffen.

    Der arme Noah gewahrte aus den Augenwinkeln, wie die russischen Junker die Stühle im Neu-Amerika beiseite fegten, durch die geschliffenen Glastüren stürzten und wie angestochen über den dunklen Platz rasten, auf das Bulgaria des kleinen Armeniers zu, doch drehte er sich umgehend wieder zurück zu der Dame am Tisch, nahm ergeben seinen brummelnden Singsang wieder auf: Klingeln, meine Verehrteste, Zinkbatterien, Schellen, Lichtschalter, Fahrradersatzteile, verschiedenartige Ketten, Naben, einfache und solche mit Rücktritt … aber die muss ich Ihnen hier nicht einzeln aufzählen, das wäre eine Werbemaßnahme für sich … Ich habe Schläuche vorrätig zum Abziehen von Wein und Schnaps, diverse Sorten Koffer und Taschen, als da wären Reisetaschen, Advokatentaschen, Jagdtaschen, Arztkoffer, Geldbörsen, Portefeuilles … Sprach ich schon die Wiener Kastenbetten an, den Stolz unseres Geschäfts? Ach ja, davon war schon die Rede, sagte er errötend, aber die Garderobenständer hatte ich noch nicht erwähnt, meine Dame, und die unbeschreiblichen Wiener Schemel, nicht wahr, wie ich auch noch kein Wort verlor über die unvergleichlichen Kanapees, die ich vertreibe, und die unerhörten Musikinstrumente nebst allem Zubehör; des Weiteren Gummibälle in verschiedener Größe, Lederfußbälle …

    An dieser Stelle geruhte Madame Plewizkaja in Ohnmacht zu fallen, doch Noah Markow griff – durch die Wogen von Glitzerstoff, Moiré und schwarzer Spitze – geschickt zu, fing sie auf.

    Aber meine Dame!, rief er erregt und besorgt. Was halten Sie von einem Fordson-Traktor? Diesem wendigen Universaltraktor, der beim Wettbewerb in Knesha 1921 den ersten Preis errang? Äußerst zweckmäßig, sparsam im Verbrauch, sehr beweglich, pflügt am Tag gut seine zwoeinhalb-drei Hektar, und für Notfälle habe ich übrigens immer einen Mechaniker an der Hand …

    Mit Drohgebärden und triumphalen Schlachtrufen – Hoho! Wer-r-r-r wagt es? – kamen die Donkosaken über den Platz gerannt, doch Noah Markow, groß und herrlich, war nun in voller Fahrt: Meine Dame! All das lege ich Ihnen zu Füßen! Bei Gott, was wollen Sie mehr? Ich bin hier der reichste Mann am Platze, mein Laden ist der größte, und alles gehört Ihnen, Sie brauchen mich nur zu heiraten! Erfüllen Sie sich diesen innigen Wunsch, heiraten Sie mich und hören Sie auf, wie eine Zigeunerin mit dem Autobus durch dieses vermaledeite Bulgarien zu kutschen, von Dorf zu Dorf! Verehrteste, machen Sie sich nicht länger zum Gespött! Ich liebe Sie! Ja Was ljublju!¹⁰

    In diesem Moment flogen die Kosaken mit blank gezogenen Säbeln zur Tür des Neu-Amerika herein. Noah Markow, beidhändig an den Tisch geklammert, beschwor die Sängerin, die Männer aufzuhalten, es werde sonst übel enden. Verehrteste!, rief er, bringen Sie sie zur Räson, diese Russenpossen haben uns gerade noch gefehlt! Madame aber in ihrer Erschütterung brachte keinen Ton hervor, und die Kosaken hatten ihn schon gepackt, mit wütendem Furor von Stuhl und Tisch gerissen, waren dabei, den lauthals Brüllenden durch die im elektrischen Licht blitzende Tür zu zerren, um ihn draußen zu malträtieren und zu massakrieren. A-a-a-aaah!, brüllte Noah Markow, ihr Esel, Hunde, Säue, ihr verdammten Tscherkessen, totschlagen sollte man euch, und diese elende Schlange dort drinnen gleich mit, totschlagen alle miteinander, wieso dulden wir euch überhaupt noch in diesem unseren Land …

    O Gott, wisperte drinnen die bestürzte Plewizkaja vor sich hin, ogottogott! – worauf sie einem der zunächststehenden adligen Komplicen ihres Mannes eine schallende Ohrfeige verpasste, so groß war ihr Hass.

    Draußen auf dem Platz gewahrte der diensthabende Wachmann vom Polizeirevier No 1, wie die Kosaken sich mühten, den verehrten Herrn Markow totzuprügeln, mit ihren Säbeln zu schlachten. Oje!, rief er und trillerte um Hilfe. Darauf kamen stiefelpolternd und mit verschlafenen Gesichtern Bereitschaftspolizisten aus dem Revier gesprungen, gefolgt von freiwilligen Hilfspolizisten in Zivil; derweil knallten auch schon im Umkreis überall Türen und klirrten Fenster, Frauen kreischten, und der geprügelte und getretene Markow jaulte: au-au-au!, während er seinen Kopf zu schützen suchte und unter den Armen hervor die enthemmt prügelnden Kosaken anschrie: Aa-a-ah!, schrie er, na wartet, Tschitscherin wirds euch zeigen, der zahlt es euch heim, ihr weißgardistische Brut!

    Indem er dies schrie – dass Tschitscherin es ihnen zeigen und heimzahlen würde – wollte er sie natürlich nur schrecken und davon abhalten weiterzuprügeln, doch weit gefehlt – der verhasste Name stachelte sie noch an, härter zuzuschlagen in ihrer Wut und ihrer Besoffenheit.

    Vom

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