Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Der achte Beauftragte: Roman
Der achte Beauftragte: Roman
Der achte Beauftragte: Roman
eBook338 Seiten4 Stunden

Der achte Beauftragte: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Politiker Sinisa wird von der Regierung als Beauftragter auf eine weit entlegene Adria-Insel geschickt. Drittchen ist eine erfundene Insel, die keine Anbindung ans Festland hat, auf der es keine Telefone, kein Internet und auch keinen Mobilfunk gibt. Strom wird durch Solarzellen erzeugt, die neuesten Kaffeemaschinen oder medizinischen Geräte werden aus Italien herbeigeschafft.
Auf der Insel leben alte Leute, die einst als Bergleute in Australien gearbeitet haben und nun in der alten Heimat über italienische Schmuggler ihre Rente beziehen. Unter ihnen lebt der Bosnier Samir, der sich auf der Insel vor der Mafia in Sicherheit gebracht hat, genauso wie die bosnische Porno-Darstellerin Zehra - beide sind neben Tonino, der Sinisa als Übersetzer und Begleiter zur Seite gestellt wurde, die einzigen jungen Menschen auf der Insel. Zwischen Tonino und Zehra entwickelt sich eine Liebesbeziehung.
Die Bewohner der Insel wollen mit dem Festland nichts zu tun haben. Fern von den Machtspielen und politischen Intrigen, von der Korruption und von der Bürokratie, leben die Inselbewohner in einer atemberaubend schönen mediterranen Landschaft fern aller Probleme unserer globalisierten Welt.
Sinisa, ein gestresster, urbaner Mensch, lernt auf der Insel Gelassenheit, Langsamkeit und Konzentration auf die wesentlichen Dinge.
Ein wunderbar satirischer Roman mit der Leichtigkeit des Südens geschrieben.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum16. Juli 2013
ISBN9783943941395
Der achte Beauftragte: Roman

Ähnlich wie Der achte Beauftragte

Titel in dieser Serie (7)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Der achte Beauftragte

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Der achte Beauftragte - Renato Baretic

    www.dittrich-verlag.de/www.culturcon.de

    »Tolle Kumpels hast du!« Dieser Satz war das erste, was Siniša Mesnjak bei seiner Rückkehr unter die Lebenden hörte.

    Neben dem Bett in dem kleinen, aber angesichts der Umbruchszeiten im Land ziemlich luxuriösen Krankenhauszimmer saß Željka, seine Kollegin aus dem Parteisekretariat. Genau genommen war Željka nicht nur seine Parteikollegin, sondern mit ziemlicher Regelmäßigkeit auch ein – wie er es für sich selbst gern definierte – »Kollektor für überschüssige Energie«. Manchmal ahnte sie, dass sie für ihn nur das war und nicht mehr, und das war nicht leicht für sie. Während sie ihm jetzt in nicht eben gewählten Worten erklärte, was eigentlich geschehen war, zupfte er unter dem Laken an seinen Schamhaaren herum, um wach zu werden, um diesen Schrecken in einen gewöhnlichen Albtraum zu verwandeln, ähnlich jenem, den er immer wieder träumte und in dem ihn irgendwelche Zöllner bei dem Versuch ertappten, hinter dem Lenkrad eines Riesenschleppers acht Tonnen Schmelzkäse aus Ungarn einzuschmuggeln.

    Siniša mied – nicht gerade typisch für einen aufstrebenden Politiker – die Medien, wo er nur konnte. Er verglich sie meist mit der Schaufel eines Totengräbers: Sie heben dich ein bisschen an, nur um dich daraufhin mit einem gezielten Schlag zwei Meter unter die Erde zu rammen. Doch wie sehr er die Medien auch mied, sie wollten ihn nicht meiden.

    Vier Tage vor den außerordentlichen Wahlen zum Zagreber Stadtparlament war auf der Titelseite einer rechts-orientierten Boulevardzeitung eine schockierende Collage erschienen: Auf dem größten Foto sah man, wie ein Polizist den bewusstlosen Siniša vom Fahrersitz seines Dienstwagens zog, während auf den kleineren Fotos zwei weitere Polizisten den bekanntesten Befürworter der Legalisierung leichter Drogen sowie eine halbnackte, kaum volljährige anonyme Blondine, »von der man begründet annimmt, dass sie eine Prostituierte weißrussischer Herkunft ist«, aus demselben Auto zerrten. Genauso wie Siniša schienen auch diese beiden um sich herum nichts wahrzunehmen. »Wohin gehst du, Zagreb?!«, stand als Überschrift über dem Artikel, und in einem kurzen Text wurde erklärt, dass »unser Nachtreporter bei seiner Heimfahrt von der skandalösen Modeschau (siehe Seite 16) auf dem Parkplatz in Gajnice den Dienstwagen des angeblich angesehenen jungen Politikers erkannte, der sich in äußerst suspekter Gesellschaft befand. Nachdem er festgestellt hatte, in welchem Zustand Siniša M. (33 Jahre) und seine Beifahrer waren, rief er sofort die Polizei und die Ambulanz herbei, ohne dabei seine journalistische Professionalität zu vergessen.« Neben diesem Text stach eine schwarze Spalte hervor, die die Überschrift trug: »Er liebt all das, was junge Leute lieben?!« Unter dieser Überschrift stand ein Kommentar des Chefredakteurs, der die bisherige politische Karriere von Siniša Mesnjak beschrieb, »dieses Hoffnungsträgers der regierenden Dreierkoalition, dieses billigen Illusionisten, der es – so hoffen wir – nur für kurze Zeit geschafft hat, junge kroatische Wähler zu betrügen und zu verführen. Indem er mit ihrer jugendlichen Revolte und ihrer Ungeduld kokettierte, gelang es ihm, diese jungen Menschen auf die Seite seiner verblühenden Partei und noch verwelkteren Koalition zu ziehen, um sich gleich nach der Eroberung der Macht entspannen zu können und – wie wir hier sehen – sein wahres Gesicht zu zeigen: das Gesicht eines Drogensüchtigen und verlotterten Individuums. Sollten die Bürger der Hauptstadt aller Kroaten bei den Kommunalwahlen am Sonntag tatsächlich Mesnjak und seine Kumpanen aus Partei und Koalition wählen (davon überzeugt, dass von denen nur Mesnjak abartige Neigungen hat – dass wir nicht lachen!), dann bleibt uns allen wirklich nur noch der Aufschrei: Wohin gehst du, Zagreb?!«

    Er mochte an seinen Schamhaaren herumzupfen, wie er wollte – die Wirklichkeit sah so aus: Nach den Tageszeitungen von heute zeigte ihm Željka die Abendausgaben der morgigen Zeitungen, die ohne Ausnahme auf den Titelseiten über den Ausbruch des Premierministers auf der außerordentlichen Pressekonferenz berichteten: »Eine Falle der nachrichtendienstlichen Unterwelt!«

    »Der Chef sagt, dass du dein Handy und alle Telefone ausschalten sollst, keine Aussagen machen und dich bei niemandem melden, nicht mal bei ihm. Nach dem Motto: Don’t call us, we call you. Bis auf Weiteres bin ich für dich zuständig, und wir haben zwei Bodyguards zugeteilt bekommen, um die Journalisten fernzuhalten«, schloss Željka, faltete die Zeitungen zusammen und warf sie auf den Boden.

    Am nächsten Tag wurde Siniša heimlich von der Intensivstation in die Lungenabteilung verlegt und von dort am Nachmittag in einen unscheinbaren Golf verfrachtet, mit dem man ihn nach Dubrava brachte, in ein kleines gepflegtes Häuschen; dass es sich im Immobilienbestand der Partei befand, hatte er bisher nicht gewusst. Am Sonntag, dem Wahltag, übergab er sich siebenmal, das letzte Mal eine halbe Stunde nach Mitternacht, als im Fernsehen verkündet wurde, dass seine Partei weniger Stimmen bekommen hatte, als selbst die pessimistischsten Prognosen vorausgesagt hatten.

    Am Montagmorgen, während Željka noch tief in dem aufgeklappten Sessel schlief, immer noch in der Kleidung von gestern Abend, zog Siniša sich leise an. Er beabsichtigte, in die Parteizentrale zu gehen, um dort alles aufzuklären und weitere Schritte auf kommunaler und staatlicher Ebene vorzuschlagen. Im Hof des Nachbarhauses krähte ein Hahn wie auch schon an den vorherigen drei Tagen – laut und verzweifelt, als wäre es sein letztes Mal. Kurz bevor Siniša die Türklinke berührte, jagte ihm eine Stimme aus der Küche einen Schreck ein:

    »Herr Mesnjak, wir haben schon genug Probleme. Sowohl Sie als auch ich.«

    Ein großer, dünner Typ mit zerfurchtem Gesicht lehnte mit seinem Hintern an der Spüle, sah ihn irgendwie mitleidig an und reichte ihm einen länglichen Umschlag mit dem Logo der Partei.

    »Das ist für Sie, vom Chef.«

    »Halt die Füße still. Beweg dich nicht vom Fleck und warte, bis ich mich melde. Und jetzt gib Zvonko diesen Zettel brav zurück«, so lautete die Nachricht, die zweifellos vom Premierminister persönlich geschrieben worden war. Wie hypnotisiert gab Siniša dem Dünnen, der schon mit aufgeklapptem Zippo darauf gewartet hatte, den Zettel zurück. Der Typ stand unbeweglich da, bis das Feuer seine Finger erreichte, legte dann das verkohlte Papier in die Spüle und drehte den Wasserhahn energisch auf.

    »Herr Mesnjak, lassen Sie es mich bitte wissen, wenn Sie etwas brauchen«, stieß Zvonko durch die Zähne und tat freundlich.

    »Sagen Sie mal, was bin ich hier denn eigentlich? Eine verdammte Geisel oder was?«, versuchte Siniša es auf die harte Tour.

    »Nein, Herr Mesnjak, aber wenn das ihr Wunsch ist, so sagen Sie es nur, ich bin hier, um alle ihre Wünsche zu erfüllen.«

    Die harte Tour schien hier nicht zu fruchten.

    »Ich brauche einen Collegeblock und drei feine Filzstifte, rot, blau und schwarz.«

    »Ist bereits in ihrem Nachtschränkchen. Es ist auch ein grüner dabei.«

    »Danke.« Sinišas Stimme nahm einen dienstlichen Ton an. Auf dem Weg zum Zimmer blieb er plötzlich stehen, lächelte hämisch und drehte sich um. »Und ich möchte Ćevapčići von Rahman aus Podsused.«

    »Große oder kleine Portion?«, erwiderte Zvonko, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan, als Ćevapčići zu grillen.

    »Äh … Zweimal die große.«

    »Zwiebeln? Ajvar?«

    Hätte an diesem Morgen jemand den am eindeutigsten geschlagenen Menschen auf der Welt gesucht, er hätte ihn in Dubrava gefunden, vor einem ausgeklappten Sessel, von dem sich gerade eine verschlafene junge Frau in zerknitterter Kleidung erhob, die Spitze einer Haarsträhne aus dem Mundwinkel zog und fragte:

    »Geht es dir gut?«

    Ein Flur, eine weiße Tür und ein Sessel davor. Eine weiße Tür. In seinen jüngeren Jahren, als Siniša sich noch für das Theater und schöne Worte begeistern konnte und sogar Gedichte schrieb, war eine weiße Tür am Ende eines Flurs eines seiner häufigsten Motive gewesen. Die weiße Tür, die die Welt verschließt, die weiße Tür, hinter der sich richtige und falsche Diagnosen verstecken, Urteile, Intrigen, Ermittlungen …

    Die nächste Botschaft des Premierministers war erst am Freitagmorgen gekommen:

    »Morgen, 12 Uhr, Zentrale. Gib Zvonko den Zettel zurück.«

    Vor dieser weißen Tür in diesem Flur hatte er unzählige Male gesessen und gewartet, aber noch nie so mutlos und mit derart angeschlagenem Selbstbewusstsein. Er war – ohne wirklich schuldig zu sein – für die Wahlniederlage der Partei in der Hauptstadt verantwortlich; das war klar. Eine ganze Woche lang waren ihm die entscheidenden Informationen vorenthalten worden, ihn erreichten nur die Meldungen aus Zeitungen und Fernsehen, und die mussten keineswegs stimmen. Sie waren zumindest teilweise völlig falsch. Was der Premierminister nun wusste, dachte und beabsichtigte, ahnte Siniša nicht im geringsten. Immer wieder wischte er seine verschwitzten Handflächen an den Sessellehnen ab.

    Der Premierminister empfing ihn über alle Erwartungen herzlich, und das war das schlechteste aller möglichen Zeichen. Er stand neben dem Tisch in seinem Büro, reichte Siniša die Hand und umarmte ihn.

    »Na, altes Haus, ein Scheiß-Pech aber auch! Wie haben es diese Arschlöcher geschafft, dich über den Tisch zu ziehen? Zu ziehen?«

    »Chef … Ich …«, begann Siniša, noch während er vom Premierminister umarmt wurde, die Rede, die er sich zurecht gelegt hatte.

    »Lass nur. Lass nur … Setz dich! Willst du was trinken? Was trinken?«

    Der Premierminister hatte einen merkwürdigen Sprachtick. Er wiederholte nach beinahe jedem Satz die letzten paar Worte. Als er an die Spitze der Regierung gekommen war und einen Sprecher einstellte, hatte Siniša diesem jungen Mann nahe gelegt, den Chef diskret, also mit äußerster Vorsicht, auf dieses Detail hinzuweisen, das zu dem Zeitpunkt schon zur Zielscheibe für alle Satiriker des Landes geworden war. Dem armen Jüngling, ansonsten Träger eines frisch erworbenen PR-Diploms von der Universität Lund, war nach einem Monat gekündigt worden und er war zu seinem Papa nach Schweden zurückgekehrt. Schweden zurückgekehrt.

    »Nein danke, ich wollte nur sagen, dass ich …« Siniša versuchte, wieder zum Thema zu kommen.

    »Lass gut sein, nicht nötig«, schnitt ihm der Premierminister tröstend das Wort ab und steckte dabei sein Poloshirt in die Hose. Er hatte es offensichtlich gerade erworben, für den Fall, dass man am Wochenende ein Interview mit ihm machen wollte.

    »Ich weiß alles, mir ist alles klar. Wir arbeiten bereits die ganze Woche daran und haben schon zwei, drei Typen ausgemacht, die die Falle gestellt haben. Gestellt haben. Diese Bande versucht schon die ganze Zeit, uns Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Hör mal, ich bin schon seit der Kinderkrippe in diesem Geschäft, und ich könnte mir in den Arsch beißen, weil ich dich nicht gewarnt habe. Man isst nur zu Hause, man trinkt nur zu Hause, und draußen höchstens ein Schlückchen aus Höflichkeit, auch wenn es Wasser aus der Wasserleitung ist, die du gerade feierlich in Betrieb genommen hast! Genommen hast!«

    »Chef, es war nur ein Mineralwasser in einem großen Glas …«

    »Ich weiß, mit viel Eis und drei Scheiben Zitrone. Damit dir der Geschmack nicht verdächtig vorkommt, bis du zumindest die Hälfte getrunken hast. Wir haben ermittelt und alles herausbekommen, du brauchst mir gar nichts zu erzählen. Zu erzählen. Und diese Kleine, die sie dir dann später auf den Rücksitz geschoben haben, nackt und vollgedröhnt bis zum Anschlag, hat die Kellnerin gespielt. Alles war bis ins kleinste Detail durchgeplant. Wir konnten im letzten Moment verhindern, dass diese Bande sie am nächsten Tag nach Weißrussland deportierte. Weißrussland deportierte.«

    Siniša sah ein, dass es für ihn am besten war, zu schweigen. Seine Mutmaßungen und späteren Notizen deckten sich bisher perfekt mit den Worten des Premierministers. Dass der Nachrichtendienst anständig gearbeitet hatte, war offensichtlich. Der Premierminister starrte schweigend aus dem Fenster und versuchte weiterhin, sein Poloshirt unter den Hosenbund zu schieben, obwohl das gar nicht nötig war.

    »Hör mir genau zu, ich spreche ganz offen mit dir, offen mit dir«, meldete er sich nach einer halben Minute wieder. »Wenn ich in irgendjemandem meinen Nachfolger gesehen habe – oder, wie soll ich sagen, einen Politiker für das neue Kroatien, das uns eine Verpflichtung ist, vor allem, wenn es uns wirklich ernst ist damit … Hör mal, warum verziehst du denn sofort das Gesicht, ich sehe all das doch immer noch in dir … Aber jetzt haben sie dich ernsthaft am Arsch. Du hast nicht aufgepasst, nicht aufgepasst. Und ich bin genauso daran schuld wie du. Wenn du wüsstest, was ich in diesen sieben Tagen alles getan habe, um das Ganze halbwegs ins Reine zu bringen, ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, wenn du das alles wüsstest, würden dir die Tränen kommen, Tränen kommen.«

    »Herr Vorsitzender …«

    »Langsam, langsam. Langsam … Bei den Kommunalwahlen haben wir die Arschkarte gezogen, das ist dir vermutlich bekannt, und jetzt muss ich mich mit diesem halbtauben Säufer um die Koalition streiten, Koalition str…«

    »Herr Vorsitzender, wenn ich auf irgendeine Weise, irgendeine Weise …«

    »Mein Gott, kannst du nicht mal den Mund halten? Jetzt machst du dich auch noch über mich lustig! Ich weiß, dass du seit sieben Tagen schweigst und mir jetzt am liebsten alles in fünf Minuten erklären würdest, aber zeig mal ein wenig Respekt, wenig Respekt. Seit drei Tagen überlege ich mir schon, was ich dir sagen soll, lass mich also bitteschön endlich aussprechen, endlich aussprechen.«

    Siniša nickte schweigend und starrte ein Tischbein an.

    »Du bist gut, du hast Talent und eine Zukunft in der Politik, und ich will dich nicht verlieren«, fuhr der Premierminister bedächtig fort. »Ich will dich nicht in ein paar Jahren zum Gegner haben, und es ist mir daran gelegen, dass du mein Mitarbeiter bleibst. Und ein Verbündeter. Aber wir müssen dich für eine gewisse Zeit aus dem Verkehr ziehen, Verkehr ziehen. Nur so lange, bis sich dieser Schlamassel etwas gelegt hat, damit wir dich sauber bekommen und diese Scheiße von dir abwaschen können.«

    All das hatte Siniša schon erwartet. Er hatte es ja gewusst. Er hatte sich auf diese Worte eingestellt und war bereit, sich dem Willen des Premierministers zu beugen. Doch jetzt folgte am Ende einer Geraden eine Kurve, hinter der etwas auf ihn lauerte. Aber was? Eine Stelle als Aushilfsarchivar im lexikografischen Institut? Als Sekretär im Landwirtschaftsministerium? Als Referent für – die horizontalen Signalsysteme im Verkehrswesen?!

    »Hast du schon mal von Drittchen gehört?«

    So scharf hätte die Kurve nicht zu sein brauchen.

    »Drittchen? Sie meinen die Insel?«

    »Die Insel, die Insel.«

    »Keine Ahnung … Kenne ich nur aus Kreuzworträtseln. Zwölfte Reihe waagerecht, neun Buchstaben: ›Unsere am weitesten vor der Küste gelegene besiedelte Insel‹. Mehr nicht.«

    Noch bevor der immer noch aus dem Fenster starrende Premierminister weitersprach, begriff Siniša, dass nichts Gutes zu erwarten war.

    »Nächsten Montag fährst du dorthin. Übermorgen wird dich die Regierung zu ihrem Beauftragten ernennen, und ich möchte, dass du all dein organisatorisches Potenzial, das ja unbestritten ist, bei der Organisation der lokalen Verwaltung und Selbstverwaltung zum Einsatz bringst. Einsatz bringst.«

    »Auf der Insel?! Herr Vorsitzender, ich habe nie …«

    »Siniša, es gibt wirklich keine andere Lösung. Unser Mandat läuft noch zwei Jahre, dann sind Wahlen, und bis wir die hinter uns haben, müssen wir dich von der Bildfläche verschwinden lassen. Damit man die Sache vergisst, versteht du? Und dann, und dann kommt deine Zeit, deine Zeit. Aber du bist natürlich ein freier Mensch, du kannst die Partei verlassen und alleine sehen, wie du zurecht kommst, aber ich habe dir ja offen gesagt, dass ich dich brauche und dass ich will, dass du in dieser Partei und in der Politik bleibst, in der Politik bleibst. Ich schreibe dich nicht ab, verstehst du, ganz im Gegenteil, aber ich sehe, dass du ein wenig Ruhe brauchst und noch ein paar Erfahrungen sammeln musst. Und dafür ist Drittchen wie geschaffen, wie geschaffen.«

    »Entschuldigen Sie, Chef, aber Sie haben da etwas von zwei Jahren gesagt. Von zwei Jah…«

    Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, gefror ihm das Blut in jedem Äderchen. Aber statt ihm wieder vorzuwerfen, ihn verspotten zu wollen, blickte der Premierminister ihn an wie ein Vater seinen Sohn.

    »Genau. Und?«

    »Ich meine, wenn ich das da unten auf Drittchen erledigt habe, es geht da ja um ein, zwei, höchstens drei Monate, was dann? Was werde ich dann tun?«

    Der Premierminister blickte nicht mehr milde auf ihn wie ein Vater auf seinen Sohn. Er blickte noch milder auf ihn – wie ein Großvater auf seinen Enkel. Er nahm eine dünne, sichtbar abgegriffene Mappe von einem Beistelltischchen und reichte sie Siniša mit einer langsamen Bewegung. Auf der Umschlagseite stand in ziemlich verblassten Buchstaben »Drittchen«.

    Željka lag auf dem Rücken und starrte an die Zimmerdecke. Sie versuchte, sich an den Titel des Films – oder war es eine Fernsehserie gewesen? – zu erinnern, in dem ein Paar sich liebt und das Männchen ständig das Weibchen anbettelt, etwas zu sagen. Sie kann nicht, ihr ist nicht nach Sprechen zumute, sie würde gern einfach nur das tun, weswegen sie hier ist, nackt und verschwitzt, aber er besteht darauf. Und als er zum fünfhundertsten Mal seinen Wunsch wiederholt, sprudelt es aus ihr heraus: »Deine Zimmerdecke ist wunderschön«!, und da kommt das Männchen. Nur aufgrund ihrer Stimme, die er mit viel Mühe aus ihr hervorgelockt hat.

    Siniša war vor einer guten halben Stunde gekommen. Nachdem er nun wieder Atem geschöpft hatte, starrte auch er an die Zimmerdecke. Aber er schwieg nicht wie Željka, sondern erzählte, erzählte, erzählte …

    »… und am Schluss hat er mir nicht einmal gesagt, welche Affen das waren, keine Vornamen, keine Nachnamen, Null, absolut nichts, er schmeißt mich einfach auf diese Insel, soll er sich doch samt der Insel und all ihren Bewohnern ins Knie ficken, und erst als ich ihm sagte: okay, okay, ich gehe, kein Problem, sagte er zu mir: Ich verrate dir das bestgehütete kroatische Geheimnis. Schieb dir dein Geheimnis sonstwo hin, habe ich gedacht, und er sagte, dass die ehemaligen Regierungen dort unten in zehn Jahren sieben Beauftragte verschlissen haben und keiner etwas erreicht hat. Die Idioten dort wollen keine Regierung, weder eine eigene noch eine fremde. Sie wollen gar nichts, und wir gehen ihnen alle am Arsch vorbei, und jetzt soll ich mich mit ihnen herumschlagen. Und bei ihnen Parteien, Wahlen und eine Regierung einführen. Ich bin sicher, das dauert höchstens drei Monate und fertig, aber wieso – verdammt noch mal – hat das in zehn Jahren niemand hinbekommen? Ich kapier das nicht, da muss es einen ziemlich beschissenen Haken geben. Aber was soll’s, Strafe ist Strafe, und da muss ich jetzt durch. Aber was, wenn ich das in drei, vier Monaten oder, sagen wir mal, in einem halben Jahr erledigt habe? Das ist ihm dann hundertprozentig zu schnell. Und was jubelt er mir dann unter? Eine Aushilfsstelle in der Abteilung für Feuerwehrwesen, irgend so etwas? Koordinator für Südfrüchte, verdammte Kacke. Wie dämlich ich bin, saudämlich. Einen Hektoliter Mineralwasser hat mir diese Nutte gebracht, und darin schwamm die halbe afrikanische Zitronenernte … Ich Idiot! Aber stell dir mal vor, was passiert, wenn ich es nicht schaffe, wenn mich diese Dalmatiner so richtig hochgehen lassen, nach Strich und Faden verarschen, weißt du, was ich meine, so dass ich mich am Ende noch schäme, zurückzukommen? Das kann ja auch passieren, ach du Scheiße, die haben schon sieben arme Schweine in den Wahnsinn getrieben, stell dir mal vor, ich habe nur drei davon ans Telefon bekommen, aber keiner will auch nur ein Wort sagen, und der siebte ist ohnehin völlig abgetaucht. Er hat keine Familie, niemanden, kapierst du, genau wie ich, und keiner weiß, wohin er von diesem Drittchen, Frittchen, Flittchen – wie heißt es noch mal – gegangen ist. Vielleicht haben sie den Typen erschlagen und ins Meer geworfen …«

    Siniša schwieg ein paar Sekunden lang, in seine Sorgen versunken, und drehte sich dann zu Željka um:

    »Was denkst du darüber, mein kleiner Zypressenzapfen?«

    »Deine Zimmerdecke ist schön«, sprudelte es in derselben Sekunde aus ihr heraus, so als hätte sie nur auf diesen Augenblick gewartet.

    »Wie bitte?! Zimmerdecke?!? Ich … Ich … Hör mal zu, in fünf Tagen fahre ich an den Turbo-Arsch der Welt! Auf eine Insel, auf der es keinen Fischfang, keine Viehzucht, keinen Weinbau gibt, rein gar nichts gibt es dort! Nur eine Truppe von Idioten, die ich dressieren soll! Und du bewunderst meine Zimmerdecke! Eine beschissene Zimmerdecke. Eine weiße Zimmerdecke, eine gewöhnliche, beschissene weiße Zimmerdecke. Du bist total im Eimer, hundertmal mehr als ich! Dich hätte er mal dorthin schicken sollen und nicht mich!«

    Siniša hatte noch nie eine kleinere Fähre gesehen, schon gar nicht von innen. Auf der Ladefläche hätte man vielleicht fünfzehn Autos zusammenquetschen können, aber dann hätte es niemand geschafft, auszusteigen. Zvonko, der Ćevapčići-Experte aus Dubrava, hatte ihn schweigend in einem Audi mit Klimaanlage zur Küste gefahren. Er hatte alle vier Taschen auf die Fähre getragen und sie auf der Kommandobrücke untergebracht, und am Schluss hatte er den Schicki-Micki-Regenschirm des Premierministers aus dem Gepäckraum genommen und ihn Siniša großzügig angeboten, da ein feiner, schräg fallender und stechender Regen sie überraschte, als sie aus dem Auto stiegen.

    »Nehmen Sie ihn ruhig«, sagte er. »Der Chef wird sich nicht ärgern, er wird es nicht einmal erfahren. Wir haben immer zwei dabei, für den Fall, dass er – oder wir – den einen irgendwo vergessen.«

    Und während Siniša an der Hülle des Regenschirms herumfummelte, reichte ihm Zvonko die Hand:

    »Tja, also … Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«

    »Ja. Ich auch«, flüsterte Siniša ironisch.

    Als er die engen, steilen, grünen Stufen bis zum oberen Deck emporgestiegen war, blickte er zur Küste zurück und sah Zvonko, der seine Hände zu einer Trompete vor den Mund gelegt hatte:

    »Zuerst kommt Erstchen, und dann, wenn Sie in Zweitchen anlegen, wartet ein gewisser Toni auf Sie! Er fährt Sie mit einem Boot nach Drittchen!«

    Das stumpfe Gesicht unter dem karierten Regenschirm nickte stumm, auf und ab, auf und ab, bis der dunkelblaue Audi den Fährhafen verlassen hatte und hinter der ersten Kurve in Richtung Zagreb verschwunden war. Auf dem oberen Deck, das durch eine wurmstichige Tür von der Kommandobrücke getrennt war, standen eine kurze Theke und daneben zwei Tische, an denen sechs Männer und ein Großmütterchen in Schwarz saßen. Wer weiß, vielleicht hatten sie vorher auch schon geschwiegen, aber von dem Augenblick an, in dem Siniša an Bord gekommen war, sagten sie kein Wort mehr, bis sie Zweitchen erreicht hatten – immerhin eine Fahrt von viereinhalb Stunden. Alle bis auf einen schnauzbärtigen Mann, der sich mit einer unerwartet hohen Stimme zu Wort meldete, nachdem Siniša schon beinahe eine halbe Stunde an der Theke gestanden und sich immer wieder vorgebeugt hatte, um zu sehen, ob jemand da war:

    »Wollnse wat?«, fragte er und schob sich durch eine schmale Tür hinter die Theke.

    Sinišas Augenbrauen krümmten sich zu zwei behaarten Fragenzeichen.

    »Wollnse wat drinken?«, versuchte es der Schnurrbärtige noch einmal. Und dann sagte er, nachdem er sich kurz geräuspert hatte, steif und pompös wie ein Oberkellner:

    »Wollen sich der Herr vielleicht ein Glas seines Lieblingsgetränks genehmigen?«

    »Ähhh… Ein Bier, wenn Sie haben.«

    »Wen – si – ha – ben, dat is wohl wat Japanisches, dat hammer nich. Wir ham nur hiesiges: Heniken, Gezer, Gines, Klikeni, Milwoki, Bravarija …«

    »Guinness? Hier? Bei ihnen?«

    »Fragense ruhig mal draußen nach, obs da wat gibt!«

    »Schon gut, schon gut, ein Guinness bitte.«

    Der Schnurrbärtige holte drei Fläschchen echtes Guinness aus dem Kühlschrank und stellte sie auf die Theke, dazu ein Glas und einen Flaschenöffner.

    »Schaffenses selber? Wennse Nachschub wolln, sagense Bescheid.«

    Sprachs und ging. Zurück an den Tisch mit dem Großmütterchen. Schweigen. Auch Siniša schwieg. Er tat so, als würde er die anderen nicht beachten, aber in dem ziemlich dunklen Spiegel mit der verblassten Werbeinschrift »Trink mit Maß ein gutes Glas!« konnte er ihre Gesichter beobachten. Versteinerte Hochzeitsgäste, das war das einzige, was ihm dazu einfiel. Er wünschte, Željka wäre hier, damit er sie ihr zeigen könnte, der dummen Kuh, oder wenigstens beschreiben. Als er das dritte Fläschchen öffnete, stand der Schnurrbärtige von allein auf, holte drei weitere Flaschen aus dem Kühlschrank, stellte sie auf die Theke und nickte stumm mit dem Kopf. Dann kehrte er wieder an seinen Tisch zurück. Nach beinahe drei Stunden Fahrt spürte Siniša, wie seine Fußsohlen brannten und seine Waden schmerzten, aber die einzige Stelle, an die er sich hätte setzen können, lag im Rücken der Oma in Schwarz, an dem Tisch mit den restlichen drei Schweigenden. Und dort wollte er nicht sitzen. Hätte er gewusst, ob einer von ihnen von Drittchen kam, hätte er vielleicht ein Gespräch begonnen, aber so … Noch in Zagreb hatte er versucht, sich psychisch auf die zu erwartende Ablehnung und Ignoranz der lokalen Bevölkerung vorzubereiten. Seine Vorbereitungen waren gründlich gewesen und er hätte sie bei diesem Bier noch vertiefen können, aber nicht einmal nach dem vierten Guinness, nachdem sie ohne einen einzigen weiteren Passagier von Erstchen abgelegt und vermutlich in Richtung Zweitchen unterwegs waren, hatte er eine Idee, wie er diese Wehrmauer durchbrechen sollte. Er konnte einfach nicht Zugänglichkeit und lockeres Verhalten vortäuschen und mit diesen versteinerten Hochzeitsgästen ins Gespräch kommen. Eigentlich hatte er ja mit ihnen auch nichts zu schaffen. Seine Aufgabe war es, irgendwie zu diesem Drittchen zu kommen und bis Weihnachten – so gebe Gott – mit kühlem Kopf

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1