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Dem Jenseits entkommen
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eBook399 Seiten5 Stunden

Dem Jenseits entkommen

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Über dieses E-Book

Jeder kennt es, jeder mag es: die abendliche Geschichte des Opas im Bett. In diesem besonderen Fall, eine Geschichte, die endlos jeden Abend weitergesponnen wurde.
Dann geschieht es ... Jana fällt einem Verbrechen zum Opfer und fällt ins Koma. Der Großvater sitzt am Bett der leeren Hülle seiner Enkelin und spinnt die Geschichte weiter. Er erreicht sie und findet den Funken Lebenswillen, bis Jana die Erzählung alleine gestaltet. Sie verbindet den Traum mit tatsächlichen Ereignissen, über die es ihr gelingt, nach dem Erwachen, die Verbrecher zu jagen und unschädlich zu machen.
SpracheDeutsch
Herausgeberneobooks
Erscheinungsdatum24. Nov. 2016
ISBN9783738093292
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    Buchvorschau

    Dem Jenseits entkommen - Herbert Weyand

    Prolog

    »Guten Abend und frohe Weihnachten. Mein Name ist Frauke Smeets.« Die Journalistin stand vor einer schlichten Kulisse. Ein Bild das, verschwommen und unscharf, den Hintergrund ausfüllte. Sie sprach deutsch, mit niederländischem Akzent und einer rauen tiefen Stimme, als ob der Kehlkopf verletzt wäre. Die, ungefähr fünfundvierzigjährige Moderatorin trug einen dunkelblauen Hosenanzug zu ihrer hageren Gestalt. Das dunkle, halblange Haar lag sorgfältig frisiert um das hagere Gesicht, aus dem die grauen Augen konzentriert und intelligent in die Kameras schauten. »Ich freue mich, dass sie am heutigen Heiligen Abend eingeschaltet haben. Bevor ich Ihnen meine beiden Gäste präsentiere, möchte ich, dass Sie das Gemälde im Hintergrund fünf Minuten auf sich wirken lassen.« Das Bild rückte in den Vordergrund und füllte in Millionen Haushalten den Bildschirm. Die Stimme der Moderatorin wurde technisch in den Hintergrund gerückt und mit einem leichten Hall versehen. Dazu spielte leise unbekannte Musik.

    »Dieses Werk ist fast zweitausend Jahre alt und bietet handwerklich und technisch alles, was in den nachfolgenden Jahrhunderten von den großen Malern entwickelt wurde. Das Gemälde ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Was Sie auf Ihren Bildschirmen sehen, ist ein Foto. Der Künstler war ein germanischer Druide namens Kendric, der der Überlieferung nach, in der, und durch die, Schaffungsphase des Werks, erblindete und den Verstand verlor. Dann gab er sein Leben, um das Böse, das in seinem Epos schlummert, zu verschließen und für immer, zu verbannen.«

    Ein heller Punkt blinkte, rechts oben, auf einem nebelartigen bösem Gesicht, das in einem tiefblauen Himmel lag. In diesen Nebel drehte eine Spirale, die unendlich weit hinunter bis zum Erdboden reichte. Eine Spirale, die aus Menschen bestand. Sie strebten auf einer grünen Wiese, aus allen Richtungen und vereinigten sich zu einem Strom, der unausweichlich in die Windungen, die nach oben, in den Himmel liefen, gezogen wurde. Das Gemälde entwickelte unglaubliche Intensität und zog die Menschen in seinen Bann. Die Fernsehzuschauer seufzten kollektiv auf, als das Foto vom Bildschirm verschwand und sie wieder in ihre eigenen Gedanken entließ.

    »Der Treibstoff der Evolution ist der Zufall. Das glauben die Wissenschaftler heute und wollen nichts von höheren Wesen, höheren Mächten oder gar von Gott wissen. Woher nehmen Sie diese Zuversicht? Allein aus den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten? Heute Abend begrüße ich zwei Gäste, die Unglaubliches erlebt haben.

    *

    Kapitel 1 Professor Lauten

    Die vier älteren Herrschaften drängten um den großen Bildschirm und beobachteten fasziniert die junge Frau, fast noch ein Mädchen, und den jungen Mann, die durch sumpfiges Gelände liefen. Sie wurden von drei Personen verfolgt. Das Bild auf dem Monitor ruckelte, als würde die Kamera unruhig geführt, und setzte sich aus Sequenzen mehrerer Aufnahmegeräte zusammen. Es war grobkörnig und die Figuren mehr zu erahnen, als zu erkennen. Einer der Beobachter war ständig damit beschäftigt, die Szene zu stabilisieren.

    Schnell wurde klar, dies war kein Film, sondern eine Live-Übertragung oder Aufzeichnung realer Geschehnisse.

    »Ich dachte, das Kind ist im Koma?«, stellte der kleinste der Runde fragend fest.

    »Ist es auch.« Der Mittelgroße deutete auf einen Monitor, etwas abseits, auf dem eine flache Kurve lief. Oben rechts stand beständig eine Ziffernfolge: 68 und 84.

    Nickend nahm der Erstere, den knappen Kommentar zur Kenntnis. »Wie lange ist sie in diesem Zustand?«

    »Siebenhundertvierundsechzig Tage.« Sie waren keine Freunde von vielen Worten.

    »Sie wird keine Erinnerung haben?« Wieder mehr eine Feststellung, als eine Frage. »Wir holen sie aus diesem Zustand.«

    »Wann?«

    »Jetzt.«

    *

    Claudia

    »Frau Plum.« Staatsanwalt Dengler stand in der Tür zu ihrem Büro. Er trug, wie immer, einen braunen Anzug mit dezent darauf abgestimmtem Hemd und Krawatte.

    Hauptkommissarin Claudia Plum hob langsam den Kopf vom Bildschirm und musterte ihn mit ihren grauen Augen, in deren Hintergrund es unmutig aufblitzte, abwartend. Wenn Dengler so in der Tür stehen blieb, suchte er wieder einen Dummen. Sie nickte ihm wortlos zu.

    Der Staatsanwalt trat ein und ging zur Kaffeemaschine. Ein Rest dunkler Brühe schwamm in der Glaskanne, die er in eine Tasse goss. In diesem Büro, das drei Arbeitsplätze enthielt, konnte jeder ungefragt eine Tasse Kaffee haben, sofern er oder sie ab und zu eine Packung Kaffeepulver mitbrachte. Umständlich nahm er auf dem Stuhl, links neben dem Schreibtisch, von ihr aus gesehen rechts, Platz.

    »Ich gebe Ihnen die Kurzfassung. Die Akten werden Ihnen gleich zugestellt. Sie können Sie auch auf dem PC abrufen. Das Aktenzeichen habe ich Ihnen vor wenigen Minuten auf Ihr Mailkonto geschickt.« Er begann ohne Floskeln, ganz, wie es seine Art war. »Vor ungefähr zwei Jahren, am 13. Oktober 2011, kamen drei Menschen ums Leben. Eine Explosion auf dem Markt, hier in Aachen. In der Nähe des Denkmals. Sie wissen … Kaiser Karl auf dem Pferd.

    Vivian Seeger, Stefan Krüger, Lukas Leitner starben sofort. Marco Ruisten und Jana Winter fielen ins Koma. Der Junge, sechzehnjährig, wurde in seine Heimat, ich glaube, in die Nähe von Amsterdam, geschafft. Die sechzehnjährige Jana Winter ins Klinikum. Vor wenigen Tagen sollte sie in ein Pflegeheim verlegt werden, weil die Krankenkasse die Kosten nicht mehr tragen wollte. Sie wissen schon, Pflegefall. Jetzt ist das Mädchen vergangene Woche erwacht. Ich möchte, dass Sie mit ihr sprechen.«

    Claudia atmete auf. Den Wunsch oder auch Auftrag würde sie gerne übernehmen. Ansonsten trieben sie die Aufträge des Staatsanwalts oder auch Polizeipräsidenten, wenn sie persönlich erteilt wurden, an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. »Muss ich auf etwas Besonderes achten?« Die Frage war mehr rhetorisch. Sie würde sich auf alle Fälle in die Akte hineinarbeiten, bevor sie ins Krankenhaus fuhr.

    »Ich war damals genauso neu hier in Aachen, wie Sie und kenne den Fall faktisch nur aus der Presse und jetzt durch die Aktenlage. Das BKA und das LKA gingen zunächst von einem politisch motivierten Anschlag aus. Dafür gab es jedoch keine haltbaren Ansätze. Vielleicht kann das Mädchen sich erinnern.« Der Staatsanwalt war so um die Vierzig und ein verschlossener Mensch. Wie er gerade richtig erwähnte, begannen sie fast gleichzeitig nach einem größeren Polizeiskandal, in den der damalige Polizeipräsident und Staatsanwalt verwickelt waren, in Aachen. Wie immer ging es um Geld und Macht.

    Die junge Hauptkommissarin nickte und wandte sich wieder dem Monitor zu. Dengler verübelte ihr die Ignoranz seiner Person nicht. Er kannte sie nicht anders. Im Präsidium war bekannt, dass sie nur bei ganz wenigen Menschen aus sich herausging. In dieser Beziehung standen sie sich in nichts nach. Er nickte kurz und stellte die Tasse auf dem Bord mit der Kaffeemaschine ab.

    Claudia Plum war eins siebzig groß und trug heute ein dunkelgraues Kostüm. Der Rock endete zwei Fingerbreit über dem Knie. Das braune Haar fiel, leicht gelockt, bis auf die Schultern. Die Figur war sportlich mit normal großem Busen. Nicht zu klein und nicht zu groß. Aber das ist sowieso Geschmackssache. Sie war, Anfang dreißig … na ja … fast zweiunddreißig. Vor etwas mehr als zwei Jahren wurde sie nach Aachen versetzt und übernahm dort das Dezernat zwei für Tötungsdelikte. Trotz ihres jungen Alters konnte sie damals auf einen steilen Aufstieg beim LKA in Düsseldorf zurückblicken. In zwei spektakulären Mordfällen, die schon längere Zeit bei den Akten lagen, gelang ihr die Aufklärung. Für die fällige Beförderung zur Hauptkommissarin war keine entsprechende Planstelle frei. Es sei denn, die Bewerbung in den Innendienst. Darauf hatte sie keine Lust und bewarb sich nach Aachen.

    Gleich bei ihrem ersten größeren Fall, im platten Hinterland Aachens, traf sie auf Kurt Hüffner, der, so wie es aussah, die Liebe ihres Lebens wurde.

    Claudias Gesicht trug einen ständig distanzierten Ausdruck und schreckte viele, die sich ihr nähern wollten, ab. Sie besaß Ausstrahlung und beherrschte die Szene sofort, wenn sie sie betrat. Dabei war sie immer um Perfektion bemüht und verdeckte ihre, dadurch entstehenden, Unsicherheiten perfekt. Als größtes Manko sah die Hauptkommissarin ihre emphatische Veranlagung. Ihre Sensoren filterten die feinsten Schwingungen ihres Umfeldes heraus. Die Kollegen des Teams, mit denen sie zusammenarbeitete, verdrehten die Augen, wenn das Bauchgefühl bei ihr wieder zuschlug. Dabei stimmte der vorauseilende Ruf, sie löse ihre Fälle aus dem Bauch heraus nur teilweise. Letztendlich war es der analytische Verstand, der Fakten und Gefühle zu erfolgreichen Ergebnissen fügte.

    Seit nunmehr einem Jahr lebte sie mit Kurt zusammen in dem kleinen Heidedorf Grotenrath. Dort wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagten … dort wo die Gehwege jeden Abend hochgeklappt wurden, damit niemand stolperte. Nicht, dass jemand einen Bürgersteig benötigte. Grundsätzlich liefen die Dörfler mitten auf der Straße, sei es mit Kinderwagen oder Schubkarre. Für sie war es ein großer Schritt aus der Großstadt heraus in dieses verlassene Kaff. Doch mittlerweile liebte sie die Ruhe und das Bewusstsein, dass hier die Uhren anders tickten. Zeit war relativ, besonders hier. Immer wieder blieb eine Minute oder mehr für eine kurze Unterhaltung, die den alltäglichen Tratsch zum Inhalt hatte.

    Kurt restaurierte sein altes Bauernhaus, dessen Rückseite zum Heidegebiet hinaus ging. Bis zum Saum des Waldes waren es keine dreihundert Meter. Zurzeit baute er einen Gebäudetrakt zum Pferdestall um. Drei Baustellen auf seinem Grundstück entsprachen der Norm. Es konnten jedoch auch manchmal vier oder fünf sein. Sein Job ließ ihm im Grunde zu wenig Zeit für die Restaurierungsarbeiten. In dieser Hinsicht war er eigensinnig, nach dem Motto: Selbst ist der Mann. Doch seit dem er Claudia kannte, ließ er es langsamer angehen. Na ja … ganz so freiwillig kam das Kürzertreten nicht. Kurt war unglaublich neugierig und steckte immer wieder seine Nase in Claudias Fälle. Diese Vorwitzigkeit kostete ihn fast das Leben. Ein Gutes erwuchs aus dieser Angelegenheit: Ihm wurde klar, dass es mehr als nur Arbeit im Leben gab. Von Haus aus hatte er einiges in petto, sodass er seine feste Beschäftigung bei der RWTH kündigte und als Freiberufler anging. Das wiederum gab ihm die Zeit, in Claudias Arbeit hineinzuwirken. Claudia allerdings sah das nicht so gerne. Zudem war Kurt ein Leichenspürhund. Wenn es im Umkreis von zwanzig Kilometern eine Leiche gab, konnte sie sicher sein, dass er darüber stolperte.

    Die Entscheidung, in diesem kleinen Heidedorf zu leben, kam einer Rückkehr gleich. Denn Grotenrath war Claudias Geburtsdorf. Das erfuhr sie jedoch erst, nachdem sie mit Kurt schon einige Zeit zusammenlebte. Eine Kindheit erlebte sie hier nicht, denn ihre Eltern zogen nach Düsseldorf, bevor sie bewusste Erinnerungen aufbauen konnte. Erst spät erfuhr sie, dass der Tod ihres Bruders der Grund für den Umzug war. Er wurde bei seiner Erstkommunionfeier ermordet. Die Erinnerung daran, die sie verdrängt hatte, kam während einer spektakulären Entführung auf dem Aachener Katschhof wieder. Es gelang ihr nach Jahrzehnten, den Mörder dingfest zu machen. Seitdem war sie befreit, weil die unbekannte Last, die sie ihr Leben lang verfolgte, einen Grund hatte.

    Wie das Leben so spielt, führte es Claudia also an die Wurzeln ihrer Familie zurück. Das alte Bauernhaus, das sie mit Kurt bewohnte, war das ehemalige Haus ihrer Großeltern. Mittlerweile kannte sie das Dorf gut genug, um nicht an einen Zufall zu glauben. Ihre empathischen Empfindungen, die sie einerseits in ihrem Beruf nutzte, wirkten andererseits störend im täglichen Leben. Dort wurde sie zur misstrauischen Ziege, wenn ihr ein Gesprächspartner nicht auf Anhieb sympathisch war. Im Verlaufe ihres Lebens machte sie sich oft Gedanken darüber, ob diese Begabung ein Fluch oder ein Segen war. Sie verbarg sie geschickt vor ihrer Umwelt. Nur wenige Menschen wussten darum. Selbst in ihrem Team, das aus Oberkommissarin Maria Römer und Hauptkommissar Heinz Bauer bestand, öffnete sie sich nicht. Ihre Kollegen sprachen von Intuition und Bauchgefühl, auch, wenn sie ahnten, dass mehr dahinter steckte.

    Jetzt, in diesem Dorf, stellte sie fest, dass insbesondere die älteren Einwohner des Dorfes diese Begabung auch besaßen. Also lag der Ursprung wahrscheinlich hier. Irgendwelche Gene, die auch sie hatte.

    Nun ja. Jetzt hatte sie Denglers Auftrag am Hals, aber das war sicherlich schnell erledigt. Der Fall, den sie zurzeit bearbeiteten, trat sowieso auf der Stelle. Ein wenig Abwechslung tat da gut.

    Claudia dachte mit Schaudern an die seelenlosen Opfer, zu deren Fall sie zurzeit die Ermittlungen leitete. Vor ungefähr zwei Monaten wurden, an verschiedenen Stellen im Stadtgebiet, junge Leute aufgegriffen, die sich an nichts mehr erinnerten. Nicht nur das: Das Gehirn war faktisch leer … gelöscht. Über irgendeine Grenze im Dreiländereck Belgien, Niederlande, Deutschland schwappte wahrscheinlich eine Droge herüber, an deren Zusammensetzung sie noch rätselten. Auch sonst gab es keinen Anhaltspunkt. Die einschlägig bekannten Dealer schienen ebenso überfordert, wie die Polizei. In diesem Fall arbeiteten sie und ihre Kollegen mit den niederländischen und belgischen Behörden zusammen. Die bekannten Wege über Rotterdam oder Seebrügge brachten bisher keine Ergebnisse. Razzien und Ermittlungen in Diskotheken, die häufig als Umschlagplätze dienten, verliefen erfolglos.

    Erst Anfang der Woche besuchte Claudia das Pflegeheim in Melaten, in dem die Staatsanwaltschaft die fünfzehn jungen Menschen untergebracht hatte, deren Gehirne durch die Drogen zerstört wurden. Willenlose Geschöpfe, die zu keiner selbstständigen Tätigkeit fähig waren. Starre, ausdruckslose Gesichter und Augen zerrten an den Nerven der Hauptkommissarin. Schaudernd dachte sie an den Anblick und zog fröstelnd die Schultern nach vorne. Welche Schweine taten Menschen so etwas an?

    *

    Kapitel 2 Jana

    Der Sanitäter oder Notarzt lächelte auf sie herunter. Er gab sich große Mühe, nicht zu weinen, und es war seltsam, dann doch die Tränen laufen zu sehen. Sie wurde auf eine Trage gehoben und in einen Notarztwagen geschoben, auf dessen Dach das blaue Licht blinkte. Parallel sah sie eine weitere Trage, die in das Nachbarauto geschoben wurde. Ihr Blick erhaschte das blasse leblose Gesicht eines Jungen. Dann wurde es schwarz vor ihren Augen.

    Der nächste Blick ging in das Gesicht eines älteren Mannes, der sichtlich erschrak, als Jana die Augen aufschlug. Er drückte auf den Kolben der Spritze, die im Zugang auf ihrem Handgelenk steckte. Sie versank wieder in Dunkelheit.

    Jana Winter schlug die Augen ein weiteres Mal auf und sah nichts. Die Gedanken flossen so träge, dass eventuelle Angst- oder Panikgefühle das Denkzentrum nicht erreichten. Sie glitt wieder weg.

    Jana Winter schlug die Augen auf. In ihrem Sehfeld erschien die kalte Neonleuchte an der Decke, in deren Abdeckung einige tote Fliegen lagen. Sie registriert nicht, dass seit ihrem ersten Erwachen, neunundsechzig Tage vergangen waren. Eine murmelnde Stimme drang an ihr Ohr. Aus dem Tonfall entnahm sie, dass sie erzählte. Gerade wollte sich eine Erkenntnis festsetzen, als sie wieder entglitt.

    Jana Winter schlug die Augen auf und sah das bekannte Neonlicht. Etwas war anders. Die toten Fliegen in der Abdeckung fehlten. Was war geschehen? Wo war sie?

    Eine bekannte Stimme schimpfte: »Sie müssen mir doch sagen können, woher die blauen Flecken kommen. Die erscheinen nicht aus dem Nichts.«

    »Frau Winter wir sind fassungslos. Wir haben keine Erklärung für die Hämatome.«

    Ihr Geist entschwand wieder. Einhundertfünf Tage waren seit ihrem letzten bewussten Gedanken vergangen.

    Jana Winter hielt die Augen geschlossen. Sie wollte die Neonleuchte nicht sehen. Sie lauschte. Geräusche von Maschinen, die sie lediglich aus dem Fernseher kannte, drangen an ihr Ohr. Jana öffnete vorsichtig die Augen und ließ den Blick sofort nach links schweifen und fokussierte an einem Fenster, gegen das dicke Regentropfen schlugen. Aus den Augenwinkeln nahm sie die bekannte Lampe an der Decke wahr. Wieder wurde ihre Wahrnehmung unterbrochen und sie versank in Schwärze. Zweiundneunzig Tage waren nach ihrem letzten Erwachen vergangen.

    Weitere dreihunderteinundsiebzig Tage später flutete die tief stehende Sonne in ihre Augen. Ihr Erwachen war anders. Sie spürte Lebensenergie und nicht dieses träge Dahingleiten. Ihre Gedanken arbeiteten sofort auf Hochtouren. In der Abdeckung der Neonleuchte lagen neue tote Insekten.

    Jana löste den Blick und hob den Arm. Eine Kanüle auf der Handoberfläche, von der drei Schläuche irgendwohin abgingen. Da war Druck um ihren Kopf. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie medizinische Geräte, in die eine Vielzahl von Kabel führte. Der gleichmäßige Piepton war wohl ihr Puls. Krankenhaus … sie war in einem Krankenhaus. Janas Verstand glitt wieder weg, doch die Geräusche blieben.

    »Unglaublich. Das Herz schlägt alleine, die körperlichen Funktionen und Reflexe sind wieder normal.« Die Stimme war ihr unbekannt.

    »Das heißt tatsächlich, sie ist aus dem Koma erwacht?« Das war Opa. Er klang, als weine er.

    Koma? Unmöglich. Sie war vorhin noch auf dem Markt. Jetzt lag sie hier. Wegen der Kopfschmerzen? Jana öffnete mühsam die Augen und sah in das glückliche Gesicht ihres Großvaters, der ungeniert seinen Tränen freien Lauf ließ. Sie versuchte zu sprechen, bekam jedoch keinen Ton heraus.

    »Sei still Kind. Streng dich nicht an.« Der Großvater streichelte ihre Wangen. »Papa und Mama werden gleich hier sein. Ich habe sie sofort angerufen.«

    Jana hob den Kopf aus dem Kissen. Eine Krankenschwester half ihr sofort und richtete das Kissen. Der Druck am Kopf war verschwunden, ebenso die Geräte, die sie vorhin – oder wann? – bemerkt hatte, bis auf einen kleinen Monitor, der Kurven ihrer Lebensfunktionen abbildete. Vom Handrücken lief noch ein Schlauch, zu einer Flasche, aus der irgendetwas in ihre Adern tropfte. Sie wandte den Blick zum Fenster, das zumindest vorhin noch dort war. Jetzt lag es an der anderen Seite der Wand. Träumte sie? Nein, das war ein anderes Zimmer.

    Was ist los?, wollte sie fragen. Doch wieder kam kein Laut über ihre Lippen.

    »Du bist vorgestern aus dem Koma erwacht.« Opa verstand sie, auch ohne Worte. »Jetzt musst du dich gesund schlafen.«

    Jana schloss die Augen und schlief ein.

    Das nächste Mal, als sie erwachte, war es Nacht. Über der Tür brannte eine kleine Notbeleuchtung. Der Monitor flackerte und gab die gleichförmigen Pieptöne ihrer Lebensfunktionen wieder. Ihre Gedanken waren träge und ziellos. Dennoch lenkten sie die Augen zum Fenster. Der Regen hatte aufgehört und Janas Blick wurde magisch vom Sternbild der Zwillinge angezogen. Castor und Pollux. Die Angst überfiel sie, wie ein Schlag und zog die Eingeweide zusammen. Von diesen beiden Sternen ging Gefahr aus, die sie nicht fassen konnte.

    Sie erinnerte sich deutlich an alles, viel zu deutlich, als sie in den Herbsthimmel sah. Sie wusste, was geschehen war, gerade jetzt und in diesem Augenblick. Ihr Atem begann zu hecheln und Schweiß drang aus den Poren. Sie zwang sich in sitzende Stellung und brachte ihren Atem unter Kontrolle. Sie horchte nach draußen auf den Korridor, der jedoch still war. Sie wollte nicht, dass jemand sie so sah.

    Vor wenigen Minuten stand sie mit Zerbi vor der Wand, durch die sie hindurch schritt, bevor sie in Dunkelheit versank. Diese Dunkelheit … immer wieder diese Dunkelheit …

    *

    Vor zwei Jahren lief Jana, von der Mayrschen Buchhandlung, in Aachen, zum Westbahnhof. Am 13. Oktober 2011, ihr Geburtstag. Sie wurde sechzehn Jahre alt. Zu diesem Anlass löste sie eines ihrer Geschenke, einen Gutschein, für den neuen Harry Potter ein. Auf dem Markt, in Höhe des Kaiser Karl Denkmals, sah sie den hellen Blitz und dann nichts mehr. Doch, da war noch etwas. Ein Schatten, der sich zwischen sie und das helle Licht schob. Aber das konnte auch Einbildung sein. Vom Zeitpunkt ihrer Ohnmacht bis heute wusste sie lediglich aus den Erzählungen ihrer Eltern, was geschehen war. Zumindest glaubte sie das fest.

    Sie wurde damals in einem Hubschrauber ins Klinikum geflogen und jetzt, nach etwas mehr als zwei Jahren, entlassen. Von der Zeit des Krankenhausaufenthalts blieb die Erinnerung an die letzten sechs Wochen. Zumindest dachten das die Ärzte sowie Mama und Papa. Sie war wohlauf. Niemand fand eine Erklärung für den Ausfall ihrer Lebensfunktionen.

    Die letzten sechs Wochen verliefen ereignisreich. Vier Tage nach ihrem Erwachen wurde der letzte Zugang auf ihrem Handrücken gezogen. Noch während die Krankenschwester die Kanüle zog, schwang Jana die Beine aus dem Bett und stand frei im Raum. Die beiden Ärzte und die Krankenschwester schrien auf und hilfreiche Hände zuckten zu ihr hin, die jedoch gleich wieder zurückgezogen wurden.

    »Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragten ihre Augen.

    »Nein. Auf keinen Fall«, versicherte Doktor Wegener, der sie betreute, seit dem sie erwacht war. »Wir sind lediglich besorgt, weil du während der Zeit deines Komas, die Muskeln nicht belasten konntest. Tu ein paar Schritte.« Er fasste sie, für den Fall aller Fälle, leicht am Oberarm.

    Jana ging zum Fenster und zurück. Die Bewegung bereitete keine Probleme.

    Das Mädchen war körperlich gesund und, viel wichtiger, das Gehirn funktionierte einwandfrei ohne Ausfälle. Doch Jana sprach nicht. Die medizinischen Geräte und Untersuchungen sowie psychologische Gutachten lieferten keine plausible Erklärung, für den Verlust ihrer Sprechfähigkeit. Mit dem Trost, das gebe sich mit der Zeit, mussten ihre Eltern leben. Für Jana selbst bedeutete das keinerlei Problem, schließlich war es ihr Geheimnis.

    *

    Kapitel 3 Kriminalpolizei /Jana

    »Guten Tag. Ich bin Claudia Plum, Hauptkommissarin der Aachener Kripo.« Claudia betrat forsch das Krankenzimmer und sah auf das hagere Mädchen im Bett. »Du bist Jana Winter«, stellte sie fest. Das Zimmer sah aus wie alle Krankenzimmer in einem Krankenhaus. Platz für zwei Betten, wo zurzeit nur das eine stand, und über dem Kopfende die Versorgungsleiste für Sauerstoff und die Anschlüsse für medizintechnische Geräte. Auf dem Beistellschrank mit dem ausklappbaren Tablett lagen Süßigkeiten sowie ein Notebook und ein I-Pad. An der dem Bett gegenüberliegenden Wand lief eine Kochshow im Fernseher, der, in zwei Meter Höhe, in einer Halterung hing. Ansonsten noch drei grässlich gelbe Stühle, die unbequem aussahen.

    Jana nickte.

    »Du kannst nicht sprechen«, fuhr Claudia vorsichtig fort. »Ich habe mit deinen Eltern gesprochen.«

    Jana nickte wieder und griff zur Tafel, die auf der Konsole neben dem Bett lag.

    »Hast du eine Erinnerung, wie es zu deinem Unfall kam?«, fragte Claudia und registrierte die nächste Verneinung. Sie sondierte die Lage. Das Mädchen wirkte weder krank noch verzweifelt. Jana schien keine Probleme mit dem Verlust, ihrer Sprechfähigkeit zu haben. Sie gefiel der Hauptkommissarin und war ihr sofort sympathisch. Die junge Frau, das war sie ja schließlich mit achtzehn Jahren, strahlte ungemein positive Signale aus. Doch Claudias Gefühl spürte etwas im Hintergrund der Gedanken des Mädchens, wo es sich lohnte nachzuhaken. Sie fiel mit der Tür ins Haus und sparte das Herantasten und die Floskeln aus. »Du hattest keine gravierenden körperlichen Verletzungen und dennoch lagst du ungefähr zwei Jahre im Koma. Wenn da irgendetwas war, möchte ich es wissen. Schließlich hatte es drei Tote gegeben und außer dir noch einen jungen Mann, der ins Koma fiel.« Claudia fasste sich innerlich an den Kopf. Sie fiel nicht mit der Tür ins Haus, sondern trampelte, wie ein Elefant im Porzellanladen. Ihr fehlte die Erfahrung im Umgang mit jungen Leuten. Sie revidierte ihre Gedanken: Sie hatte verlernt, mit Menschen umzugehen, die normal waren. Der Beruf forderte seinen Tribut.

    Jana schrieb mit einem Stift auf die Tafel. »Die Ärzte haben mich auch schon gefragt. Ich habe keine Erinnerung an den Vorfall. Heute weiß ich, dass es eine Explosion war.«

    Claudia saß mittlerweile auf dem Bettrand und las mit. »Das ist sehr schade. Drei Tote sind nicht gerade wenig. Und nicht zu vergessen, du und dieser junge Mann …«

    Janas Stift flitzte wieder über die Tafel, die Stirn angestrengt gekraust. »Kennen Sie die Namen der anderen Beteiligten?«

    »Du kannst Claudia zu mir sagen. Ja. Die Namen haben wir: also du, Vivian Seeger, Stefan Krüger, Lukas Leitner und Marco Ruisten.« Die Hauptkommissarin hielt den Blick auf die Tafel gerichtet. Ihrer inneren Eingebung folgend sah sie hoch und in die schreckgeweiteten Augen des Mädchens. »Was ist los? Kennst du diese Personen?«

    Jana schüttelte den Kopf. Dabei stand ihr das schlechte Gewissen auf die Stirn geschrieben.

    »Ich glaube dir nicht.« Claudia hakte mit ungutem Gefühl nach.

    »Ich kenne sie nicht«, schrieb Jana und sah Claudia offen in die Augen. In ihrem Gesicht lag kein Falsch. Wenn da nicht das Ziehen in den Gedärmen der Kriminalistin wäre. »Kannst du mir Näheres zu den anderen sagen?« Janas Stift tanzte über die Tafel.

    »Bis auf dich und den Jungen haben wir, so brutal das jetzt ist, nur Fleischreste gefunden. Dir ist äußerlich wenig geschehen. Dieser Marco hatte ein gebrochenes Bein und eine Kopfverletzung. Vom Alter her hättet ihr zusammengehören können.« Claudia beobachtete jetzt aufmerksam Janas Gesicht.

    Die Genesene auf dem Bett schüttelte nachdenklich den Kopf. Ihre Gedanken schienen weit weg, als lausche sie in sich. Schließlich sah sie Claudia mit einem schmerzhaften Ausdruck an und senkte die Augen auf die Tafel.

    »Können wir das Gespräch später fortsetzen? Heute nicht. Ich muss nachdenken.«

    »Sofern es der Aufklärung dient … gerne.« Sie nickte und spürte das bekannte Kribbeln, wenn sie wieder in eine Katastrophe stolperte. Sie hatte weder Lust noch Zeit, einen zweiten Fall parallel zu bearbeiten. Außerdem lag die Geschichte hier zwei Jahre zurück. Staatsanwalt Dengler würde ihr den Fall so oder so aufdrücken. Hier waren die Toten … und Mordkommission war eben Mordkommission. Sie musste abwarten, was ihre Kollegen dazu sagten. Sie würden bestimmt nicht begeistert reagieren. Die Drogenopfer mussten warten oder das Team sich teilen. Und alles vor Weihnachten.

    »Glaube mir bitte. Ich kannte Marco nicht. Es ist viel komplizierter. Du wirst mich für verrückt halten.« Jana wusste nicht, was sie trieb. Doch sie vertraute der Polizistin und spürte eine Seelenverwandtschaft.

    »Ich respektiere deinen Wunsch.« Claudia spürte den Zwiespalt und wie sie auch selbst hineingeriet. Zu dem bekannten Ziehen im Unterbauch gesellte sich das ebenso bekannte Kribbeln zwischen den Schulterblättern. Sie war wieder einmal in die Falle gegangen. Der Fall war viel komplizierter, als zurzeit alle dachten. »Du wohnst in Grotenrath. Ich auch.«

    »Ich weiß«, schrieb Jana. »In der Waldstraße. Ich lebe Hinter den Höfen.«

    »Zufälle gibt es«, stellte Claudia fest.

    »Das ist kein Zufall.«

    *

    Nun saß Jana hinten im Auto und Papa fuhr nach Hause. Es gefiel ihr aus dem Fenster zu schauen und zu sehen, wie die Landschaft vorbeiflitzte. Alles sah anders aus, als in ihrer Erinnerung. Aber nein … die Veränderung lag in ihr. Am Sonntag war der erste Advent und es bestand Hoffnung auf Schnee. Das wusste sie aus den Nachrichten des Fernsehers, der in ihrem Krankenhauszimmer stand.

    Sie dachte an das Gespräch mit der Polizistin. Hatte sie vielleicht etwas voreilig gehandelt? Nein. Das wollte sie sich nicht vorstellen. Irgendwann musste sie ihre Geschichte erzählen und dann würde sie für verrückt erklärt. Claudia Plum konnte die Person werden, der sie vertraute. Doch zunächst musste sie einige Dinge erledigen. So lange würde sie jedem aus dem Weg gehen, der versuchte, ihre Zeit während des Komas zu hinterfragen.

    Jana konnte kaum glauben, dass sie zwei Weihnachtsfeste verpasst hatte. Aber hatte sie das? Ein Lächeln lag um ihre Lippen, als sie sich erinnerte.

    *

    Kapitel 4 Zwischenwelt

    Jana schlug die Augen auf und sah … nichts. Absolute Schwärze, absolute Stille. Ihr Magen krampfte und sie fuhr unwillkürlich mit den Händen dorthin. Keine Berührung … sie spürte keine Berührung. Sie würgte. Die Angst fraß in ihre Knochen. Knochen? Der Würgereiz war gedanklich, nicht körperlich. Sie bewegte die Beine zu Testzwecken. Das funktionierte … fiktiv … nicht physisch. Weitere Versuche ergaben: Sie dachte. Aber wo? Zumindest nicht in ihrem Körper. Wenn diese verdammte Dunkelheit nicht wäre …

    Janas Gedanken waren zeitlos. Sie glitten in die Vergangenheit und suchten Halt. Sie kehrten zurück in die Gegenwart, in den körperlosen Zustand. Sie pochten an die Zukunft, die keine war. Sie spürte weder Wärme noch Kälte … hatte keinen Geschmack … hatte keine Sinne. Lediglich Gedanken, Gedanken …

    Jana flüchtete und wandte einen Trick an, den sie immer dann benutzte, wenn ihr Herz schwer war. Sie tauchte in eine Geschichte, die sie selbst erfand oder die schon einmal erzählt war. Das wirkte immer.

    »Was willst du denn hier?«, fragte die näselnde quenglige Stimme.

    »Wo bin ich?«, wollte Jana wissen.

    »Bist du blöd?« Dieselbe Stimme von vorhin stellte die Frage.

    »Ich heiße Jana und wer bist du?«

    »Lukas.«

    »Weißt du, wo wir hier sind? Ich sehe nichts.«

    »Ich wusste es. Du bist blöd.« Lukas Stimme klang genervt. »Die ersten paar Stunden sieht

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