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Caretta: Ein Lesboskrimi
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eBook262 Seiten3 Stunden

Caretta: Ein Lesboskrimi

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Über dieses E-Book

Eine vor Jahren abgetauchte Mörderin wird in Istanbul wiedererkannt. Die Journalistin Jennifer Arends wittert darin ihre Chance auf eine große Story. Sie reist in die Türkei und folgt der Spur der Flüchtigen — die entlang der Route der Meeresschildkröten durch die Ägäis hinüber auf die griechische Insel Lesbos führt. Doch dort nehmen die Dinge eine dramatische Wende …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum16. Juni 2017
ISBN9783897419728
Caretta: Ein Lesboskrimi

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    Buchvorschau

    Caretta - Renate Henstedt

    OKTOBER

    MAI

    Montag

    Ihre Füße trafen rhythmisch auf den Boden. Eins zwei drei vier eins zwei drei vier – der Takt hallte in ihrem Kopf wider. Sie starrte auf den Grasrand, der unter ihr hindurchglitt wie ein lichtgrünes Band, sah einzelne lange Gräser vorbeifliegen.

    Heute hatte sie keinen Blick für das im Licht schimmernde Wasser der Alster, das sie bei ihren abendlichen Läufen so oft begeisterte. Die Anspannung saß ihr im Nacken. Sie zog die starren Schultern hoch und versuchte im Laufen die Muskulatur zu lockern. Die Anspannung blieb. Sie spürte sie, seit Biskup nein gesagt hatte. Seit dem Gespräch mit ihm trug sie diese Bandage aus verkrampften Muskelsträngen. Ein Insekt traf ihre Nase. Wütend schüttelte sie es ab. Biskup konnte sagen, was er wollte, ihre Idee war gut. Sie war und blieb vielversprechend.

    Aber Biskup hatte nein gesagt.

    Von Trotz beflügelt, spürte sie die Kraft in ihren Beinen und beschleunigte das Tempo. Allmählich fing sie an, den Wind auf ihrer Haut zu genießen. Ihr Blut hatte zu rauschen begonnen, ein Moment, der ihr immenses Vergnügen bereitete. Jetzt fühlte sie sich fast, als ob sie fliegen könnte; in ihrem Kopf erhob sich das fantastische Bild eines Adlers, der über den dicht stehenden Bäumen und dem See schwebte, die Flügel ausgebreitet, erhaben herabspähend auf alles, was sich dort unten bewegte.

    Der Auftrag bedeutete ihr so viel! Damit hätte sie zum ersten Mal, seit sie in der Redaktion arbeitete, einer echten Sensation auf die Spur kommen können, einer Geschichte, die einfach alles bot, was eine gute Story ausmachte: Horror, Gefühle, Liebe, Verrat. Aber nein: Ihr Ressortleiter hatte sie dazu abgestellt, über Arschwackeleien zu recherchieren. Eine Hintergrundgeschichte ausgerechnet über Burlesque – wer nahm so etwas noch ernst?! Und wer kannte ein Hurdy-Gurdy-Girl namens Mira Globos? Jennifer schüttelte unwirsch den Kopf, als sie sich die Antwort gab: Zumindest sie selbst würde die Dame bald kennenlernen. Denn sie sollte sie für Publik interviewen, wenn die Tänzerin im nächsten Monat nach Hamburg kam.

    »Noch Fragen?«, hatte Biskup in dieser herablassenden Art gesagt, die er an den Tag legte, wenn er auf ganz und gar unzugänglich schaltete.

    Keine Fragen mehr. Jennifer war aufgestanden, hatte ihre Mappe ergriffen und das Büro verlassen. Erst als die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, hatte sie die aufsteigende Wut in sich gespürt. Diese Niederlage kam völlig unerwartet. In den nahezu vier Jahren, in denen sie nun schon bei diesem Magazin arbeitete, hatte sie sich stets darauf verlassen können, dass Biskup sie ihre Ideen umsetzen ließ.

    Voller Empörung war sie über den eleganten grauen Teppich zum Lift gestapft, dessen Tür sich gerade öffnete. Nie war sie im Erdgeschoss schneller über den breiten Korridor zur Eingangshalle geeilt, wo ihr Marty, der Portier, fröhlich zuwinkte, und nach einem kurzen Nicken in seine Richtung durch die Drehtür hinaus ins Freie verschwunden. Frische Luft! Zu lange hatte sie den Atem angehalten. Viel zu lange.

    Zu Hause hatte sie sich gleich umgezogen und war den kurzen Weg zur Alster hinübergehastet. Nun, nach einer guten Stunde, bemerkte sie die langsam einsetzende Entspannung. Es gab wieder Fluss und Himmel, und sie konnte sich jetzt sogar auf den Gesang der Vögel konzentrieren, der in der Dämmerung lauter wurde: Das schrille Lied eines Zaunkönigs, über das sich die Melodie einer Amsel legte. Energisch strich sie sich eine kurze blondierte Haarsträhne aus dem Gesicht und lief auf eine kleine Lichtung zu. Sie nutzte den dort liegenden Holzstamm, um Dehnungsübungen zu machen, und trabte in gemäßigtem Tempo zurück nach Hause. Die Nachbarin, die unten im Hausflur damit beschäftigt war, einen riesigen Einkaufsbeutel aus dem Kinderwagen zu zerren, schaute ihr verwundert nach, als sie nonstop die Treppen hinaufspurtete.

    In ihr war noch so viel Energie! Mehr als genug. So eine Verschwendung, dachte sie. Ich bin unterfordert, ich will mehr!

    Es musste einen Weg geben, ihren Plan in die Tat umzusetzen.

    Immer wieder stellte sie mit Überraschung fest, wie groß Gerd war. Sie bemerkte ihn gleich, wie er aus einer Zweierecke aufstand und sie anstrahlte, als sie eine Stunde später das Café in der Innenstadt betrat. Sein braunes Haar sah etwas ungepflegt aus und konnte einen neuen Schnitt gebrauchen. Sie hatte ihn länger nicht gesehen und sich schon auf die Verabredung gefreut. Eigentlich kannten sie sich erst seit etwa einem Jahr, was ihnen jedoch viel länger erschien, denn beide kamen aus der Lüneburger Heide und hatten in Hamburg Jura studiert.

    Das Café war einer von Jennifers Lieblingsplätzen. Es bestand aus einem Glastresen, an dem man bei sehr jungen, sehr hübschen, aufwendig gestylten Frauen Kuchen, Eis oder Snacks bestellen konnte, und einem Bereich dahinter, der in den Farben Braun und Creme gehalten war, wo zwei gemütliche Ecken mit großen Ledersofas und Sesseln zum Verweilen einluden. An der mit modischem Barockmuster gestalteten Wand hingen Regale, in denen CDs mit Jazz und World Music präsentiert wurden. Über den Sitzplätzen gab es Kopfhörer. Wenn Jennifer allein in das Café ging, nahm sie sich manchmal eine CD aus dem Regal und schob sie in den Player über ihrem Platz. So konnte sie selbst ausgewählte Musik hören und sich weniger allein fühlen.

    Heute war sie nicht allein.

    Gerd trug ein beigefarbenes Sakko über einem schwarzen Hemd, das er mit einer grauen Hose und braunen Schuhen kombiniert hatte, in der Kleidung wie in allem anderen immer etwas eigenwillig. Nach dem Jurastudium hatte er die Polizeilaufbahn einschlagen wollen, aber nach kurzer Zeit war ihm klar geworden, dass er weder ein Teamspieler war noch nach Anweisung von Autoritäten arbeiten wollte. Seitdem schlug er sich als Gerichtsreporter durch.

    »Hi, wie geht’s? Schön, dich zu sehen!«, begrüßte er sie und gab ihr das obligatorische Küsschen auf die Wange.

    »Willst du eine ehrliche Antwort?«

    »Na klar, warum bin ich denn sonst hier? Freue mich schon auf ein neues Drama!«

    »Diesmal ist es wirklich eins. Ich hatte vorhin ein völlig entnervendes Gespräch mit dem alten Starrkopf Biskup über eine tolle Idee für eine Recherche. Eine echte Superidee mit Aussicht auf eine richtig geile Story! Aber nein, er sagt, ich sei Redakteurin und nicht Reporterin, er brauche mich für die Geschichte mit einer Burlesque-Tänzerin. Meine Idee hat er sich erst gar nicht richtig angehört.«

    Gerd rührte in seinem Latte Macchiato. Jennifer hatte einen kleinen gemischten Salat bestellt und dazu einen Espresso, den sie nervös herunterstürzte, kaum dass die Kellnerin ihn vor ihr abgesetzt hatte.

    Gerd schaute sie aufmerksam an.

    »Was ist das denn für eine Idee?«, fragte er.

    Jennifer legte die Unterarme auf den Tisch und beugte sich weit zu ihm vor. Ihre Augen leuchteten.

    »Du weißt doch, montags suchen wir alle immer besonders intensiv nach einer neuen Story. Also sitze ich heute früh in meinem Büro und lese Zeitungen aus aller Welt, auch Lokalzeitungen, immer auf der Suche nach einer Notiz, die es wert ist, genauer nachrecherchiert zu werden. Natürlich wusste ich, dass ich eigentlich an meiner Recherche zu dieser Mira Globos weiterarbeiten sollte. Aber wen interessiert schon Burlesque? Ich brauchte etwas Ablenkung. Also stöberte ich in dieser Lokalzeitung und fand eine kurze Nachricht. Jemand aus der Gegend will im Urlaub in Istanbul eine Frau erkannt haben, deren Foto vor zwei Jahren einmal auf unserem Titelblatt war!«

    »Na und?«, meinte Gerd. »Irgend so eine alte Geschichte. Was ist daran denn so aufregend?«

    »Die Sache ging damals durch alle Zeitungen. Wir kannten uns da noch gar nicht, sonst hätte ich dir garantiert davon erzählt. Die Frau hat bei McCleary, einem großen Flugzeugbauer gearbeitet, war dort Sicherheitsingenieurin, hat eines Abends offensichtlich einen Mitarbeiter getötet und ist dann geflüchtet. Irgendwie war in der Zeitung auch von Erpressung die Rede. Das war eine ganz große Sache, und Interpol hat sie lange gesucht, bis ein paar Wochen später ihr ausgebrannter Wagen in Kroatien gefunden wurde. Es gab zwar keine Leiche, aber einige verkohlte Stofffetzen mit ihren DNA-Spuren daran. Man glaubte an eine Entführung oder einen Racheakt.«

    Gerd hatte ihre Geschichte mit steigender Aufmerksamkeit verfolgt. Er lehnte sich zu ihr hinüber, bis seine Ellenbogen auf der Tischplatte lagen. Seine Hände hielten das Glas umklammert und in seinen Augen lag ein Funkeln.

    »Und diese Frau soll jetzt in Istanbul wieder aufgetaucht sein?«

    »Ja, die Touristin hat sich bei der deutschen Polizei gemeldet und dazu Angaben gemacht.« Jennifer konnte Gerds Interesse nun deutlich spüren.

    »Du weißt aber schon, wie unzuverlässig Zeugenaussagen sind?«, wandte er ein.

    »Sicher. Das dachte die Polizei wohl auch. Sie haben nichts weiter unternommen. Darum hat sich die Frau ja an ihre Lokalzeitung gewandt, und so kam die Notiz dort hinein.« Jennifer setzte sich zurück und spießte ein Salatblatt auf.

    »Und was willst du nun tun?«

    »Ich habe Biskup gebeten, mich aus dem Tagesgeschäft abzuziehen und mir ein paar Wochen zu geben, um mich auf ihre Spur zu setzen. Es wäre doch traumhaft, wenn wir herausbekämen, dass sie gar nicht tot ist, und sie fänden!«

    »Aber er war nicht interessiert?«

    »Absolut nicht. Viel zu aufwendig und zu unwahrscheinlich, dass wir Erfolg haben werden, sagt er.« Jennifer spürte wieder die Enttäuschung von vor einigen Stunden in sich aufsteigen.

    »Das sieht mir allerdings auch sehr nach Ente aus.« Gerd wurde nachdenklich, aber sein gespannter Gesichtsausdruck verriet, wie sehr er sich dennoch für die Geschichte interessierte. »Und nur auf den Hinweis einer Zeugin hin – gerade was das Wiedererkennen von Personen angeht, sind Zeugen so was von unzuverlässig! Wenn man sie festlegen will, verheddern sie sich in Widersprüche. Der Mensch kann Gesichter und körperliche Merkmale, wenn er sie nur für kurze Zeit sieht, einfach nicht vernünftig speichern.«

    Jennifer ließ ihren Rücken gegen die Lehne fallen und entspannte sich wieder.

    »Klar, das weiß ich auch. Eine Erfolgsgarantie hätte das natürlich nicht. Aber stell dir vor, was das für ein Abenteuer wäre! Ich könnte versuchen, ihren Weg zu verfolgen. Vielleicht ist sie wirklich entführt worden, hat sich wieder befreit und lebt jetzt ganz unbehelligt ein neues Leben? Oder sie arbeitet undercover bei der Konkurrenzfirma! Oder irgendwelche Gangster haben ihr alles entrissen und sie krebst jetzt, immer in der Angst, erkannt zu werden, irgendwo in der Türkei am Existenzminimum herum. Und ich könnte es herausfinden, sie stellen und eine Wahnsinnsgeschichte schreiben!«

    »Ach Jennifer, träum weiter. So eine Chance bekommt man als angestellte Journalistin nicht. Du musst dich schon darauf einstellen, noch einige Jahre Fußvolk zu spielen, bis du genug Dienstjahre hast, um anspruchsvollere Aufträge zu bekommen.«

    »Na, das ist ja eine tolle Unterstützung, die du mir da gibst. Was für ein Freund bist du eigentlich?«

    Gerd wehrte lachend ab. »Ich unterstütze dich lieber bei deiner Freizeitgestaltung. Wie wär’s noch mit Disco?«

    »Geht leider nicht«, entgegnete Jennifer betrübt. »Ich gehe mal lieber nach Hause. Rufe dich morgen an, wenn ich das Ganze verarbeitet habe.«

    »Okay, mach’s gut. Ich bleibe noch ein wenig.«

    Sie nickte ihm zu, zog die Jacke über und ging. Am Tresen drehte sie sich noch einmal um, um ihm kurz zuzuwinken, doch Gerd sah durch sie hindurch. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und schien angestrengt nachzudenken.

    Es war 22.20 Uhr, als Jennifer zu Hause ankam. Müde öffnete sie die Tür zu ihrer Wohnung, die im dritten Stock eines großen Hauses aus der Zeit der Jahrhundertwende lag. Die Wohnung war recht eigenwillig geschnitten und gehörte zum rückwärtigen Teil des Gebäudes, so dass man erst einige Meter durch einen dunklen Flur gehen musste, bevor man die einzelnen Zimmer erreichte. Den Flur hatte Jennifer mit Bildern und kleinen Lampen ausgestattet. Vom Ende dieses langen Ganges ging nach links die Küche ab, dahinter das Wohnzimmer und rechts dann ihr Schlafzimmer, gleich daneben lag ein kleines, innen liegendes Bad.

    Diese Art von Behausung war einer angehenden Starjournalistin nicht wirklich angemessen, dachte sie immer wieder mit Grimm, aber sie hatte dem eigenartigen Charme der Wohnung gleich bei der Besichtigung etwas abgewonnen. Die beiden hinteren Räume verfügten jeweils über einen kleinen Balkon auf der Höhe der Baumkronen alter Eichen und Kastanien, die im Hinterhof des Hauses emporragten. Wenn sie auf einem der Balkone saß, konnte sie die Vögel auf Augenhöhe sehen und sich vorstellen, sie befände sich in den Wipfeln eines Dschungels.

    Diese Erfahrungen waren auch der Grund, warum sie sich in den letzten Jahren mit Vogelstimmen beschäftigt hatte. Die häufigsten Gartenvögel konnte sie inzwischen am Gesang erkennen.

    Außerdem war die Lage der Wohnung fantastisch, sehr zentral und nicht weit von der Alster gelegen. Die unglaublich hohe Miete zahlte sie daher ohne Groll.

    »Hi, Jenny, hier ist Tanja. Magst du gleich noch auf eine Caipi zu mir kommen? Melde dich doch, wenn du da bist.«

    Sie lächelte, als sie die erste Nachricht auf dem Anrufbeantworter abgehört hatte. Tanja wohnte direkt unter ihr. Sie war zweiundzwanzig, lesbisch und liebte das Leben und die Frauen. Obendrein war sie ausgesprochen unterhaltsam, und Jennifer konnte sich beim Zuhören gut mit ihr entspannen. Heute war ihr aber nicht nach Tanja. Sie würde morgen bei ihr anrufen; jetzt hatte sie einfach Lust, schlafen zu gehen.

    Als sie in ihrem dunkelblauen Pyjama auf dem Bett lag, dachte sie noch einmal über den Tag nach. Sie würde beides tun: die Pflichtrecherche abschließen – aber auch der anderen Geschichte nachgehen! Vielleicht bekam sie über die Redaktion der Zeitung die Adresse der Frau, die diese Hana Berger gesehen hatte. Sie müsste es allerdings geschickt anstellen, denn natürlich schützten Journalisten ihre Quellen. Sie würde die Zeugin kontaktieren und die Spur aufnehmen.

    Diese Geschichte ließ sie nicht mehr los, es war einfach unausweichlich, dass sie dieses Abenteuer einging. Vier Jahre Teamwork, die für sie hauptsächlich aus Zuarbeiten bestand, waren einfach genug.

    Sie hatte immer schon schreiben wollen. Als Zwölfjährige hatte sie die ersten Geschichten verfasst, über Tiere und Zauberer und Banditen und tapfere Kinder. Später hatte sie begonnen, sich für Politik zu interessieren. Sie sah fasziniert den Auslandskorrespondenten im Fernsehen zu, bewunderte sie wegen ihrer klaren, präzisen Sprache und stellte sich deren Leben als glamourös vor, voller Reisen mit wenig Arbeit. Bevor sie dann nach dem Abitur mit dem Jurastudium begonnen hatte, hatte sie sich gründlich über den Beruf der Journalistin informiert. Es war ihr klar, dass es lange dauern würde, bis sie sich auf diesem Feld so viel Ruhm, Ehre und finanzielle Möglichkeiten gesichert haben würde, wie sie es sich wünschte – und wie ihr gebührte, denn sie wusste, dass sie gut war. Das hatten ihr schon die Lehrer gesagt, die ihre Beiträge in der Schülerzeitung jedes Mal besonders hervorhoben, und auch die Redakteure der kleinen Lokalzeitung in ihrem Heimatort waren angetan gewesen von ihrem Schreibstil. Es war klar, dass für eine Karriere bis ganz nach oben ein Jurastudium nötig war, das sie mit verbissenem Fleiß und ohne große Freude in Hamburg absolviert hatte. Nebenbei hatte sie immer wieder für Zeitungen berichtet und nach ihrem Prädikatsexamen tatsächlich eine Stelle als Volontärin bei Publik, einem der größten deutschen Magazine bekommen. Natürlich war viel Glück dabei gewesen; dass ihr Vater in früheren Jahren mit dem Verlagsleiter Golf gespielt und sie bei passender Gelegenheit einmal vorgestellt hatte, erwies sich sicherlich auch als hilfreich. Aber das änderte nichts daran, dass sie eben auch gut war.

    Jetzt war sie Teil des Deutschland-Ressorts, zusammen mit zweiunddreißig anderen gut ausgebildeten, ehrgeizigen Männern und Frauen, die sich in ständiger Konkurrenz belauerten und gegenseitig die Stuhlbeine ansägten. Woche für Woche wurden wesentlich mehr Themen ausgearbeitet, als nachher wirklich im Druck erschienen. Jeden Dienstag wurden sie den Ressortleitern vorgestellt, ausgewählt oder verworfen.

    Morgen würde es wieder soweit sein, sie hatte ihr Thema darum strategischerweise schon heute angebracht. Und war glatt gescheitert. Jennifer spürte, wie die Wut ihr von Neuem einen Stich versetzte.

    Nein, sie würde sich nicht mehr ärgern, sondern das Beste daraus machen. So konnte sie sich immerhin aus dem morgigen Hauen und Stechen heraushalten und würde die Zeit dafür nutzen, die Burlesque-Recherche weiterzutreiben.

    Und sie würde diese Lokalzeitung kontaktieren.

    Dienstag

    Tief im Tal färbte sich die Erde. Es war ein bräunliches Rosa, das Häuser und Felsen teils in mystische Schatten tauchte, teils hell aufleuchten ließ.

    Kristina Reinhart beobachtete das Schauspiel des anbrechenden Tages durch die Frontscheibe des Busses, der sie, von Mytilini, der Hauptstadt der griechischen Insel Lesbos kommend, nach Skala Eressos an der gebirgigen Westküste hinüberbrachte.

    Eben noch hatte sich der Bus durch Serpentinen gequält, die letzten braunfelsigen, wüstenhaft kahlen Berge hinab, und nun fiel Kristinas Blick ungehindert in das saftiggrüne Tal, in dem der Ort Skala Eressos lag. Sie sah den von Bäumen bestandenen Flusslauf zur Rechten und dann weiter die Bucht, die zu beiden Seiten von zwei hohen Felszügen begrenzt war. Auch auf ihnen lag intensives rosabraunes Licht, dazwischen schillerte das Meer. Kristina fühlte, wie sich die Harmonie der Landschaft auf ihre Seele übertrug.

    Der Bus rollte eine kerzengerade Straße entlang, die im Zentrum endete, bog dann auf den Parkplatz vor dem Ortskern ein und entließ mit einem tiefen Schnaufen den Druck aus den Bremsen. Kristina ergriff ihr Gepäck und die Windjacke, stieg aus und sah sich neugierig um.

    Eine Reihe von zweistöckigen weißen Häusern mit flachen Dächern, in deren Vorgärten rote und weiße Oleandersträucher blühten, umrahmte das Asphaltgrau des Platzes. An der Ecke, wo die enge Hauptstraße auf ihn einmündete, lag ein kleiner Supermarkt, in dem gerade einige griechische Touristen verschwanden.

    Das Hotel, in dem sie vorerst wohnen würde, musste das letzte Gebäude in der Reihe sein, wie Kristina aus dem Internet wusste. Als sie vor dem gepflegten Haus mit den braunen Holzbalkonen ankam, lief auch schon eine kleine, grau gekleidete Frau auf sie zu, strahlte sie an und begrüßte sie: »Jassu, ti kánis?«

    Sie antwortete auf Englisch, doch die Frau schien sie nicht zu verstehen, strahlte sie nur weiterhin an und bedeutete ihr mit dem Zeigefinger, ihr zu folgen.

    Das Zimmer lag im ersten Stock und enthielt neben dem üblichen Mobiliar einen ausnehmend hübschen kleinen Schreibtisch mit Sessel. Die Frau zeigte ihr wortlos, dass sie alle Türen zum Balkon schließen musste, damit die Klimaanlage funktionierte, dann öffnete sie die Türen wieder, strahlte sie nochmals an und verschwand.

    Kristina trat hinaus auf den Balkon und sog die Aussicht, die sich ihr bot, förmlich in sich auf: Eine Felsenkette, in der Ferne unterbrochen von weißen, langgestreckten Landhäusern und grünen Baumgruppen. Linksseits des Hotels lag eine Pension, die ihr zuvor nicht aufgefallen war; das Namensschild über dem Eingang war wie alles andere eingetaucht in jenes fast unwirkliche rosa Licht, dessen Intensität allmählich abnahm.

    Von tiefer Zufriedenheit erfüllt, ließ sie ihre rundliche Gestalt auf einen der weißen Plastikstühle sinken, kreuzte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich mit einem tiefen Ausatmen zurück.

    Jennifer hastete über die weite Betonplattform, auf der sich das Gebäude ihrer Redaktion erhob. Sie war spät dran. Um neun Uhr war sie mit Dominik Klein

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