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Die Grauen in Louisas Landschaft
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eBook288 Seiten3 Stunden

Die Grauen in Louisas Landschaft

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Über dieses E-Book

Der Albtraum beginnt, als die Nachricht vom Flugzeugabsturz eintrifft. Louisa Lohmann, eben noch in froher Zuversicht auf ein erfolgreiches Leben nach abgeschlossenem Studium, muss nun nach New York, um die Leichen ihrer Eltern zu identifizieren.
Sie bemerkt, wie sie beobachtet wird. Selbst in ihrem Geist nistet sich etwas ein, das sie nicht beschreiben kann. Es riecht grün und erschreckt sie zutiefst. Als sie herausfindet, womit sich ihr Vater beschäftigt hat, ist sie bereits verzweifelt auf der Flucht.
Manchmal glaubt sie, entkommen zu sein, aber als ihr Geliebter von einem dunklen Objekt entführt wird, begreift sie, dass sie nicht einmal in ihren intimsten Momenten allein waren.
Um ihn zu retten, lässt sie sich auf die Erkenntnisse ihres Vaters ein, probiert die ersten Schritte in der Matrix und landet in einem gespenstischen Szenario, dessen Spielregeln ihr völlig unbekannt sind.
Aber sie findet Verbündete. Sie erkennt, dass es anderen noch schlimmer ergangen ist und alle, die mit dieser fremden Macht zu tun hatten, nur noch einen Wunsch haben: Rache!
Die Feststellung, dass selbst schreckliche körperliche Verletzungen noch das kleinere Übel sind, bringt sie fast um den Verstand. Furchtbarer noch ist der Eingriff in die Innenwelten der Seele. Die Grauen sind bereit, alles zu benutzen, denn auch Gefühle sind für sie nur ein Mittel zum Zweck. Das ist ihr größter Fehler, gleichzeitig aber auch die einzige Hoffnung für Louisa.
Der erste Remote Viewing-Thriller aus Deutschland
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. Dez. 2012
ISBN9783933305947
Die Grauen in Louisas Landschaft

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    Buchvorschau

    Die Grauen in Louisas Landschaft - Manfred Jelinski

    Anhang

    1 ÜBER DIE SEE

    Der Schmerz überfiel sie mit einer derartigen Heftigkeit, dass sie augenblicklich einknickte und in den Sessel fiel. Ihre Hände versuchten verzweifelt, das Messer zu umfassen, das sich in ihren Oberbauch gebohrt hatte und sie langsam nach oben aufschnitt. Aber es gab natürlich kein Messer. Es waren beides nur Reflexe, der Schmerz und der Versuch, sich zu wehren.

    Obwohl der Raum sich plötzlich ins Millionenfache ausgedehnt zu haben schien, vernahm sie die Stimme des Nachrichtensprechers klar und deutlich. Auch die Bilder der Verkehrsmaschine, oder jedenfalls von dem, was von ihr übriggeblieben war, standen mit unnatürlicher Schärfe direkt vor ihr mitten im Raum. Es war ihr unmöglich, die Hände vor das Gesicht zu schlagen; und es hätte die Bilder auch nicht verscheucht.

    Als Louisa heute Morgen in den Tag hineingefühlt hatte, so, wie sie es jeden Tag tat, war da dieser schwarze Fleck gewesen. Normalerweise konnte sie ziemlich genau bestimmen, was der Tag ihr bringen würde. Freude, Ärger, Begegnungen, gute oder weniger gute Aufregungen, alles lag in gewissen Grenzen übersichtlich vor ihr und darauf hatte sie auch immer gebaut.

    Aber heute war dieser schwarze Fleck dagewesen, der höhnisch und auf hässlichste Weise ihre innere Landschaft beschmutzt hatte. Und dessen Inhalt ihr unergründlich war. Jetzt war er da, sie stand mitten darin und sie fühlte, wie seine Schwärze langsam um sie herum aufstieg und über ihr zusammenschlug.

    Wie war das gewesen, heute Vormittag, als sie ihre Eltern zum Flugplatz brachte?

    „Lou, hatte ihr Vater gesagt, (ihre Mutter nannte sie immer Lisa, wirklich komisch!) „Lou, meine Liebe, du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Nächste Woche sind wir wieder da und dann haben wir wahrscheinlich etwas sehr Interessantes zu erzählen oder wir haben es sowieso zu den Akten gelegt. Dann ist erst mal Ruhe. Dann können wir uns auch um deine Wohnung kümmern. Nur noch ein ganz klein wenig Geduld.

    Und Lou und Lisa hatten beide das sichere Gefühl, dass ihre Eltern nicht fliegen sollten, jedenfalls nicht heute. Aber wie hätte sie ihnen die Sache mit dem schwarzen Fleck auf der Tageslandschaft erklären sollen? Louisa fühlte ein leises Kribbeln an den unteren Halswirbeln, als ihre Eltern hinter der Abfertigung verschwanden.

    Das Schreiben der Fluggesellschaft, das zwei Tage später im Briefkasten steckte, fühlte sich eisig an. Louisa hatte die Zeit wie in einer Art Koma verbracht; mechanisch handelnd, erfüllt von völliger Leere. Da waren Telefongespräche gewesen, Versicherungsgesellschaften, Anwälte, Freunde, aber auch Frühstück, Mittagessen und Abendbrot. All das war mit ihr passiert, aber sie konnte sich nicht erinnern. Eine Zeitung lag auf dem Tisch, ungelesen. Sie musste sie irgendwann gekauft haben.

    Ihre Finger waren halb erfroren, als sie die Wohnungstür wieder schloss. Sie riss den Umschlag auf und erwarte fast, dass er sich in Eissplitter auflöste. Aber er blieb Papier, und der Brief war kurz und hart. Natürlich bedauerte man diesen Absturz. Alles würde getan werden. (Was war „alles"?) Die Hinterbliebenen sollten sich des Mitgefühls versichert sehen.

    Die Kälte zwischen ihren Fingern verhöhnte die Worte, aber sie fuhr in ihre neue, noch unfertige Wohnung, um ihren Koffer zu holen. Hinterher wunderte sie sich, dass sie tatsächlich alles eingepackt hatte, was sie brauchte. Louisas Flug zu der Trauerfeier entführte sie noch am selben Abend und Lisa spürte wenigstens bei der einen Stewardess das ehrliche Bemühen, ihr etwas beizustehen. Lou war und blieb apathisch während jeder einzelnen Minute der langen vierzehn Stunden, bis die Maschine auf dem Kennedy-Flugplatz in New York ausrollte.

    Wenn es noch etwas Gutes gab, dann war es die Befreiung von der üblichen Abfertigung. Sie war sozusagen VIP und brauchte nicht die unsäglichen Fragen der Immigrationsbehörde über sich ergehen lassen. „Was wollen Sie hier? Haben sie hier Freunde? Wo wohnen Sie?" Alle diese unfreundlichen Angrabungen galten nur jenen, denen gegenüber man kein Schuldgefühl hatte. Auch das Hotel war bestellt und das Yellow Cab, und von ihrem Zimmer konnte sie sogar beides sehen, das Empire State und das World Trade Center. Es musste ein teures Zimmer sein. Der Telefonhörer lag daneben und sie nahm an, dass sie selbst das getan hatte.

    Als sie in der Kirche wieder zu sich kam, nahm sie erstaunt wahr, wie wenig Menschen zugegen waren. In der Maschine hatten sich über zweihundert Personen befunden. Da konnte man das Doppelte an Teilnehmern erwarten, oder etwa nicht? Waren die gut hundert Anwesenden die, die tatsächlich trauerten? Oder waren es die, die die ganze Prozedur noch aushielten? Oder waren sie gar von der Fluggesellschaft bestellt, weil sonst zu wenig gekommen wären? Waren auch Offizielle zugegen? Die Orgel setzte vollmundig ein, es klang unerträglich aufgesetzt, aber so klang es eigentlich immer in der Kirche. Louisa sah sich vorsichtig um.

    Nicht alle der Anwesenden waren aufmerksam dabei. Jedenfalls nicht mit der Aufmerksamkeit bei der Musikeinlage. Und manche schienen aus ganz anderen Gründen hier zu sein. Louisa bemerkte rundherum verstreut ein gutes Dutzend Männer, deren Interesse das anwesende Publikum selbst war. Einer, nein, zwei sahen genau zu ihr herüber. Sie senkte die Augen. Sie meinen tatsächlich dich, erkannte Lisa und fühlte kurzzeitig nach, um sofort erschrocken wieder in sich zu kehren. Was wollten die von ihr? Es fühlte sich gefährlich an und es hing mit diesem schwarzen Fleck zusammen, der merkwürdigerweise immer noch präsent war, in einiger Entfernung, aber nicht kleiner und auch nicht blasser. Louisa bemerkte erstaunt, dass sie ihre Landschaft wieder ausrollen konnte. Die Büsche in der Nähe sahen verkümmert aus, aber das schien ihr so klar, wie sie immer ihre Wahrnehmungen erklären konnte. Weiter weg war es etwas heller, größere Bäume wuchsen am Wegesrand und sie hatte das sichere Gefühl, dass dahinter jemand auf sie wartete. Einer? Sie prüfte kurz. Nein, mehrere. ‚Komisch’, dachte sie, ‚so klar habe ich es noch nie gesehen.’ Sie sondierte noch einmal den Geruch der Informationen. Es waren zwei Parteien. Mindestens. Und mindestens eine roch überhaupt nicht gut.

    Lou und Lisa schraken zurück, und als Louisa wieder aufschaute, waren die Blicke dieser beiden Männer dort drüben noch immer auf sie gerichtet. Louisa massierte sich das Genick.

    Nach dem Schlusschoral ließ sie sich auf den Ausgang zutreiben. Die meisten Leute hatten es eilig, die Kirche zu verlassen; eine von diesen neuen, betonarmierten Architektenambitionen, die auch dadurch nicht feierlicher wurden, dass man ihnen buntes Glas in die Augenhöhlen presste. Ein blauer Lichtstrahl stand für Sekunden auf dem Kopf des einen Mannes, der sie die ganze Zeit über beobachtet hatte. Sie sah hoch. Es musste ein sonniger Tag draußen sein. Als sie einen Schritt weiter war, fiel das Licht durch ein grünes Butzenfenster. Der Mann sah krank aus, irgendwie schimmelig, und sie konnte ihn riechen, obwohl er mindestens fünf Meter entfernt stand. Er roch genauso grün wie dieses verweste Licht. Lou bemerkte, dass dieser Eindruck irgendwie nicht stimmte, aber andersherum, konnte man Grün riechen? Lisa versuchte, neu zu sortieren, aber da überschüttete sie der Tag bereits mit seinem Überfluss an Helligkeit. Louisa stand zögernd auf der obersten Stufe der Freitreppe, die zur Straße führte. Ein älterer Mann näherte sich ihr, sehr gepflegt, ruhig aber nicht bedächtig. Eher mit Bedacht.

    „Miss Lohmann?"

    Louisa schrak zusammen und starrte den Mann einen Moment verständnislos an, denn er sprach ihren Namen natürlich nicht wie ein Deutscher aus. Er sagte so etwas wie „Lowman", obwohl er sich sichtlich bemühte, korrekt zu sein. Louisa nickte schließlich.

    „Ich bin Vertreter der Fluggesellschaft. Darf ich Ihnen auch mein persönliches Mitgefühl aussprechen? („Mietgefuul sagte er und Louisa fragte sich, warum sie das so ärgerte.) „Wir hatten bisher nicht den Eindruck, Sie mit den Formalitäten belästigen zu können. Unser Empfangsbeauftragter sagte uns, Sie hätten erhebliche traumatisierte Reaktionen gezeigt. Louisa konnte sich nicht mehr an einen „Empfangsbeauftragten erinnern. „Wie fühlen Sie sich jetzt? Meinen Sie, dass wir Sie nachher in unserem Büro erwarten können? Und möglicherweise benötigen wir Sie auch, um Ihre Eltern zu identifizieren. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?"

    In Louisa schrie es auf. ‚Mama! Papa!’ Sie fühlte sich plötzlich wieder sehr klein, wollte hilfesuchend die Arme nach oben strecken. Lisa suchte das Gefühl der Mutter, aber da war nichts, es war weg, einfach weg. Leer, allein, niemand…

    Der grauhaarige Mann mit den aufmerksamen Augen musterte sie eine Weile, wie sie so dastand und versuchte, ihre Fassung nicht wieder zu verlieren.

    „Sie können sich gern noch etwas zurückziehen und frisch machen, sagte er in die Leere hinein. „Wir schicken Ihnen ein Taxi, wenn Sie dann möchten.

    „Nein, Lisa fühlte, wie ihre Kraft zurückkehrte. Tatsächlich plötzlich zurückkehrte, wie ein Fluss, der seinen Staudamm überwunden hat. „Ich möchte sofort mitkommen, sagte Lou und Louisa richtete sich auf.

    „Wie Sie wünschen." Der Mann nickte ihr professionell besorgt zu.

    „Wir können meinen Wagen nehmen. Er steht nicht sehr weit." Er drehte sich um und ging voran. Am Auto angekommen, bemerkte Louisa, wie auch die beiden Männer aus der Kirche in einen Wagen stiegen. Sie sahen nicht herüber. Wenigstens jetzt nicht. Die Tür schlug zu und Louisa wurde abgelenkt.

    „Wie bitte?", fragte sie und wandte sich dem Vertreter der Fluggesellschaft zu.

    „Wir haben das Gepäck Ihrer Eltern sichergestellt. Wenn Sie wünschen, können wir es Ihnen sofort aushändigen. Es ist noch in einem guten Zustand, da es nicht in der gleichen Maschine war. Ein Verteilungsproblem, das öfter auftritt. Dafür war ein Teil des Gepäcks des vorigen Fluges in der Unglücksmaschine. Das gibt eine Menge Mehrarbeit für uns."

    ‚Das ist mir doch so egal’, dachte Louisa, ‚aber er versucht, mich abzulenken. Das Gepäck…Was soll ich damit?’ Hat es einen Erinnerungswert? Die Kleider von Mutter würde sie doch nicht tragen. Vielleicht wichtige Papiere? Louisa fiel ein, dass sie nichts, rein gar nichts über den Hintergrund des Fluges ihrer Eltern wusste. Vielleicht gab es im Gepäck etwas, das ihr Aufschluss darüber geben konnte. Vielleicht.

    „Können Sie das Gepäck wieder nach Hamburg fliegen und in die Wohnung meiner Eltern bringen lassen? Ich habe keine Ahnung, wie ich es jetzt von Ihrer Ausgabestelle oder was Sie da betreiben, wegtragen soll."

    „Selbstverständlich. Kein Problem. Das ist doch das Geringste, was wir für Sie tun können."

    Tatsächlich. Ihre Kraft kehrte zurück. Ein bisschen war es so, als sei es nicht ganz ihre eigene, aber was machte das. Es war so nötig. Louisa hob die Schultern und streckte die Beine. Sie atmete tief ein und wieder aus.

    „Gibt es schon Neues über die Ursache? Warum die Maschine plötzlich abstürzte? Alles, an das ich mich erinnern kann, war, dass eine Explosion stattfand. Man war sich nicht sicher, ob es ein technischer Defekt oder eine Bombe gewesen ist."

    „Zurzeit geht man verstärkt von der Möglichkeit aus, dass eine Bombe explodiert ist. Das wäre natürlich fatal." Der Mann blickte kurz in den Rückspiegel, erstarrte für einen Moment, was die Falten seines Gesichts wie auf einem Foto schärfer erscheinen ließ, dann entspannte er sich wieder.

    „Aber es gibt kein Bekennerschreiben oder sonst etwas. Nun befindet sich eine Bombe auch meist im Gepäck oder in anderer Zuladung, also im Laderaum. Die Explosion fand jedoch an anderer Stelle statt, soviel wissen wir bereits. Und dort ist kein Laderaum. Dort sind nur Tanks. Eine Bombe müsste dann von jemandem platziert werden, der die Maschine wartet, oder sonst wie zum Personal gehört. Das ist relativ unwahrscheinlich. Aber warum sollte ein Tank explodieren, einfach so?"

    „Vielleicht weil Benzin eben auch mal explodieren kann?" Louisa zuckte die Schultern. Es erschreckte sie, wie durch die Banalität der Worte das Ereignis zu einer Zeitungsmeldung verkam. Und dass sie dieses unwürdige Spiel mitspielte.

    Gleichzeitig wusste sie, dass das nicht alles war. Es schien ihr plötzlich, dass die Ursache des Absturzes für sie von enormer Wichtigkeit war. Bombe oder technischer Fehler, hallte es in ihr nach. Lisa spürte einen kalten Schatten. Da war eine dritte Möglichkeit, ganz kurz, ganz unscharf, wie von weit her.

    „Vielleicht ist die Maschine auch abgeschossen worden?"

    Der Mann blickte kurz herüber und seine Gesichtsmuskeln entzogen sich für einen Moment seiner Kontrolle. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße.

    „Ich bitte Sie, wer soll denn das tun, so nahe bei New York, schon in der Dreimeilenzone? Da gibt es die Küstenwache und die NAVY, das geht nicht so einfach. Dazu braucht man schon ein größeres Schiff, und das bleibt nicht unbemerkt. Wer sollte das tun können? Und dass wir unsere Flugzeuge selbst abschießen, wird uns hoffentlich keiner unterstellen."

    ‚Warum sagt er das?’, fragte sich Louisa und wollte zufassen. Aber die Information verschwand blitzschnell wie eine Kakerlake in der Dielenspalte.

    „Ich würde doch gern einen Blick auf das Gepäck meiner Eltern werfen, sagte Lisa, einem plötzlichen Impuls folgend. „Vielleicht enthält es Wertgegenstände. Und vielleicht geht es auf der Rückreise verloren. Man weiß ja nie.

    „Wie Sie wünschen. Gern. Ich wünschte, ich könnte mehr für Sie tun."

    ‚Er meint das tatsächlich’, dachte Lisa überrascht, unter der Kruste der Verordnungen, Durchführungsbestimmungen und Direktiven meint er es ehrlich. Er bedauert die Umstände. Er bedauert, dass er diesen Job machen muss.

    Louisa bemerkte, wie der Mann sie plötzlich scharf ansah. Hastig und verwirrt zog sich Lisa zurück, selbst erstaunt über die Vorgänge.

    Der Wagen hielt vor einer Stahlglasfront. Louisa legte den Kopf in den Nacken. Das spiegelnde Schachbrett der Fassade verschwand irgendwo in der weißdurchwebten Bläue des frühen Nachmittags. ‚Sie kratzen tatsächlich an den Wolken’, dachte sie in kindlicher Überraschung.

    „Wir müssen ein wenig laufen, sagte der Mann entschuldigend, als sie die Eingangssektion der Drehtür betraten. „Die Sondernutzungsräume sind etwas abgelegen.

    Sie verließen die Drehtür und er dirigierte sie in einen nach rechts führenden Gang. Louisa warf einen Blick zurück in die Eingangshalle. Die kühle, selbstherrliche Innenarchitektur lächelte überheblich zurück. Louisa schauderte und rieb sich den Nacken. ‚Warum kribbelt es dort immer?’, dachte sie. Eine Nervenstörung? Dann bemerkte sie die beiden Männer, die an etwas, das eine Rezeption sein konnte, standen und nicht herüberblickten. Lisa versuchte plötzlich, sich so klein wie möglich zu machen. Fast ein wenig hastig drängte sie sich durch die Glastür, die sich vor ihnen viel zu zögerlich öffnete.

    ‚Sie suchen dich’, dachte Lisa.

    ‚Quatsch’, meinte Lou, ‚was soll das, weshalb denn?’

    Sie mussten tatsächlich eine Weile laufen. Eine halbe Treppe, ein Fahrstuhl, plötzlich wurde der Baustil anders. Das Gebäude, in dem sie sich jetzt befanden, wirkte erheblich älter als die Glasfassade, durch die sie eingetreten waren.

    ‚Sie haben einen Neubau an die Front gesetzt’, dachte Louisa, ‚und manchmal bleibt hinten der alte Bau stehen. Jeder sein eigener Potemkin.’

    Auch die Beleuchtung änderte sich. War es die etwas altmodische Bauweise der Leuchtstoffröhren oder ihre korrekte Ausrichtung in der Mitte der Decke, das diesen langen Flur so abweisend zweckbestimmt machte?

    Louisa fühlte sich mit der Hilflosigkeit einer Karteikarte durch den Gang geschoben.

    „Hier ist es, einen Moment bitte." Ihr grauhaariger Begleiter tippte eine Zahlenkombination in ein Tastenfeld. Erst jetzt bemerkte sie, dass es einige technische Aufrüstungen in diesem Altbau gegeben hatte.

    Die Tür öffnete sich automatisch und sie traten ein. Die hohen, sonst kahlen Räume waren mit Regalen zugestellt. Einige schienen eilig zusätzlich montiert zu sein, gerade soviel Platz lassend, dass Menschen mit dem Inhalt der Regale hindurch konnten. Aber diese überbordende Fülle an Koffern, Taschen und anderen Fracht- und Gepäckstücken stand überall hervor. Louisa gelang es nicht, ihren Metallecken und Ledersäumen auszuweichen, als sie sich durch mehrere Räume hindurch kämpften. Es war, als griffen all diese Dinge nach ihr.

    „Das Büro ist an der anderen Seite des Lagers, sagte ihr Begleiter, und es klang wie echtes Bedauern. „ Wir hätten sonst außen um den ganzen Komplex herumgehen müssen.

    Louisa nickte und stieß in diesem Moment an einen weit herausragenden Schrankkoffer, ein wirkliches Ungetüm. Im Moment der Berührung zuckte Lisa zusammen. ‚Die Kinder! Mein Gott, es waren drei Kinder gewesen.’ Sie sah all die kleinen Hosen und Hemden und Kleider und Blusen in dem Koffer, die Söckchen und Sandalen, deren Eigentümer vielleicht nie aus ihrem stählernen Sarg geborgen werden würden. Ein blondes Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, und zwei Jungen, nur wenige Jahre älter. Sie hatten fröhlich herumgealbert, als es passierte. „Gleich landen wir!" Lisa hörte den Knall, roch Kerosin und verbranntes Plastik und fühlte den entsetzlichen Schlag. Die Dunkelheit, die Schreie, dann die Stille! Der Boden senkte sich vor ihr. Louisa stolperte. Fast ging ihre neue, brüchige Selbstbeherrschung verloren. Der Mann fasste sie mit einem schnellen Griff am Arm und hinter der nächsten Ecke lag glücklicherweise das Büro.

    Als wäre sie schon angemeldet, standen an der einzigen freien Wand die Koffer, die sie so gut kannte. Wieder sprangen sie Einzelheiten an, Louisa kämpfte. Lisa verkroch sich in ihren hintersten Winkel, während Lou den Koffer ihrer Mutter öffnete. Alle diese bekannten Sachen! Zu jedem Kleidungsstück fiel ihr ein Anlass ein, zu dem Mutter es getragen hatte. Louisa zog ihre Hand aus der Wäsche zurück und klappte den Koffer zu. Wonach suchte sie eigentlich?

    Vaters Koffer. Das komplizierte Systemschloss, das er ihr einmal erklärt hatte, als sie sich das teure Stück ausleihen musste. Der Mann mit den grauen Haaren und den grauen Augen sah ihr ruhig zu, wie sie mit unsicheren Fingern, aber trotzdem geübt, den Deckel öffnete.

    Der Ordner lag obenauf. Es war eine dicke Mappe voller Schriftstücke, Dokumente, Abhandlungen, Zeichnungen, Listen und Tabellen. Louisa hatte keine Ahnung, worum es inhaltlich ging, aber Lisa war sicher, dass sie gefunden hatte, was sie suchte. Sie schloss den Koffer und klemmte die Mappe unter den Arm.

    „Would you please sign here, on this line?"

    Louisa schrak auf und nahm erst jetzt den korrekt gekleideten Mann hinter dem niedrigen Tresen wahr, der ihr ein Formular entgegenhielt. Wenige Minuten später stand sie wieder auf der Straße.

    2 DURCH DIE LANDSCHAFT

    Sie fiel rückwärts, der Länge nach, auf die Couch, die mitten im Zimmer stand und starrte an die Decke. Hier sollte längst dieser wunderbare Leuchter hängen, dachte Louisa, und nicht diese nackte Glühlampe, die leicht schwankte und mit ihrem Kabel bizarre Schattenkrakel auf die untapezierte Wand warf. Sie hatte keine Lust, ihren Koffer auszupacken. Neben den Möbeln, die zum Renovieren des Zimmers in die Mitte gerückt worden waren, fiel er überhaupt nicht auf. Louisa registrierte die Kongruenz ihres Innern mit dem Zustand ihrer Wohnung.

    Sie seufzte, griff nach einer Decke und hüllte sich, eigentlich eine ganz andere Wärme suchend, bis zum Hals ein.

    Nach einer unruhigen, knappen Stunde befand sie, doch nicht schlafen zu können, stand auf und stieß in der Küche auf eine fast leere Tüte Kaffee. Während sich das heiße Wasser zischend und blubbernd in den Filter ergoss, versuchte sie den Ausgangspunkt ihrer Unruhe zu ergründen. Es war auf jeden Fall nicht der Zustand ihrer Wohnung. Der war zwar ärgerlich, aber nicht beunruhigend.

    Louisa zog Kreise mit ihren Blicken. Der Gasherd? Nein, alles in Ordnung. Die offene Tür zum dunklen zweiten Zimmer? Blödsinn, da war nichts. Ihr Koffer? Nein, nicht genau…

    ‚Die Handtasche!’ Lisa war sich plötzlich sehr sicher.

    Näher heran: die Tasche ihres Handgepäcks aus dem Flugzeug. Sie ging mit schnellen Schritten hinüber und zerrte den Reißverschluss auf. Die Papiere! Die Ordner, die sie dem Koffer ihres Vaters entnommen hatte. Sie fühlten sich anders an als ihre Umgebung. Bisher hatte sie keinen Blick darauf geworfen, doch jetzt drängten sich die vielen, dicht beschriebenen Blätter förmlich in ihre Hand. Neugierig, aber sehr vorsichtig, klappte sie sie auf.

    Während des Rückfluges hatte sie meist nur stumpf vor sich hingestarrt, obwohl, das musste sie zugeben, Business Class schon etwas angenehmer war, als mitten in einer engen achtsitzigen Reihe ständig mit dem knapp bemessenen Stellplatz für Füße und Ellenbogen zu kämpfen. Natürlich gab es hier auch Leute, die einen anquatschten, und sie konnte sich undeutlich an bemühte Konversationsfragmente erinnern. Ansonsten hatte sie jedoch ihre geschlossene Tasche umkrampft und ein „Sprecht mich bloß nicht an!" – Gesicht gemacht.

    Erster Ordner. Die Blätter waren irgendwie warm, befand Lisa. „Praktische Anwendung von

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