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Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity: Kriminalroman
Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity: Kriminalroman
Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity: Kriminalroman
eBook317 Seiten4 Stunden

Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity: Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Hauptkommissarin Frederica Moll und ihr Kollege Christian Lauterbach stehen vor einem Problem: Sie müssen eine Cold Case Unit aufbauen und wühlen sich seit Wochen erfolglos durch alte Fälle. Bis ihnen ihr Chef den Fall einer nicht identifizierten Leiche überträgt. Die junge Frau wurde vor sieben Jahren in einer Baugrube in der Hamburger HafenCity gefunden. Doch wenn sie damals niemand vermisst hat, wie sollen sie heute neue Spuren finden? Erst als Frederica alternative Ermittlungsansätze ins Spiel bringt, wendet sich das Blatt. Mit einem schockierenden Ergebnis …
SpracheDeutsch
HerausgeberGMEINER
Erscheinungsdatum12. Apr. 2023
ISBN9783839274569
Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity: Kriminalroman

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    Buchvorschau

    Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity - Isabel Bernsmann

    Zum Buch

    Tödliches Vergessen Hauptkommissarin Frederica Moll und ihr Partner Christian Lauterbach stehen vor einem Problem: Sie müssen die erste Cold Case Unit für Hamburg aufbauen und wühlen sich zusammen mit ihrer Rechercheurin Tanja Buchholz bereits seit Wochen durch die alten Fälle der Hansestadt – bislang erfolglos. Daran ändert sich auch nichts, als ihr Chef ihnen den ungeklärten Todesfall einer jungen, unbekannten Frau überträgt. Die bis heute nicht identifizierte Leiche wurde vor sieben Jahren in einer Baugrube im neu errichteten Hamburger Stadtteil HafenCity gefunden. Doch wenn die Frau damals niemand vermisst hat, wie sollen Frederica und Christian heute ihre Identität klären, geschweige denn ihren Mörder finden? Erst als die unkonventionelle Frederica alternative Ermittlungsansätze ins Spiel bringt, wendet sich das Blatt. Mit einem schockierenden Ergebnis …

    Isabel Bernsmann wurde 1967 als Kind einer wortkargen Norddeutschen und eines redseligen Rheinländers geboren und wuchs in den USA, Belgien und halb Deutschland auf. Nach ihrem Studium der Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte entschied sie sich für eine berufliche Zukunft in den Medien und zog in ihre Wahlheimat Hamburg. Mittlerweile arbeitet sie in Berlin in der Fernsehbranche. Gelegentlich aufkeimende Mordgelüste und Heimweh kompensiert sie durch das Schreiben von Hamburg-Krimis. »Kommissarin Moll und die Tote aus der HafenCity« ist ihr dritter Kriminalroman um die Hamburger Kommissare Moll und Lauterbach.

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Immer informiert

    Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

    regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

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    Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Susanne Tachlinski

    Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von: © Moritz Ludtke / unsplash

    ISBN 978-3-8392-7456-9

    Vor 12 Jahren

    Die junge Frau trank gierig die kalte Cola, doch der gewünschte Effekt blieb aus. Ihr Durst wollte nicht verschwinden.

    Wie das flaue Gefühl im Magen.

    Sie stieß durch die Kohlensäure einen ätzenden Geschmack auf und hielt sich den Bauch. Auf dem Bahnhofsvorplatz blieb sie stehen und strich ihren feuchten Pony aus der Stirn. Diese Hitze hatte sie nicht erwartet. Sie kam vom Meer, Hamburg lag am Meer, fast wenigstens, und sie war davon ausgegangen, dass ähnliche Temperaturen wie zu Hause herrschten. Doch hier mussten an die 30 Grad sein. Die gefütterte Jacke und ihren Pullover hatte sie bereits ausgezogen und über den Griff ihres Rollkoffers gehängt. Sie hätte gerne ihre Jeans gegen einen Rock getauscht, doch das schmale Gepäck enthielt alles, was sie besaß, und eine Sommergarderobe gehörte nicht dazu. Vielleicht wäre ihr wenigstens nicht so schlecht, wenn sie etwas im EC hätte essen können. Da war sie bereits seit 20 Stunden auf den Beinen gewesen und hatte nach ihrem Frühstück nichts mehr zu sich genommen, um Geld zu sparen. Was eine dumme Idee gewesen war. Das Abteil mit dem Bordrestaurant war geschlossen gewesen und sie hatte das Schild, das an der Schiebetür klebte, mit ihren wenigen Deutschkenntnissen nicht entziffern können. Ihr Russisch war ganz passabel, nur sprach das hier niemand. Mit ein paar englischen Brocken hatte sie dann von einem anderen Fahrgast erfahren, dass sie auf der langen Reise im Zug nichts zu essen und zu trinken kaufen konnte.

    Fast wäre sie wieder umgekehrt, wenn das in einem Zug so einfach möglich gewesen wäre. Doch sie dachte an ihren Plan. Sie hatte ein Ziel, sie hatte lange dafür gespart und sie würde es schaffen.

    Als ihr einfiel, dass die Deutschen auch Pfand erhoben, zog sie die kleine Plastikflasche wieder aus dem Müll und legte sie, einen Kiosk weiter, stumm auf den Tresen. Der Verkäufer nickte und holte ihr eine volle Flasche aus dem Kühlschrank.

    »Sonst noch was?« Er zeigte auf die Regale hinter sich.

    Sah man ihr an, dass sie ihn nicht verstand? Wieder wortlos schüttelte sie den Kopf und bezahlte.

    Mit der zuckrigen Limonade im Blut schwamm wenigstens ihr Kopf nicht mehr. Auf ihrem Handy googelte sie die Adresse und machte sich auf, Richtung Elbe.

    Die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ging einfacher als gedacht. Bereits nach einer guten halben Stunde stand sie vor dem gesuchten Gebäude.

    Sie sah in den wolkenlosen Himmel und strahlte mit dem Feuerball um die Wette. Sie hatte es geschafft. Sie war hier.

    Schützend legte sie ihre Handfläche über ihre Augen und beschloss, die Hitze gut zu finden und die heißen Sonnenstrahlen zu genießen.

    Als würde sie ahnen, dass sie auf dem Weg in die Dunkelheit war.

    Kapitel 1

    Hauptkommissar Christian Lauterbach sah sich stirnrunzelnd um. Vor drei Monaten hatte man ihnen die neuen Räume im dritten Stock zugewiesen. Er hatte sie von Anfang an nicht gemocht. Jetzt fand er sie scheußlich. Dabei konnte er seine destruktive Gemütslage an nichts Besonderem festmachen. Alles sah so aus wie früher. Sie waren nur einen Stock tiefer gezogen, in dem genau dasselbe abgenutzte tiefgrüne Linoleum lag, sie hatten ihr Mobiliar mitgenommen und selbst die Büroaufteilung war geblieben. Frederica und er arbeiteten gegenüber Tisch an Tisch. Der Arbeitsplatz ihrer Rechercheurin Tanja Buchholz stand schräg zu den ihren in dem Großraumbüro ein Stück entfernt. Alles sah genauso aus wie ihr ehemaliger Arbeitsbereich in der Mordkommission. Trotzdem war alles anders. Verändert. Er hasste Veränderungen. Sie brachten Unsicherheit und Chaos. Sie gaben ihm das Gefühl »zur richtigen Zeit am falschen Ort« zu sein.

    Er zog seine Lederjacke aus, die er seit 20 Jahren bei Wind und Wetter trug, warf sie auf seinen Schreibtisch, ging zum Fenster und blickte auf die Straße. Das Kommissariat spiegelte sich wellenförmig in den Fenstern der gegenüberliegenden Gebäude, als würde es sich langsam in Luft auflösen.

    Wie seine Karriere.

    Das Polizeikommissariat 17 in der Sedanstraße, im Hamburger Stadtteil Rotherbaum, war seit vielen Jahren sein Zuhause. Er mochte das seltsam anmutende vierstöckige Bauwerk, das aussah, als hätte ein Fünfjähriger sich zum ersten Mal an Tetris versucht. Die Straße war schmal und ruhig und hatte bis auf das Kommissariat und ein paar Nebengebäude der Uni nichts zu bieten. Er dachte wieder an ihr altes Büro ein Stockwerk höher, als er noch Abteilungsleiter bei der Mordkommission gewesen war. Er hatte es geliebt und wäre gerne mit ihm in Würde gealtert.

    Vorbei das Kapitel. Er fuhr sich durch seine blonde Kurzhaarfrisur. Wenigstens sein volles Haar hatte er trotz seiner 46 Jahre behalten. Ein schwacher Trost. Sein bulliges Kreuz verzerrte die Karos seines Hemdmusters zu Rhomben. Wollte er wirklich weiter mit Frederica zusammenarbeiten? Mit ihr gemeinsam die neue Cold Case Unit aufbauen? Hatte sie ihn nicht durch ihre Alleingänge und Aktionen, die sie abseits jeglichen Protokolls durchführte, mehrfach in Lebensgefahr gebracht? Ja, am Ende des Tages hatten sie immer Erfolg gehabt und die Fälle gelöst. Aber zu welchem Preis? Hatte sie ihn nicht quasi gezwungen, seinen heiß geliebten Job zu wechseln? Dabei war Frau Dr. Frederica Moll noch nicht einmal eine richtige Polizistin. Jedenfalls in seinen Augen nicht. Man kam nicht aus reichem Hause, wurde Psychoanalytikerin und ging dann mit Mitte 30 in den Polizeidienst. Wie sollte jemand, der nie die volle Härte des Daseins zu spüren bekam, sein letztes Hemd geben, um die Straßen von Verbrechern frei zu halten?

    Ein leises Surren, gefolgt von hellem Klackern auf Linoleum, rissen ihn aus seinen Gedanken. Er sah weiter aus dem Fenster. »Moin, ihr beiden.« Er wischte sich schnell über die Augen. Erst dann drehte er sich um.

    »Moin, du alleine.« Tanja Buchholz fuhr ihren Rollstuhl hinter ihren Schreibtisch. Alfred setzte sich dicht vor Christian und legte sein sabberndes Kinn an seinen Bauch.

    »Oha, in letzter Zeit zu wenig Sport gemacht? Vor ein paar Wochen wäre Alfred noch abgerutscht«, grinste Tanja hinter ihrem Monitor hervor. Für einen Septembermorgen war es viel zu dunkel, ein häufiges Phänomen in dem zumeist wolkenverhangenen Hamburg, und ihr Gesicht wirkte in dem bläulich-fahlen Licht wie falsch geschminkt. Das konnte aber auch an der Farbe ihrer Perücke liegen, die sie kurz an der Stirn anhob und einen Millimeter nach rechts rückte.

    Christians Tochter Rieke würde das Neongrün des kinnlangen Bobs gefallen. Aber Rieke war auch erst fünf. Blinzelnd schob er die schwarze Dänische Dogge beiseite, die sich zufrieden in ihr riesiges Hundebett legte. Sofort füllte Alfreds sonores Schnarchen den Raum. »Wo findest du die Teile bloß immer und vor allem warum?«

    Tanja tat nicht so, als würde sie ihn nicht verstehen, und zuckte mit den Schultern. »Irgendwie muss man ja auffallen und auf Tattoos stehe ich nicht. Außerdem erspare ich mir so das häufige Haarewaschen.«

    Christian, der für alle Körperstellen dasselbe Duschgel aus dem Supermarkt benutzte, war mit Tanjas Antwort überfordert. An einem anderen Tag hätte er sich vielleicht gefragt, ob sie wegen ihrer Behinderung Probleme bei der Körperpflege hatte, aber heute war nicht dieser Tag. Stattdessen sah er nervös auf seine Uhr. »Wo bleibt Frederica? Um neun haben wir einen Termin beim Wolf und es ist schon zehn vor.«

    Alle drei sahen zur Tür, als schnelle Schritte den Flur entlang kamen. Es war kein klackerndes Geräusch, wie man es von High Heels oder Stiefeln mit hohen Absätzen kennt, sondern glich dem Takt einer klassischen Melodie. Vertraut, aber der Titel blieb unbekannt.

    Die Schritte verstummten vor der Tür und ein Papptablett, beladen mit drei großen Haselnusskaffees von Balzac und einer Tüte Hundekekse, schwebte in den Raum. Daran hing eine zierliche, nur 1,60 Meter große Frau, die fast vollständig hinter der Kaffeelieferung zu verschwinden schien.

    Frederica stellte das Tablett auf ihrem Schreibtisch ab. Trotz des mulschigen Wetters trug sie ein hellgraues Hemdblusenkleid und dunkelblaue Sneakers aus Wildleder ohne Strümpfe. Ihre langen dunklen Haare hatte sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden. Doch auffälliger als ihr smartes Erscheinungsbild waren ihre Augen. Unsichere Menschen sahen Kritik in ihrem Blick und wichen ihm schnell aus. Menschen, die wenig reflektierten, plusterten sich auf und erklärten sich. Nur diejenigen, die mit sich im Reinen waren, erkannten darin ihren leisen Humor und ihre unbedingte Menschenfreundlichkeit, die gar nicht so tief in Frederica verborgen lagen. Doch von diesen Menschen gab es nicht viele. Die meisten hätten ihren Blick als grau beschrieben, grau und statuenhaft.

    Jetzt blitzte er durch das Großraumbüro: »Entschuldigt die Verspätung, bei Balzac war die Hölle los. Bei euch alles gut?« Sie schob Alfred aus dem Weg, der sich vor ihr aufrichtete und gefährlich nah an ihrer Nasenspitze hing, um die erschnüffelten Kekse einzufordern, und verteilte den Kaffee.

    »Moin, Frederica«, grummelte Christian, während er sich den Gaumen verbrühte, »wir müssen zum Wolf.«

    »Ich weiß. Hoffentlich hat er einen Fall für uns, bei dem wir nicht sofort wieder die Akte schließen müssen.«

    Tanja gab ihr recht: »Wäre schön, wenn wir endlich loslegen könnten. In alten Fällen rumzuwühlen und immer wieder feststellen zu müssen, dass wir keinen neuen Ermittlungsansatz finden, ist frustrierend.« Sie rückte ihre Perücke erneut gerade. »Wenigstens müssen wir keine staubigen Akten durchforsten, sondern können auf digitalisierte Unterlagen zurückgreifen – zumindest in den jüngeren Fällen.«

    Frederica gab Alfred ein paar Kekse, der sich damit zufrieden wieder in sein Bett verzog. »Vielleicht war meine Idee doch nicht gut, uns erst die jüngeren offenen Mordfälle vorzunehmen.«

    Christian winkte ab: »Die Idee war schon richtig. Ich habe mir auch mehr davon versprochen, wenn wir digitale Spuren wie Handydaten oder Internetprotokolle auswerten können. Die Fälle, bei denen die Chance bestand, die sichergestellten Spuren mit modernen forensischen Methoden noch einmal zu untersuchen und vielleicht den Täter zu finden, waren bereits vor der Gründung unserer Unit wieder aufgenommen worden. Bleiben uns also quasi nur die jüngeren Fälle. Die Cold Cases sind schwierig, weil die damaligen Kollegen keine Beziehungstaten nachweisen konnten. Ihr wisst so gut wie ich, dass wenn wir weder ein Familienmitglied noch jemanden aus dem Bekanntenkreis des Opfers mit einem Motiv und einem Tathergang verbinden können, es so gut wie unmöglich ist, den Täter zu finden. Wir können nur hoffen, dass die Kollegen etwas übersehen haben. Eine Spur, einen Zeugen.« Er trank seinen Kaffee aus. »Auch wenn es mir nicht schmeckt, Kollegen ihre Ermittlungsfehler aufs Brötchen zu schmieren.«

    »Wir machen alle Fehler.« Tanja nahm Alfred die restlichen Kekse weg und warf sie auf ihren Schreibtisch, der keine Hürde für eine ausgewachsene Dogge darstellte. »Darum geht es nicht. Die Kriminaltechnik hat sich allein in den letzten fünf Jahren so weiterentwickelt, dass wir durchaus neue Ermittlungsansätze bei den jüngeren Fällen finden können. Neue Spuren, neue Zeugenaussagen, Fortschritte eben in der Kriminaltechnik und der Gerichtsmedizin. Nicht zu vergessen die neuen Methoden bei der Fallanalyse. Wir können die Fälle aufrollen, ohne die ehemaligen Ermittler an den Pranger stellen zu müssen. Ich bin definitiv für die jüngeren Cold Cases. Wer will sich schon durch Hunderte Papierseiten wühlen und alte Beweisstücke aus der Asservatenkammer holen, an denen doch nichts zu finden ist.«

    »Christian hat es schon gesagt. Als die DNS-Analyse so weit war, sind alle alten Mordfälle mit noch brauchbaren Beweisstücken bereits untersucht worden«, meinte Frederica. »Wir können uns nur vorrangig um die Fälle kümmern, für die keine verwertbaren Beweisstücke vorliegen. Und um Erfolg zu haben, müssen wir hier anders denken. Kreativ werden. Notfalls – oder eher wahrscheinlich – müssen wir uns darauf einstellen, den Aktenseiten neues Leben einzuhauchen.«

    »Dann gehen wir mal dem Wolf neues Leben einhauchen.« Christian nahm seine Lederjacke vom Schreibtisch, warf sie über die Lehne seines Bürostuhls und machte in Fredericas Richtung eine einladende Handbewegung. »Wenn ich bitten darf?«

    *

    »Moin, Maureen, siehst ja heute richtig gut aus«, grinste Christian die Assistentin seines Chefs an.

    Maureen Thalbach sah von ihrem Laptop hoch. Christians Bemerkung prallte an ihr ab wie ein Medizinball an der Turnhallenwand. »Pink macht Urlaub, also kein Grund zur Freude.« Ihre Verehrung für die Popsängerin war nicht nur allgemein bekannt, sondern auch regelmäßig Gesprächsstoff unter den Kollegen, da sie sich wie ihr Idol zu stylen pflegte. Maureen störte das wenig, ebenso wie ihren Chef Thomas Wolf, was wiederum ebenfalls regelmäßig für Verwunderung sorgte, wenn Maureen in hautengen Leggings und frischem Undercut, pink gefärbt, zur Arbeit erschien. Heute war sie jedoch beinahe adrett gekleidet und trug ihre Haare in ihrer eigenen brünetten Farbe frisch geföhnt zur Seite. »Ihr seid spät dran. Moin, Frederica, geht gleich durch, in einer halben Stunde hat er schon den nächsten Termin.«

    »Steht etwas Wichtiges an?« Christian blieb gerne auf dem Laufenden. »Irgendein hoher Besuch?«

    Maureen blickte wieder auf ihren Laptop. »Gut, dass du deine speckige Lederjacke im Büro gelassen hast. Und nu macht hinne. Die Arbeit wartet nicht.«

    Künstliches Vanillearoma holte zur Attacke aus und fegte durch Thomas Wolfs Büro. Frederica unterdrückte ihren Hustenreiz, setzte sich vor den Schreibtisch und zog ihr Kleid glatt. Ihr Dezernatsleiter hatte kürzlich, mit Anfang 60, mit dem Rauchen aufgehört und war auf E-Zigaretten umgestiegen. Anders als bei herkömmlichen Tabakwaren warnte kein blassdunkler Qualm die Augen und das Gehirn vor dem kommenden Angriff, dem der Geruchssinn hilflos ausgeliefert war.

    Eine perfekte Überrumpelungstaktik, musste Frederica beinahe anerkennend zugeben. Auch wenn das süßliche Vanillearoma nicht zu Wolfs patriarchalischer Art der alten Schule passen wollte. Frederica sah zu ihrem Chef, der wie immer korrekt gekleidet im Anzug mit Seidenkrawatte hinter seinem großen Eichentisch saß und sie, auch wie immer, missbilligend musterte.

    »Frau Dr. Moll, Herr Lauterbach …«, anders als im Polizeidienst üblich, siezte er seine Mitarbeiter, »… wir haben ein Problem. Unsere Cold Case Unit besteht bereits seit über drei Monaten und wir haben noch keinen Erfolg vorzuweisen. Der Innensenator erwartet Ergebnisse.« Er zog an seiner E-Zigarette und verdampfte Vanillearoma in ihre Richtung. »Ich erwarte Ergebnisse. Seitdem die Presse davon Wind bekommen hat, dass wir alte Fälle aufrollen, steht mein Telefon nicht mehr still. Jeder Hinz und Kunz will wissen, welchen Fall wir zuerst bearbeiten und wann wir den Mörder hinter Gitter bringen.« Er warf die E-Zigarette auf den Tisch. »Ich habe das Gefühl, als gäbe es nur noch Ihre Abteilung.«

    Die Nachricht, dass die Hamburger Polizei eine Cold Case Unit aufbaute, war eingeschlagen wie eine Bombe. Die Zentrale wurde seitdem von Anfragen von Hinterbliebenen überhäuft, die Morde an ihren Partnern, Verwandten oder Freunden endlich aufgeklärt wissen wollten. »Nichts ist schlimmer als die Ungewissheit. Die Menschen müssen erfahren, was mit ihren Angehörigen passiert ist«, meinte Frederica, »das müssen wir respektieren.«

    Und nichts ist respektloser als die Untätigkeit, sagte sich Christian. »Wir können nicht mehr tun, als uns durch die alten Fälle zu wühlen. Außerdem finde ich drei Monate jetzt echt nicht lang«, erwiderte er etwas kleinlaut. »Unsere Kollegen haben damals weder geschlampt oder Spuren fehlinterpretiert noch können wir mal eben auf die Schnelle neue Ermittlungsansätze aus dem Hut zaubern.«

    »Was möchte Henning Marquardt denn genau?« Frederica lehnte sich zurück und schlug die Beine übereinander. »Dass wir mit dem SEK Türen eintreten, bevor wir konkrete Beweise vorliegen haben, wird wohl kaum in seinem Sinne sein?«

    Henning Marquardt war Senator der Behörde für Inneres und Sport und damit ihr Vorgesetzter. Sicherheit, Ordnung und Sport waren eine kuriose Mischung, begleitet von der Tatsache, dass die Senatoren in Hamburg »Präses« genannt wurden. Was Thomas Wolf momentan herzlich egal war. »Wie immer scharf analysiert, Frau Dr. Moll. Herr Marquardt hat in der Tat ein spezielles Anliegen.« Er warf eine sehr dünne Akte in ihre generelle Richtung. Christian zuckte zur Seite. »Keine Sorge, Herr Lauterbach, das ist nur eine Zusammenfassung. Die Details kann Ihnen Frau Buchholz aus den digitalen Akten holen.«

    Frederica nahm sich die Akte und überflog das einzelne Blatt Papier, das etwas verloren darin lag. »Eine unidentifizierte Frauenleiche in der HafenCity. Sie wurde vor Fertigstellung des Bauabschnitts gefunden?«

    Wolf nickte. »Im Quartier Brooktorkai, Bauabschnitt 2 und 8, wenn ich mich nicht irre. Dort wurden wegen der zu erwartenden starken Verkehrslärmbelästigung hauptsächlich Bürotürme hochgezogen, fast keine Wohnungen. Wenn die Bauarbeiter nicht aufgrund einer Nachbesserung wiedergekommen wären, hätte man die Leiche nicht mehr entdeckt und sie läge immer noch im Fundament.«

    Christian beugte sich zu Frederica über das Blatt. »Woran ist sie gestorben?«

    »Genickbruch«, antwortete Wolf.

    »Und sonst nichts weiter?«

    Wolf saugte an seiner Vanillestange. »Ein paar Abschürfungen und Prellungen kurz vor oder nach ihrem Tod. Jedenfalls nichts, was ein Fall in eine acht Meter tiefe Baugrube nicht erklären könnte.«

    »Hat sie lange dort gelegen?«

    »Nein«, sagte Frederica und las den letzten Satz, »sie soll kurz vorher hineingelegt worden sein.«

    »Eher hineingeworfen«, meinte Thomas Wolf nüchtern. Derjenige, der sie dort auf Nimmerwiedersehen verschwinden lassen wollte, hatte die richtige Idee.«

    »Ein Unfall wurde ausgeschlossen?« Frederica legte die Akte zurück auf den Tisch. »Sie kann nicht im Dunkeln hineingefallen sein und sich das Genick gebrochen haben?«

    »Ob ein Unfall grundsätzlich ausgeschlossen wurde, kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist Ihr Job. Gefunden wurde sie vor fast sieben Jahren im Januar. Wir hatten damals wochenlang um die minus zehn Grad. Der Körper war steif gefroren, als die Bauarbeiter sie fanden. Und die waren seit zwei Wochen aufgrund des hart gefrorenen Bodens nicht mehr vor Ort gewesen.« Er lächelte Frederica an. »Aber um Ihre Frage nach einem unglücklichen Fall in eine Baugrube zu beantworten, Frau Dr. Moll: Die Tote war nur mit einem T-Shirt und Shorts bekleidet.«

    Frederica lächelte nicht zurück. »Also unwahrscheinlich, dass sie durch einen Unfall gestorben ist.« Sie tippte auf die Akte. »Warum möchte Herr Marquardt, dass wir diesen Fall vorrangig behandeln? Gibt es neue Entwicklungen?«

    »Nein.« Ihr Dezernatsleiter zupfte seine Krawatte zurecht. »Die Eigentümer des Bürogebäudes haben von unserer neuen Abteilung gehört und der Polizeistiftung eine substanzielle Summe gespendet, damit wir uns der Sache annehmen.«

    »Wenn der Präses seine Finger im Spiel hat, sicherlich noch etwas mehr.« Christian versuchte, dem süßlichen Geruch auszuweichen, der wie von Geisterhand in seine Richtung wehte. »Gesponserte Mordfälle kommen jetzt in Mode?«

    »Das habe ich überhört. Ich bitte Sie darum, die Identität der Frau festzustellen, damit sie endlich von ihren Angehörigen in Würde beerdigt werden kann. Das ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Außerdem ist es doch die Aufgabe Ihrer Abteilung, alte Fälle aufzuklären?« Thomas Wolf sah zur Tür, als wäre das Gespräch beendet. Ihm schien noch etwas einzufallen, doch Frederica vermutete, dass er diesen leicht erstaunten Gesichtsausdruck, den er ihnen nun präsentierte, vor dem Spiegel geübt hatte. »Haben Sie sich mittlerweile auf eine Leitung geeinigt?«

    Frederica und Christian sahen sich nicht an. Wolf hatte mehrfach deutlich gemacht, dass Christian als Fredericas ehemaliger Vorgesetzter in der Mordkommission versagt hatte. Beide wollten das Thema auf sich beruhen lassen.

    Frederica fixierte ihren Chef zum ersten Mal an diesem Tag. Der Dezernatsleiter senkte den Kopf und zupfte wieder an seiner Krawatte. Fredericas kühler, grauer Blick, der alles sah und nichts kommentierte, schien in ihm Kurzatmigkeit auszulösen. Frederica ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Sie sollte die CCU leiten, das war ursprünglich der Plan zwischen Marquardt und Wolf gewesen. Wie sie von ihrer Mutter wusste. Allein deshalb hatte sie in den letzten Wochen die Leitung mehrfach abgelehnt. Sie hatte gehofft, dass sich das Thema damit erledigen würde. Aber sie wusste natürlich, dass die Unit eine Leitung brauchte. Dass Wolf nicht Christian fragen würde, war sowohl Christian als auch ihr klar gewesen. Schade, dass es tatsächlich so gekommen war. Doch nicht jeder war für Führungsaufgaben geeignet. »Wir sind der Auffassung, dass eine dreiköpfige Abteilung ohne Leitung auskommt.« Mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Oder planen Sie, die Abteilung zu vergrößern?«

    Wolf hob seufzend die Augenbrauen. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie einmal eine Frage beantworten könnten, anstatt immer nur weitere zu stellen. Für Ihre Abteilung habe ich im Übrigen den Kauf meiner neuen Büroeinrichtung aufs nächste Jahr verschoben.«

    »Och, die hier ist doch noch gut«, brach es jovial aus Christian heraus. »Mach es ungeliebtem Besuch bloß nicht zu gemütlich, sage ich meiner Frau immer, dann bleibt er nicht zu lang.«

    Frederica zuckte innerlich zusammen. Sarkastische Bemerkungen gehörten gewöhnlich nicht in Christians Repertoire. Wahrscheinlich hing ihm die Leitungsfrage noch immer nach. Sie hoffte nur, dass sie ihm irgendwann erklären konnte, warum sie sie nicht wollte.

    Mit der Bemerkung – so unpassend sie ihrem Chef gegenüber war – hatte Christian allerdings den Nagel auf den Kopf getroffen. Wolfs Büro lud nicht zum Verweilen ein. Das Einrichtungskonzept folgte repräsentativen Zwecken. Ausladende Eichenmöbel, eine lange Vitrine an der Längsseite des Büros, die bis auf ein paar lieblos angeordnete Sport-Trophäen leer war und darüber hinaus keine Erfrischungen für Gäste bereithielt,

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