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Bei meinem Leben
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eBook699 Seiten10 Stunden

Bei meinem Leben

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Über dieses E-Book

„Der König ist tot – es lebe der König!“ Schmerzhaft zuckt dieser historische Ruf durch das Bewusstsein der Thronerbin des kleinen fiktiven europäischen Königreiches Sasson, als sie erfährt, dass ihre Eltern bei einem Terroranschlag ums Leben gekommen sind. Nun ist es an ihr ist, eine ganze Nation aus dem Chaos von Notstandsgesetzen, zerbombten Häusern, Korruption und Vetternwirtschaft herauszuführen. Doch mit unermüdlichem Fleiß, Aufopferungsbereitschaft und viel Mut stellt sie sich gemeinsam mit ihrem frisch zusammengetrommelten Team von Beratern, Bodyguards und einer kleinen Hand voll Freunden der Aufgabe, Sasson wieder auf sichere Füße zu stellen. Der Tradition ihres Landes folgend verpflichtet sie sich, mit all ihrer Kraft und jedem Mittel, das ihr zur Verfügung steht, für das Wohl ihres Staates zu kämpfen. Für ihr Land ist sie bereit zu leben und zu sterben. Und zu sterben wird von ihr schneller verlangt als es ihr recht ist…. Denn Thronerbin im 21. Jahrhundert zu sein bedeutet nicht, auf Bällen zu tanzen, sondern reale Probleme zu lösen in einer manchmal viel zu harten Welt.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Kern
Erscheinungsdatum9. Juni 2015
ISBN9783957161635
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    Buchvorschau

    Bei meinem Leben - Martina Raub

    Martina Raub

    Bei meinem Leben

    ROMAN

    Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailliert Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Impressum:

    © by Verlag Kern GmbH, 2015

    © Inhaltliche Rechte bei der Autorin

    Autorin: Martina Raub

    Layout/​Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

    Titelmotiv: © mona_redshine | fotolia

    1. Auflage 2015

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

    Lektorat: Manfred Enderle

    Sprache: deutsch,

    ISBN: 9783957161-192

    ISBN

    E-Book

    : 9783957161-635

    www.verlag-kern.de

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Impressum

    Widmung

    Bei meinem Leben

    Für meine Eltern,

    die mir das Wichtigste mit auf den Weg ins Leben gegeben haben:

    Wissen. Neugier.

    Und ihre bedingungslose Liebe – jederzeit.

    Jegliche in diesem Roman geäußerte Meinung oder Aussage ist rein fiktiv und dient ausschließlich dem Fortgang der Erzählung. Sie spiegelt nicht die Ansichten der Autorin wider, die sich allein dem Wertekodex der freiheitlich demokratischen Grundordnung verpflichtet fühlt.

    D

    as Sonnenlicht sickerte hell durch die braunen Jalousien. Die Strahlen tasteten sich durch das kleine Schlafzimmer, in dem nur ein Doppelbett mit Nachtkasten und ein Kleiderschrank aufgebaut waren. An der Wand, dem Schrank gegenüber, war ein mannshoher Ankleidespiegel angebracht, um dessen Rahmen Postkarten aus der ganzen Welt aufgeklebt waren. Dubai, Tokio, Washington, Berlin, Rio de Janeiro und noch viele mehr. In der rechten oberen Ecke des Spiegels hing ein Foto, das ein Ehepaar zeigte. Das Paar war außergewöhnlich gut gekleidet, stand Arm in Arm auf der Treppe eines Flugzeuges und winkte lächelnd in die Kamera. Im Hintergrund waren das Flugfeld und der Tower zu sehen. Vor der Treppe, ganz am Rand des Bildes, konnte man die Motorhaube eines dunklen Autos erahnen.

    Der Wecker auf dem Nachtkasten begann penetrant zu piepen und hörte damit erst auf, als sich eine Hand aus der Bettdecke geschoben und auf den Sensor gedrückt hatte.

    Sieben Uhr morgens! Der Rest des Körpers, der zu der Hand gehörte, drehte sich auf den Rücken und streckte und räkelte sich im Bett. Wie schön wäre es, jetzt noch eine halbe Stunde länger schlafen zu können. Aber das ging nicht.

    Constance Lirent schlug die Decke zurück und streckte die Füße aus dem Bett. Der Boden war kalt. Irgendwann würde sie sich einen Teppich kaufen, um beim Aufstehen nicht immer frieren zu müssen. Bei dem Gedanken musste sie ganz für sich allein breit grinsen. Zuhause hatte sie etwas anders gewohnt. Ihre Eltern hatten sie ganz schön verwöhnt. Es tat gut, ein bisschen bescheidener zu leben. Das ließ den Wert des Lebens klarer hervortreten.

    Sie tapste noch schläfrig zum Kleiderschrank. Heute musste sie wieder ins Büro, also öffnete sie die linke Flügeltür. Die Seite mit der Arbeitsgarderobe. Ein dunkles Kostüm? Nein, heute nicht. Es würde warm werden. Sie wählte eine dunkelblaue Jeans, eine weiße Bluse und eine Wildlederweste. Das reichte aus. Ihre Ausbilder kleideten sich teilweise auch sehr leger, dann konnte sie sich das ebenfalls erlauben. Es war ja auch nicht beanstandet worden, dass ihre Jeansjacke, die sie oft morgens wegen des Fahrtwindes trug, schon Gebrauchsspuren aufwies und am Kragen sogar ein kleines Loch hatte.

    Bevor Constance das Schlafzimmer verließ, zog sie die Jalousien hoch und blinzelte der Sonne entgegen. Es musste ein herrlicher Tag werden. Sie konnte sich nichts vorstellen, das ihre Laune heute trüben konnte. Als sie am Spiegel vorbeikam, huschte ihr Blick schnell über die vielen Postkarten und blieb dann am Foto oben in der Ecke hängen. Kurz ein ganz klein wenig wehmütig, dann schnell aber wieder ausgeglichen, hauchte sie einen Handkuss dem Bild entgegen.

    „Morgen, Papa. Na, Mama, ausgeschlafen?", flüsterte sie in die Stille ihrer Wohnung hinein, dann nahm sie ihre Kleidung fester unter den Arm und eilte ins Bad. Wenn sie jetzt nicht in die Gänge kam, würde sie das erste Mal zu spät im Büro eintreffen. Und Pünktlichkeit war ja bekanntlich die Tugend der Könige.

    Eine knappe Stunde später kam sie in der Stadtverwaltung von Mettmann an. Mettmann, eine kleine Stadt in der Nähe von Düsseldorf, die es irgendwie geschafft hatte, Kreisstadt zu werden. Hier in der Stadtverwaltung war sie vom Rechtsamt als Referendarin aufgenommen worden. Nachdem sie in Köln, Stanford und Durban Jura studiert und das erste Staatsexamen abgelegt hatte, befand sie sich nun im praktischen Abschnitt ihrer Ausbildung. Dazu gehörte im Bereich des Verwaltungsrechts auch die Station in einer Behörde. Wieso sie sich ausgerechnet für Mettmann in Deutschland entschieden hatte, konnte sie jetzt schon nicht mehr sagen. Vielleicht weil sie hier ihre Wohnung gemietet hatte und es so bequem war, nur ein paar Minuten mit dem Fahrrad zum Arbeitsplatz zu fahren. Aber das war in vier Wochen auch schon wieder vorbei. Dann würde sie bei einem Anwalt in Düsseldorf die nächste Station ihrer Ausbildung absolvieren und vermutlich jeden Tag mit dem Auto in die Stadt fahren. Ihren silbernen Porsche Carrera – bezahlt von ihrem eigenen Geld – hatte sie in der Tiefgarage des Wohnhauses abgestellt und bis jetzt nur selten bewegt. Wohl keiner der anderen Mieter, die dort tagtäglich ein- und ausfuhren, wusste, wem der Wagen gehörte.

    Das Amt lag in der dritten Etage. Es bestand aus sieben Räumen, die hintereinander angeordnet waren und bei geöffneten Zwischentüren einen durchgehenden Schlauch bildeten. Und die Türen waren immer offen. Aus den Bürofenstern konnte man unendlich weit blicken, wenn das Wetter so schön war wie heute.

    Die fest angestellten Kollegen hatten die junge Referendarin schnell und gerne in ihren Kreis aufgenommen. Sie war immer zuvorkommend, clever, fleißig und lachte viel. Intern war man sich einig, dass sie ruhig übernommen werden sollte, wenn eine Planstelle frei wurde. Nicht alle Referendare gingen mit Constances Leichtigkeit an die Arbeit, als hätte sie keine Sorgen vor der Bewertung, vor der nächsten Prüfung, vor dem Start ins Berufsleben. Auch Constance war glücklich. Sie fühlte sich gut aufgehoben und von den großen Problemen der Welt verschont. Hier war alles so kleinbürgerlich, dass es schon Spaß machte, Teil dieser Behörde zu sein.

    Die Referendarin hatte gerade einen Aktenvorgang beendet und wollte ihn an ihre Ausbilderin, Frau Hinrichs, zurückgeben. Sie stand mit ihr und einem weiteren Kollegen, Herrn Bibersch, zusammen im letzten Büro.

    „Sehen Sie das auch so, Frau Lirent? Die Ölpreise sind doch nur eine Folge des Krieges. Nachdem der Diktator fort ist, sollten sich die Amis zurückziehen. Dann wäre wieder alles normal."

    „Fragen Sie mich nicht. Ich habe keine Meinung zu Politik."

    „Das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind bestimmt ein politischer Mensch. Ihr Augenaufschlag war schon fast schelmisch: „Ach, Sie glauben mir nicht?

    Frau Hinrichs lachte auf: „Sie haben jetzt so geguckt wie mein Kleiner, wenn er etwas angestellt hat und es nicht sagen will."

    Sie lachten gemeinsam und gönnten sich ein paar Minuten, um auch einmal privat miteinander reden zu können. Die drei Juristen standen noch zusammen, als die Tür vom Sekretariat ganz am Ende des Bürotraktes aufgerissen wurde und mehrere Polizisten eintraten.

    Bibersch sah sie zuerst kommen. Erstaunt blickte er die vier Polizisten an, in deren Begleitung sich eine ganze Gruppe von Menschen befand. Normalerweise gab es keinen Publikumsverkehr im Rechtsamt. Unter den Besuchern befanden sich Männer und Frauen, Alte und Junge, durchgehend gut gekleidet und alle von einer tiefen Ernsthaftigkeit ergriffen. Drei Männer mittleren Alters trugen Uniformen in Blau, aber Bibersch konnte nicht zuordnen, zu welcher Einheit sie gehörten. Er kam zu dem Schluss, dass es wohl Armeeangehörige waren, sie aber nicht zu den deutschen Streitkräften zählten. Was ging hier vor?

    Die Gruppe eilte schon weiter durch den Schlauch von Büroräumen und kam rasch auf die drei Juristen zu. Jetzt bemerkten auch Hinrichs und Constance, dass etwas nicht stimmte. Hinrichs trat einen Schritt zur Seite, um durch den Türrahmen in die anderen Räume zu gucken. Sie bekam große Augen und staunte: „Was im Himmel …?"

    Nun wurde Constance neugierig, weil sie aber so gemütlich an der Wand neben dem Türsturz lehnte und fast schon zu faul für Aufregung war, schaute sie nur kurz um die Ecke. Und sie erstarrte.

    „Als ich Sir Phillip den Gang entlang auf mich zugehen sah, wusste ich sofort, dass etwas Schreckliches geschehen war. Es war vereinbart worden, dass ich nicht kontaktiert werden sollte. Für eine Weile hatte ich mir das Recht erkämpft, frei und unabhängig zu sein. Dass Sir Phillip auf einmal dieses Recht mit Füßen trat und meine Tarnung dauerhaft aufdeckte, hatte mich so tief erschüttert, dass es beinahe körperlich schmerzte. Wahrscheinlich hat mich das aber schon auf schlimmste Nachrichten vorbereitet. Alles andere kam danach nur noch wie durch eine Nebelwand in meinem Bewusstsein an."

    Die Akte fiel aus der Hand der jungen Frau und rutschte in den Papierkorb neben ihr. Das Rascheln riss die Referendarin aus ihrer Starre. Sie lehnte noch einmal kurz den Kopf gegen die Wand und schloss die Augen, um tief durchzuatmen. Dann streckte sie sichtlich die Schultern, richtete sich gerade auf und trat in den Türbogen.

    Die Gruppe war nun bis zum vorletzten Raum vorgedrungen. Als Constance vor ihnen auftauchte, gingen die vier Polizisten noch einige Schritte weiter und wollten die junge Frau, die sie von Fotos wiedererkannten, gerade ansprechen, als sie bemerkten, dass ihre Begleiter nicht mehr neben ihnen waren. Zur Verwunderung der Polizisten und Mitarbeiter des Rechtsamtes knieten die Besucher auf dem Boden und hatten die Köpfe zu Boden gesenkt. Nur ein älterer Mann mit schlohweißem Haar trat an die junge Frau heran, neigte aber auch den Kopf und deutete eine Verbeugung an. „Hoheit!" Seine Stimme klang hohl und atemlos.

    „Phillip! Wie können Sie es wagen, hier aufzutauchen?!" Ihre Muskeln am Hals traten weit hinaus. Constances Stimme bebte vor Wut, war aber auch so kraftvoll, dass der alte Mann erzitterte. Er sank ebenfalls auf die Knie, langsam, weil es ihm Schmerzen bereitete.

    „Verzeiht, Hoheit. Es gab ein großes Unglück. Der Palast ist Ziel eines Attentates geworden."

    Er stockte und senkte den Kopf noch tiefer. Seine Stimme versagte kurz. Constance war blass geworden. Sie glaubte, sich in einem Albtraum zu befinden. Das Erstaunen ihrer Kollegen bemerkte sie gar nicht. Schnell trat sie zwei Schritte vor und ergriff die Hand des alten Mannes, um ihm aufzuhelfen. Er stützte sich schwer auf die junge Frau, bis er sicher stand. Jetzt erst konnte sie sehen, dass er blutige, frische Wunden im Gesicht hatte.

    Sie trat ein paar Schritte zurück, um ihn besser anschauen zu können: „Sie sind verletzt, Sir Phillip. Was ist passiert?"

    Sir Phillip setzte an zu sprechen, brach aber ab und holte noch einmal Luft: „Die Nordfront des Palastes ist heute in den frühen Morgenstunden in die Luft gesprengt worden. Es gab Todesopfer. Bis jetzt sind über zweihundert Leichen geborgen worden."

    „200? Oh mein Gott. Wieso waren so viele Menschen …?"

    „Das Fest unseres Schutzpatrons. Sie wollten das Königspaar bei Sonnenaufgang begrüßen, als die Explosionen erfolgten."

    „Meine Eltern? Was ist mit ihnen?" Ihre Stimme klang brüchig, als könne sie nicht noch mehr schlechte Nachrichten vertragen.

    Der alte Mann schüttelte den Kopf. In seinen Augen war so viel Schmerz zu lesen, dass ihn nicht allein die Wunden an seinem Körper verursacht haben konnten. „Es tut mir leid, Hoheit. König Georg ist heute Morgen um 6.37 Uhr verstorben. Seine Ehefrau Sofia erlag ihren Verletzungen um 7.04 Uhr. Ihr musstet es erfahren, bevor die Medien es ausstrahlen. Ich danke Gott, dass wir schnell genug waren."

    Constance lehnte ihr heißes Gesicht gegen den kühlen Stahl des Türrahmens. Sie spürte, dass sie blass geworden war, und fürchtete, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden, doch das störte sie nicht. Die Menschen, die sie nun anblickten, wussten, wie sehr sie ihre Eltern geliebt hatte und dass es ehrliche Trauer war. Die Menschen, die sie anblickten … Nun wurde ihr erst bewusst, dass außer Phillip ihre Bürger noch immer knieten. Mit einer raschen Handbewegung forderte sie sie auf, sich zu erheben, was jeder Einzelne auch gerne tat. Die meisten kannten Constance schon lange, hatten sie aufwachsen und groß werden sehen.

    Sir Phillip drang sanft auf Constance ein: „Ihr müsst mit uns heimkehren. Das Land, Euer Land steht am Rande einer Katastrophe. Es braucht jetzt Führung. Nach dem Tod Eures Vaters ist das Los auf Euch gefallen, in diesen schweren Zeiten das Land zu regieren."

    „Das kann ich nicht!, platzte aus Constance heraus. Sie war tief verzweifelt. Ihre Eltern waren brutal ermordet worden und darüber hinaus sollte sie eine Verantwortung tragen, die viel zu schwer für sie war. „Wie soll ich das machen? Ich bin noch keine 30 Jahre alt. Außerdem habe ich ja noch nicht einmal meinen Abschluss!

    Die Ausbilderin hatte endlich ihre Sprache wieder gefunden und versuchte, autoritär und fordernd zu klingen, als sie sagte: „Frau Lirent! Erklären Sie mir bitte, was hier los ist! Wenn das ein Gag sein soll, um sich in Szene zu setzen, ist es eine ziemlich perverse Idee!"

    Die Referendarin blickte noch einmal kurz Sir Phillip an, der stumm und bestätigend nickte, und drehte sich dann zu der älteren Frau um.

    Ganz leise und ruhig sagte sie wie auswendig gelernt: „Mein richtiger Name lautet Constance Alexandra Katharina Benjamina Felicitas. Ich bin Prinzessin von Sasson und Gräfin von Lirent."

    Ihren Worten folgte Schweigen. Von dem kleinen Königreich im Herzen von Europa hatten die Beamten schon gehört und die Berichte über die Herrscherfamilie in der Klatschpresse hin und wieder beim Frisör oder Arzt gelesen. Dass aber die Referendarin, die sie jetzt seit über zwei Monaten kannten, nicht nur verwandt sein sollte, sondern sogar vorgab, die Prinzessin und Thronfolgerin selbst zu sein, war nicht zu glauben.

    „Das ist ein ganz schlechter Witz. Sie sind doch gecheckt worden vor Dienstantritt. Was soll das Theater?" Auch Bibersch mischte sich nun ein, doch er war mehr verunsichert als wütend. Wenn das stimmte, musste er einige seiner Bemerkungen noch einmal überdenken. Hatte er sie manchmal zu oft kritisiert, manchmal zu sehr getriezt?

    Wortlos begann Constance, sich die Knöpfe am Ärmel ihrer Bluse aufzuknöpfen, und rollte den Stoff vorsichtig bis zur Schulter hoch.

    Sir Phillip wusste nicht, was seine Regentin tun wollte: „Hoheit! Ich bitte Euch."

    Doch Constance reagierte gar nicht. Auf der nackten Haut ihres Oberarmes war mit einem Klettverschlussband ein winzig kleiner, flacher Rucksack gesichert. Mit zitternden Fingern öffnete sie das handtellergroße Beutelchen und zog einen Ausweis heraus, den sie Frau Hinrichs reichte. „Das ist mein Pass, meine einzige und richtige Legitimation. Auf der Rückseite können Sie lesen, dass ich berechtigt bin, den Künstlernamen Constance Alexandra Lirent zu tragen. Er ist genauso offiziell wie mein vollständiger Geburtsname samt Titeln. Ich habe meinen Künstlernamen nach unserer Hauptstadt Lirent gewählt."

    Entschuldigend blickte sie nun wieder den alten Mann an, der sie mit leicht geöffnetem Mund anschaute. „Ich habe mir das selbst genäht, weil ich dachte, ich sollte meinen Ausweis immer bei mir tragen, ohne dass er aus Versehen gefunden werden kann."

    „Das war eine weise Entscheidung, Hoheit. Und es ist eine schöne Handarbeit."

    Constance hätte sich für das Kompliment bedankt oder zumindest gelächelt, wenn ihre Gedanken nicht schon wieder bei ihren Eltern geweilt hätten.

    Die Ausbilderin reichte ihr den Ausweis zurück, nicht ohne ihn zuvor mindestens viermal gedreht und gewendet zu haben.

    „Frau Lirent … ich meine, Eure Hoheit … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll … Dann fing sie sich aber wieder und hörte auf zu stottern: „Der Tod Ihrer Eltern tut mir sehr leid. Sie bekommen natürlich Sonderurlaub, um die Beerdigung zu organisieren und das Erbe zu regeln.

    Sir Phillip trat vor und nahm Hinrichs den Ausweis ab, da sich Constance nicht bewegt hatte.

    „Prinzessin Constance benötigt keinen Sonderurlaub. Das Dienstverhältnis wird aufgelöst. Sie wird nicht zurückkommen, um ihre Ausbildung abzuschließen", sagte er bestimmt. Schon sanfter wandte er sich an die junge Frau und drückte ihr den Pass in die Hand.

    „Kommt, Hoheit, wir müssen zurückkehren."

    „Aber ich kann nicht mitkommen. Ich bin nicht bereit dafür!"

    „Der Staat ist ohne Führung. Ihr seid die Thronfolgerin und Ihr müsst das Erbe antreten. Das habt Ihr immer gewusst, auch während Eurer Studien im Ausland."

    „Man wird mich als Regentin nicht akzeptieren. So jung, wie ich bin! Und ohne Erfahrung auf dem politischen Parkett. Phillip, ich schaffe das nicht!"

    Die letzten ihrer Worte waren so voller Verzweiflung, dass der alte Berater versucht war, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, so wie er es getan hatte, wenn sie sich früher als Kind beim Spielen verletzt hatte. Aber das durfte er jetzt nicht tun. Nicht, wenn er ihr zumindest einen Anflug von Autorität verleihen wollte. Später vielleicht, wenn sie alleine in ihren Privatgemächern war, würde er bei ihr vorbeischauen und sie trösten. Doch in aller Öffentlichkeit durfte das nicht geschehen.

    Es gab nur eins, was er jetzt für sie tun konnte. In seiner Tasche ruhte schwer und kalt ein Amulett, das das Wappen der Familie Sasson darstellte. Die Kette war aus Silber geschmiedet und schon – ebenso wie das Amulett – vor über 200 Jahren gefertigt worden. Nun war der Zeitpunkt gekommen, es hervorzuholen.

    „Euer Vater gab es mir, bevor er starb. Er wünschte, dass Ihr es tragt.

    Es soll Euch Kraft und Mut für die bevorstehende Aufgabe geben." Vorsichtig hob er die Kette an und legte sie der jungen Frau wie eine Auszeichnung um den Hals. Seine Hände zitterten leicht und er schalt sich dafür. In seiner jetzt beinahe

    45-jährigen

    Dienstzeit bei Hofe hatte er einige schwere Stunden miterlebt. Dass er sich jetzt nicht auch vollkommen unter Kontrolle hatte, ärgerte ihn. Wahrscheinlich lag es an Constances Augen, die so traurig schauten. Diese Augen, die er das erste Mal vor 27 Jahren im lachenden rosigen Gesicht eines Babys gesehen hatte, das irgendwann einmal Regentin des Staates sein sollte. Vielleicht war es aber auch ihre stille Trauer, die viel schwerer zu ertragen war als die Tränen, die kurz in ihren Augen geschimmert hatten und die sie mit solcher Gewalt zurückgedrängt hatte. Constance hatte es gelernt, sich so gut unter Kontrolle zu haben, dass es manchmal schon erschreckend war.

    Jetzt hielt sie das Amulett abwägend auf ihrer Handfläche und ließ es dann wieder gegen ihre Brust fallen. Ihr Blick richtete sich erneut auf Phillip, als sie sagte: „Es wird mich immer an ihn erinnern."

    Sir Phillip nickte zufrieden. Ihre Worte zeigten ihm, dass sie akzeptiert hatte, welchen Platz ihr das Schicksal zugedacht hatte.

    Auf einen Wink des Beraters traten nun zwei Uniformierte vor. Während der eine etwas Unförmiges trug und sich tief vor der Prinzessin verneigte, deutete der Höherrangige nur eine leichte Verbeugung an.

    „Hoheit, es tut mir leid, was geschehen ist", sagte er, aber er blickte Constance noch immer nicht in die Augen.

    „Danke, Christobald." Sie spürte, dass etwas mit ihm nicht stimmte, doch konnte sie nicht sofort sagen, was es war. Dann begriff sie, dass sie schon in die Mühlen des höfischen Betriebes geraten war, ohne es zu merken. Sie war nicht mehr Herrin über ihr eigenes Leben. Darüber bestimmten nun andere. Und der Mann ihr gegenüber wusste voller Bedauern, dass er der Erste von vielen war, der ihr eine Routine aufzwingen musste.

    Christobald griff nach dem Bündel, das sein Adjutant ihm reichte, und entfaltete es: „Ich kann hier nicht für Eure Sicherheit garantieren. Als Euer Sicherheitschef muss ich darauf bestehen, dass Ihr eine schusssichere Weste tragt."

    Constance trat zwei Schritte zurück und winkte abwehrend ab: „Ich denke, dass das nicht nötig ist. Mettmann ist ein Dorf und niemand weiß, dass ich hier bin."

    „Inzwischen wird man es herausgefunden haben. Bitte lasst mich meine Arbeit tun, damit auch Ihr Eure so lange wie möglich erfüllen könnt. Er öffnete die Klettverschlüsse der Weste und half Constance hinein. „Ich weiß, dass Euch das nicht gefällt, Hoheit, redete er währenddessen beruhigend auf sie ein. „Aber es muss sein. Bis Ihr im Wagen seid. Die Limousine ist gepanzert. Dann könnt Ihr die Weste wieder ablegen."

    Er zog ihre Schutzkleidung zurecht, als Constance klar wurde, was ihn bedrückte. Es war mehr als die Sorge um ihre Sicherheit. Als er den Träger über ihrer Schulter schließen wollte, legte sie ihm sanft die Hand auf die starken Finger.

    „Ich bin überzeugt, dass Sie alles in Ihrer Macht Stehende getan haben, um meine Eltern zu schützen."

    Christobald verharrte in der Bewegung.

    „Verzeiht mir, Hoheit, dass ich versagt habe. Ich hätte darauf bestehen müssen, dass Eure Eltern nicht am Fest teilnehmen. Er schluckte hart. „Aber wir hatten keinen Hinweis auf eine konkrete Gefahr. Ich bitte Euch zutiefst um Verzeihung und werde aus dem Dienst ausscheiden, sobald wir nach Sasson zurückgekehrt sind.

    Constances Hand ruhte noch immer auf seiner, als sie sagte: „Ich würde mich sicherer fühlen, wenn Sie der Sicherheitschef blieben. Wenn Sie mein Leben schützten. Trotz allem."

    Er schloss den Klettverschluss und trat einen Schritt zurück, um sich dann zu verbeugen, diesmal tiefer als bei der Begrüßung.

    „Ich danke Euch, Hoheit. Aber bitte überdenkt diese Entscheidung noch einmal. Vielleicht wäre es besser …"

    „Nein, Christobald. Sie sind der Sicherheitschef und Sie bleiben es vorerst!, unterbrach die junge Frau ihn selbstsicher. „Alles Weitere werden wir später besprechen.

    Er nickte kurz angebunden und Constance glaubte, in seinem Blick eine gewisse Erleichterung zu sehen. Ein kleines Gefühl von Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie hatte die erste Personalentscheidung ihrer Regentschaft getroffen und sie war sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war.

    „Wir müssen jetzt aufbrechen, riss Phillip sie aus ihren Gedanken. „Das Volk erwartet Eure Ankunft.

    Constance nickte und bewegte die Schultern vorsichtig. Die Weste war schwer, eng und unbequem. Sie hasste diese Dinger. Aber wenn es nur bis zum Wagen dauern sollte, würde sie die Beeinträchtigung hinnehmen. Sie reichte ihrer Ausbilderin die Hand zum Abschied und sagte: „Ich würde gerne bleiben. Aber Sie haben ja gehört, dass ich nach Hause muss. Danke für alles. Ich habe die Zeit hier sehr genossen."

    Hinrichs ergriff die ihr dargebotene Hand und wusste nicht, was sie der jungen Frau sagen sollte, die gerade ihre Eltern verloren hatte und mit der Bürde des Regierens belegt worden war.

    „Lassen Sie sich nicht unterkriegen. Wenn Sie regieren, wie Sie hier gearbeitet haben, wird es Ihrem Staat gut gehen. Und schreiben Sie mal, wie es Ihnen geht."

    Während Prinzessin Constance nun durch die Büroräume ging und sich von allen Kollegen verabschiedete, sah sie mehrere Gefolgsleute das Referendarzimmer betreten. Einer spülte das von Constance benutzte Glas, während die anderen ihre Sachen zusammenpackten, ihre Jacke und den Rucksack nahmen und zu Sir Phillip traten. Der griff entsetzt die Jeansjacke.

    „Eine zerrissene Jeansjacke. Hoheit, musste das sein?! Sein Ton klang so vorwurfsvoll, dass die Regentin den Kopf senkte. Phillip fuhr fort, als sein Blick auf den Rucksack fiel: „Und ein Rucksack mit Stoffbärchen am Reißverschluss?

    „Das haben hier alle Leute in meinem Alter. Als Glücksbringer."

    Sir Phillip schüttelte den Kopf und überlegte. Wahrscheinlich lauerte draußen schon die Presse. Der Autokorso konnte nicht unentdeckt geblieben sein. Er registrierte die Frauen, die sich im Tross des Gefolges befanden.

    „Michelle, sprach er diejenige an, die noch am ehesten die Figur der jungen Prinzessin hatte, „würden Sie mir bitte Ihren Mantel leihen?

    „Selbstverständlich." Die Begleiterin war erstaunt, aber auch froh, helfen zu können. Sie zog ihren leichten Kamelhaarmantel aus und reichte ihn Sir Phillip. Sie würde ihn zurückbekommen, da bestanden keine Zweifel. Wenn Sir Phillip sich etwas lieh, gab er es unter Garantie zurück.

    Der Berater hielt nun den Mantel offen für die Prinzessin, die auch folgsam hineinschlüpfte, nicht ohne noch einmal sehnsüchtig auf ihre Jeansjacke zu schauen. Ihr war, als würde sie in ein neues Leben eintreten. Dann aber nickte sie Christobald zu, der die Tür öffnete und auf den Flur hinaustrat. Seine zwei Begleiter von der Sicherheitsabteilung gingen mit ihm und überprüften den Weg. Danach erst nahmen sie Constance und Sir Phillip in ihre Mitte und eilten mit ihnen so schnell fort, dass der Mantel der jungen Prinzessin weit aufflog.

    Vom Eingang im Erdgeschoss konnte die Referendarin schon sehen, dass auf dem Vorplatz eine große sechstürige Limousine und mehrere Mercedes der Luxusklasse geparkt waren. Die Fahrer standen wartend neben ihren Wagen in der Sommersonne. Bei ihnen waren einige Sicherheitsbegleiter der Armee, die den Platz in allen Richtungen beobachteten. Christobald funkte sie gerade an, dass die Gruppe jeden Augenblick das Gebäude verlassen würde, als Bewegung in die Bediensteten auf dem Platz kam. Die Fahrer strafften sich und eilten zu den Türen, um sie für die Passagiere öffnen zu können, während die Soldaten zum Eingang kamen, um ihrer neuen Regentin Schutz bieten zu können.

    Und dann war da noch die unvermeidliche Meute von Reportern. Wie der Sicherheitschef vermutet hatte, war der Konvoi nicht unbeachtet geblieben. Die Linsen der Fotoapparate blendeten in der Sonne. Christobald zog seine Sonnenbrille heraus und machte seinen Leuten ein rasches Zeichen. Sie wussten, was ihr Chef verlangte. In Sekunden hatten sie einen Korridor aus ihren Körpern gebildet, durch den kein Reporter an das Zielobjekt herankommen konnte. Aber Fotografieren war möglich. Constance kannte das schon. Sie senkte den Kopf ein wenig, damit niemand Trauer und Entsetzen, die ihr offen ins Gesicht geschrieben standen, sah, während Phillip zu ihrer Linken und Christobald an ihrer rechten Seite so dicht und schräg versetzt vor ihr gingen, dass es so gut wie unmöglich war, ein Bild von ihr zu machen. Auf ihrem Rücken fühlte sie die Hand des Sicherheitschefs liegen, der sie zielstrebig schob, sodass sie den Kopf noch weiter senken konnte, ohne auf den Weg vor ihren Füßen achten zu müssen.

    Dann hatten sie die Limousine erreicht. Der Fahrer hatte schon längst die Tür aufgerissen, sodass die Prinzessin schnell auf die Rückbank rutschen konnte.

    Endlich hörte das Blitzlichtgewitter auf.

    „Das war ich nicht mehr gewohnt", seufzte Constance. Ihre Begleiter waren nachgekommen und nun schloss die gepanzerte Tür auch die Rufe und Fragen der Reporter aus.

    Durch die getönten Scheiben sah sie, dass ihre übrigen Begleiter in die weiteren Wagen stiegen. Gerade, als sich der Konvoi in Bewegung gesetzt hatte, fuhr Constance auf und klopfte gegen die Scheibe zum Fahrer. „Halten Sie an! Bitte halten Sie an." Der Ruck des Bremsens drückte die Insassen in die Polster.

    „Was ist los?" Christobalds Stimme war angespannt. Seine Hand lag am Funkgerät.

    „Mein Fahrrad. Das kann ich doch nicht hier stehen lassen."

    „Hoheit. Ich bitte Euch! Erschreckt mich nie wieder so sehr wegen einer Kleinigkeit wie einem Fahrrad. Das kann hier bleiben."

    „Christobald, bitte. Ihr Augenaufschlag war betörend. „Ich verliere heute nicht nur meine Eltern, sondern auch meine Freunde, meine Kollegen, meinen Job und wahrscheinlich werde ich die Sachen aus meiner Wohnung eine lange Zeit nicht wieder sehen. Geschweige denn mein Auto. Lassen Sie mich wenigstens mein Fahrrad mitnehmen. Der Schlüssel ist vorne im Rucksack, in der kleinen Tasche. Es ist das blaue Mountainbike da drüben.

    Der Sicherheitschef schloss kurz die Augen und nickte. Wie sollte er diese Bitte abschlagen. Also zog er das Funkgerät hervor und wies seinen Adjutanten an, das Fahrrad zu holen.

    Constance starrte durch die dicken Scheiben und sah, wie der Mann mit einem kleinen Schlüssel in der Hand zu dem Abstellplatz ging. Er öffnete das Kettenschloss und schob das Bike zur Limousine. Ohne zu zögern, hob er es in den Kofferraum, den der Chauffeur längst mit einem Knopfdruck hatte aufspringen lassen, und klopfte dann auf die Karosserie. Mit erhobenem Daumen zeigte er, dass es jetzt endlich losgehen konnte.

    Es kam Constance vor, als schaute der Adjutant ihr direkt in die Augen, denn er zwinkerte kurz in den Innenraum der Limousine und lächelte leicht durch die verdunkelten Scheiben. Erst jetzt fiel ihr auf, wie tiefblau seine Augen waren und wie gut das zu seinem schwarzen Haar aussah.

    Dann setzte sich die Kolonne auch schon in Bewegung und hielt erst wieder auf dem Rollfeld wenige Meter vor dem Privatjet der Familie Sasson. Es war nicht ganz die Airforce One, aber doch erst einmal der sicherste Platz, den man der jungen Prinzessin bieten konnte.

    Constance stieg aus dem Wagen und ging zügig auf die Gangway zu. Am Fuße der Treppe stand ein weiterer Uniformierter bereit, der sich bei ihrer Ankunft leicht verbeugte.

    „Hoheit, ich bedaure die Umstände, die uns zwingen, Euch nach Hause bringen zu müssen. Mein Name ist Andrew, ich bin Euer Captain in dieser Schicht."

    Andrew geleitete sie die Treppe hinauf, während der übrige Stab noch aus den Wagen stieg und ein Steward die wenigen persönlichen Sachen der Prinzessin aus dem Kofferraum hob.

    Captain Andrew blickte vom Kopf der Treppe hinab und seine Augen weiteten sich voller Erstaunen.

    „Hoheit. Verzeiht, aber Euer Sicherheitsbegleiter … er trägt …"

    Constance schaute sich um und musste schwach grinsen. Der Mann in der dunkelblauen Uniform hatte ihr Mountainbike auf seine Schulter gehoben und ging damit die Gangway hinauf, als würde er das Gewicht nicht spüren. Diesmal war sich Constance ganz sicher, dass er sie anblickte und in seinen Augen ein munteres Funkeln zu sehen war.

    „Ja. Er trägt mein Fahrrad. Ich wollte nicht darauf verzichten, es mitzunehmen."

    „Ich verstehe", antwortete Captain Andrew, aber in Wirklichkeit begriff er die Beweggründe der jungen Frau nicht. Deshalb schwieg er auch, als er die Prinzessin zu ihrem Sitz begleitete und ihr beim Anschnallen behilflich war.

    „Wie werden in 2 Stunden landen, Hoheit", sagte er noch, bevor er ins Cockpit zurückkehrte.

    Die Sitzgruppen im Flugzeug boten immer für vier Passagiere Platz. Bei der Prinzessin saßen Sir Phillip und Christobald. Der letzte Platz blieb frei, sollte Bedarf bestehen, einen der Bediensteten heranzurufen.

    „Und wie geht es jetzt weiter?", fragte Constance ihre Berater, nachdem sich ihr Magen erholt hatte. Die Turbulenzen bei Start und Landung machten ihr jedes Mal zu schaffen. Sie hasste das Fliegen.

    „Wir haben mehrere Etagen des Grand Hotels angemietet, bis Statiker festgestellt haben, wie weit der Palast einsturzgefährdet ist. Die Nachricht, dass wir Euch abholen, hat sich in Lirent schnell herumgesprochen. Ich rechne damit, dass ein Großteil der Bürger zu Eurer Begrüßung am Flughafen sein wird. Phillip sprach, ohne zu zögern, als habe er sich die Worte schon lange überlegt. „Wir werden Euch dann umgehend ins Hotel bringen. Sobald das Krankenhaus die Leichen freigegeben hat, könnt Ihr Euch von Euren Eltern verabschieden. In aller Stille und ohne Öffentlichkeit. Das ist die einzige private Zeit, die wir Euch anbieten können. Ab morgen werdet Ihr die Staatsgeschäfte übernehmen müssen.

    „Dazu gehört, die Trauerfeier zu organisieren und die Reaktion auf den Terrorakt, nicht wahr?" Die Männer konnten spüren, wie schwer es Constance fiel, sich mit ihren Aufgaben zu arrangieren. Aber es gab keine Möglichkeit, es langsamer angehen zu lassen. Das Land steckte in einer tiefen Krise und brauchte jetzt einerseits Führung, andererseits aber auch ein Symbol der Kontinuität, etwas Traditionelles, das die Bürger kannten und das ihnen Vertrauen einflößte. Nichts war dafür besser als der letzte Spross der königlichen Familie. Außerdem würde es für Constance auch das Beste sein, jetzt sofort ihre Arbeit als Regentin aufzunehmen, damit ihr nicht zu viel Zeit zum Grübeln blieb. Gerade als Person des öffentlichen Lebens würde es schwer für sie werden, den Tod ihrer Eltern zu verarbeiten. Reporter würden sie wieder und wieder nach ihren Gefühlen über diesen Verlust fragen und jedes Mal die Wunde aufs Neue aufreißen.

    „Es ist unvermeidbar, Hoheit. Ihr müsst reagieren. Für morgen ist der Sicherheitsstab zusammengerufen, der Euch beraten wird, welches weitere Vorgehen das Beste ist."

    Constance nickte nur und schaute aus dem Fenster. Von hier oben sah alles so fern und klein aus, als gehörte es nicht zu ihrem Leben. Als könnte nichts von dieser Welt sie verletzen.

    „Gibt es Neuigkeiten aus der Hauptstadt? Ich würde gerne wissen, was mich in Lirent erwartet, wenn wir landen."

    Sir Phillip erhob sich und streckte kurz den Rücken. Für diese Art von Einsatz wurde er langsam zu alt. So viele Stunden hatte er heute im Flugzeug und in den verschiedenen Autos verbracht, und es war gerade erst Mittag. Das würde ein langer Tag werden. „Ich werde den Captain bitten, Lirent anzufunken. Ich sage Euch dann gleich Bescheid." Er ging fort und war froh, sich ein paar Schritte Bewegung verschaffen zu können.

    Auch Christobald stand auf mit den Worten: „Ich bin bei meinen Leuten. Für Eure Ankunft müssen noch die Sicherheitsmaßnahmen organisiert werden. Wenn Ihr etwas brauchen solltet …"

    „Danke." Constance wusste, dass es nur eine Ausrede war, sie alleine zu lassen. Beiden war klar, dass sie jetzt einige Zeit für sich brauchte, um mit ihren Gefühlen ins Reine zu kommen. Wenn sie in einer guten Stunde vor ihre Bürger trat, wollte sie zumindest gefasst, wenn nicht sogar selbstsicher wirken. Unabhängig davon, wie sie sich wirklich fühlte. Sie wusste nicht, wie lange sie einfach nur da gesessen und zum Fenster hinaus auf die so friedlich wirkende Landschaft gestarrt hatte, als der Sicherheitsbegleiter an sie herantrat und eine Hand auf die brusthohe Lehne der Sitzgruppe legte. Constance spürte erst diese Bewegung und wandte sich zu ihm. Sie hatte Phillip erwartet, der Anblick des Soldaten erstaunte sie deshalb.

    „Ich wollte Euch nicht erschrecken, Hoheit." Seine Stimme war angenehm ruhig und samtig-rau.

    „Sie haben mich nicht erschreckt. Ich hatte nur gedacht, Sie seien Sir Phillip."

    Der Soldat lächelte: „Es tut mir leid. Aber mit Eurem Berater habe ich nur die Staatsangehörigkeit gemein."

    Constance nickte. Es tat gut, mit dem Mann reden zu können. „Danke, dass Sie mein Fahrrad geholt haben."

    „Es schien Euch sehr wichtig zu sein."

    „Ich habe es von meinem ersten Referendarsgehalt bezahlt. Es hat mich auf eine gewisse Art stolz gemacht."

    „Dann habe ich es umso lieber getan. Der Soldat zögerte kurz und griff dann in die Innentasche seiner Uniform. In seiner Hand lag eine modische Sonnenbrille mit tiefdunklen Gläsern. „Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr meine Sonnenbrille nehmen. In Lirent soll es sehr sonnig heute sein. Constance ahnte, dass ihn nicht die Sonne interessierte, sondern dass er vielmehr daran dachte, dass neben den Bürgern auch Kamerateams auf die Prinzessin warten würden. Und dass die Teleobjektive jede Schwäche in ihrem Blick, jede etwaige Rötung ihrer Augen für immer auf die Festplatte bannen würden.

    „Leutnant Lucas! Christobalds Stimme aus dem Heckbereich des Flugzeugs klang schneidend. „Ich hatte unverzügliche Meldung angeordnet. Der Soldat zuckte wie ertappt zusammen.

    „Verzeiht, Hoheit." Er legte die Sonnenbrille schnell auf einen freien Sitz und eilte zu seinem Vorgesetzten. Constance nahm die Brille. Sie hatte sich nicht einmal bedanken können. Das würde sie aber später wiedergutmachen. Ein Blick in den Rückbereich des Innenraumes zeigte ihr, dass Christobald Leutnant Lucas nicht sonderlich abstrafte. Es schien nur sein Ansinnen gewesen zu sein, ihr noch ein paar Minuten Ruhe zu verschaffen. Vielleicht war es auch nur ein kleines Theater und der Sicherheitschef selbst hatte dafür gesorgt, dass sie die Sonnenbrille unter einem diskreten Vorwand gebracht bekam.

    Als ihr Blick weiterwanderte, sah sie, dass das Mountainbike auf den Sitzen einer freien Vierergruppe stand. Es war mit den Sicherheitsgurten sorgfältig befestigt worden, damit es nicht bei Start oder Landung beschädigt werden konnte. Das war bestimmt Leutnant Lucas’ Idee gewesen. Constance nahm sich vor, ihn im Auge zu behalten.

    Die Passagiere hatten schon wieder ihre Plätze zur Landung eingenommen, als Sir Phillip sich zu Constance setzte.

    „Die Bergungsarbeiten laufen noch immer. Es sind bis jetzt rund 1000 Überlebende gefunden worden. Die Zahl der Toten liegt konstant bei um die 200. Sie scheint sich nicht mehr wesentlich zu erhöhen. Die ersten Architekten begeben sich zurzeit in das Gebäude, um seine Statik zu überprüfen. Und am Flugplatz hat sich eine Menge eingefunden, die auf Eure Ankunft wartet. Man schätzt, dass circa 10.000 Menschen dort sein werden. Eure Rückkehr hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet."

    „10.000! Oh mein Gott. Der letzte Auftritt in dieser Größenordnung war mit meinen Eltern in Washington letztes Jahr."

    „Ich erinnere mich. Ihr habt den Präsidenten beeindruckt. Nein, er korrigierte sich rasch. „Ihr habt die gesamte amerikanische Nation beeindruckt. Aber Ihr braucht nicht nervös zu sein. Die Autos warten am Fuß der Treppe. Ihr müsst nur hinabgehen und einsteigen. Niemand verlangt von Euch eine Rede oder sonst eine Reaktion. Erst einmal solltet Ihr einfach nur heimkommen.

    Der Sinkflug begann. Wenn Constance hinausgeschaut hätte, wäre ihr der Rauch über der Hauptstadt aufgefallen. So aber blickte sie konzentriert auf den Polsterbezug des Sitzes ihr gegenüber und versuchte, gegen die Übelkeit anzukämpfen.

    Erst als das Flugzeug wieder festen Boden unter den Reifen hatte, fiel ihr Blick auf das Rollfeld. Der Platz war schwarz vor Menschen, die alle dicht gedrängt standen und warteten, dass sich die Bordtür öffnete. Von ihrem Sitz aus konnte Constance sehen, dass die Treppe herangefahren wurde und mehrere Autos im Schritttempo durch die Zuschauer hindurch vorrollten.

    „Wir können, Hoheit." Christobald stand nun neben ihr, mit dem obligatorischen immer mal wieder krächzenden und Wortsilben spuckenden Funkgerät in der Hand, und auch Leutnant Lucas war in der Nähe. Seine Sonnenbrille hielt die Prinzessin noch immer in der Hand.

    Constance erhob sich, atmete tief durch und schritt dann den Gang hinab zur Luke. Sie war schon oft aus dem Flugzeug gestiegen und schon oft waren Menschen zu ihrer Begrüßung anwesend gewesen. Aber meist war sie in Begleitung ihrer Eltern gereist und das Volk hatte gejubelt, wenn sich die Tür öffnete.

    Heute waren die Anwesenden still. Constance trat auf die oberste Plattform der Treppe und schaute hinab. Sie sah die Menschen zu ihr aufblicken und sie konnte die Emotionen spüren, die über dem Platz lagen. Da waren Angst, Schrecken, Verwirrung und sehr viel Trauer, aber auch ein wenig Hoffnung. Es war das, was sie selbst empfand, und es zeigte ihr, wie wichtig es war, jetzt für ihre Bürger da zu sein, präsent zu sein als eine Konstante, auf die sie bauen konnten. Wenn sie es wollten. Noch immer zweifelte sie, der Aufgabe gewachsen zu sein.

    Constance setzte einen Fuß auf die erste Stufe, als jemand in der Menge zu klatschen begann. Es war kein frenetischer Beifall, wie sie ihn sonst kannte, sondern ein erwachsenes ruhiges und gleichmäßiges Klatschen. Ein ernster Willkommensgruß, wie er angesichts der Krise angemessener nicht sein konnte. Der Beifall wurde lauter. Mit jedem Schritt, mit jeder Stufe, die sie hinabging, stimmten mehr Menschen ein, bis eine Lautstärke erreicht war, die schon beinahe schmerzte. 20.000 Hände, die sie willkommen hießen. Hinter sich fühlte Constance ihre zwei wichtigsten Begleiter hinabsteigen, aber sie drehte sich nicht um. Keine Unsicherheit zeigen. Das würde die Bürgerschaft nun nicht ertragen. Sie waren froh, dass noch ein Teil der Königsfamilie lebte, um dem Staat weiter zu dienen. Sie waren froh, dass Constance zurückgekehrt war, egal wie jung sie war, egal ob sie ihre Ausbildung beendet hatte. Wie hatte sie glauben können, dass man sie nicht als Regentin akzeptieren würde?! Wieso hatte sie ihrem eigenen Volk nicht besser vertraut?! Jetzt war sich Constance sicher, dass ihre Rückkehr das Richtige gewesen war.

    Am Fuß der Treppe stand eine Ehrengarde, die salutierte, sobald ihre neue Befehlshaberin den Boden berührt hatte. Sie schaute über den Platz und fühlte die Blicke auf sich liegen. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, die Sonnenbrille aufzusetzen und sich damit quasi vor ihrem eigenen Volk zu verstecken, aber sie wusste, dass es die vollkommen falsche Geste gewesen wäre.

    Christobald sprach sie leise von hinten an: „Hoheit, die Wagen warten. Ihr solltet jetzt einsteigen."

    Constance blinkerte noch einmal mit den Augen. Ein Zeichen, dass sie nachdachte.

    „Wir ändern den Plan, Christobald. Ich will mein Volk begrüßen."

    „Hoheit, nicht! Bitte!"

    „Ich trage eine Schutzweste und hier sind mehr Soldaten als bei einem kleinen Manöver. Es wird nichts geschehen. Aber ich denke, ich sollte es tun. Sir Phillip schaltete sich ein: „Politisch und gesellschaftlich wäre das eine gute Entscheidung, aber wenn es sicherheitstechnisch nicht zu verantworten ist, Hoheit, solltet Ihr Euch das noch einmal überlegen.

    „Ich habe überlegt. Und meine Entscheidung getroffen."

    Christobald hatte schon seinen Untergebenen ein paar schnelle Zeichen gemacht. Erstaunen stand in den Blicken einiger Soldaten, doch sie reagierten sofort.

    Mit zwei entschlossenen Schritten trat Prinzessin Constance durch das Spalier der Garde und ging quer über das Rollfeld auf die Menschenmenge zu ihrer linken Seite zu, die nun erstaunt und begeistert zu rufen begann. Mit einem Blick aus den Augenwinkeln sah Constance, dass sich je zwei Soldaten rechts und links von ihr befanden und sie wusste, dass weitere hinter ihr gingen. Christobald und Lucas waren mit in diesem Schutzkessel und sie belauerten die Gegend, um abschätzen zu können, wie hoch die Gefahr eines Anschlages war.

    Doch das waren die Sorgen der Sicherheitsleute. Constance musste sich nun auf etwas anderes konzentrieren. Sie schüttelte die ihr entgegengestreckten Hände. Sie sprach hier und da ein paar Worte mit den Zuschauern, sie streichelte einem Kind über den Kopf, das hinter den Absperrgittern zu ihr aufschaute. Das war es, was man von ihr erwartet hatte, worauf man sie ihr Leben lang vorbereitet hatte. Das Jurastudium war ein Scherz gewesen, eine Freizeitbeschäftigung, bis ihre Zeit gekommen war. Jetzt war es so weit zu zeigen, dass sie eine gute Regentin sein würde. Eine Regentin, die für ihr Volk da war, wenn es sie brauchte.

    Sie spürte, dass der Kontakt den Menschen gut tat, dass sie das Gefühl bekamen, wichtig zu sein. Sie merkten, dass da jemand war, der sich um ihre Probleme und Sorgen kümmerte, dass da jemand war, der Entscheidungen treffen konnte und wollte.

    Sie ging die Menge entlang, die sich U-förmig um das Flugzeug postiert hatte, bedingt durch die Absperrgitter, die die Armee zur Sicherheit aufgestellt hatte. Kameras surrten und blitzten unentwegt. Constance konnte sich schon vorstellen, was morgen in den Zeitungen stand. Auf Seite 1 der Anschlag, auf Seite 2 die Bilder von ihrer Rückkehr. Warum auch nicht? Auch das kannte sie schon. Nur dass sie sonst zuvor von einem Modeberater ausstaffiert worden war. Und heute trug sie unter dem Mantel, der wie in einem Wildwestfilm immer wieder aufwehte, Bluejeans und eine weiße Bluse, von der fast nicht zu sehen war, weil noch immer die Schutzweste auf ihrem Körper lastete. Sie wanderte weiter und schüttelte Hände und lächelte Fremde aufmunternd an. Sie sah nur Hände und Köpfe und Körper. Die Umgebung versank hinter diesem Menschenmeer. Dann war sie auch auf der rechten Seite angekommen und machte dort weiter, bis sie beinahe die ganze Front abgelaufen hatte.

    „Hoheit, sagte ein älterer Mann, der ihre Hände in den seinen hielt. „Hoheit, uns geht es ja gut! Aber was wird aus den Menschen am Palast? Wie kann man denn nur helfen?

    Jetzt erst wanderte Constances Blick das erste Mal über die Köpfe der Menschen hinweg in die Richtung, von der sie wusste, dass dort der Palast lag. Eine Rauchsäule stieg auf und sie glaubte sogar, Flammenschein erkennen zu können. Der Qualm lag über der ganzen Stadt und bewegte sich langsam auf den Flughafen zu. Constances Hände wurden schlagartig kalt und sie spürte einen Eisklumpen in ihren Magen fallen. Was sie in der Stadt sehen würde, musste einer Hölle gleichkommen.

    Sie wusste selbst, dass ihre Stimme spröde klang, als sie dem Mann antwortete: „Ich werde mich darum kümmern. Ich werde für Hilfe sorgen. Das verspreche ich Ihnen."

    Dann wandte sie sich um und ging mit ihren Begleitern endlich zu den wartenden Fahrzeugen. Die Stille im Fond war eine Wohltat, aber wirkliche Entspannung konnte dies heute nicht für die Prinzessin bringen.

    „Können wir jetzt ins Hotel fahren, Hoheit?", fragte Sir Phillip. Er war müde und er sorgte sich um seinen jungen Schützling. Nach der langen Zeit im Privatleben konnte sie sich leicht übernehmen mit den offiziellen Aufgaben.

    Constance aber schüttelte den Kopf: „Nein, wir fahren zum Palast."

    „Tut Euch das nicht an! Nicht heute! Es ist verheerend zu sehen."

    „Ich muss dahin! Irgendwann muss ich hin. Und lieber früher als später. Je länger ich es hinauszögere, desto schlimmer wird es. Das wissen wir beide."

    Sir Phillip nickte. Er sah ein, dass sie diesen schweren Gang hinter sich bringen wollte, aber ihm war nicht wohl dabei zumute.

    Diesmal kam erstaunlicherweise Christobald seiner Regentin zu Hilfe: „Ich befürworte die Idee, Hoheit. Ein Besuch ohne Vorankündigung, ohne Planung. Hier am Flughafen wusste man, dass Ihr ankommt. Aber am Palast wird Euch niemand vermuten. Ihr solltet dort sicher sein. Constance nickte dankbar. Damit war das beschlossen. „Aber lasst den Fahrer einen Umweg fahren, damit meine Leute einen Vorsprung haben, um den Platz zu sichern.

    Das war ein Vorschlag, mit dem Constance leben konnte. Ob sie nun zehn Minuten früher oder später ankam, hatte wirklich keine Bedeutung.

    Während der Fahrt durch die Stadt starrte sie hinaus, sah, dass die Menschen der Limousine mit den Standarten der Königsfamilie hinterherschauten. Seltsam, vor wenigen Stunden noch war sie mit dem Rad zur Ausbildung gefahren. Das erschien ihr so weit weg, nun da sie in einer Limousine saß, als neue Regentin eines ganzen Staates.

    Es verging eine gute halbe Stunde, bis sie den Palastbereich erreicht hatten. Der Rauch war dichter geworden, Brandgeruch war nun auch in das Innere des Autos eingedrungen. Seit einigen Metern lagen schon Trümmer auf den Straßen und Wegen, aber nun war die Straße komplett versperrt durch Schutt.

    Die Gruppe stieg aus und ging zu Fuß auf den Tatort zu. Constances Blick tastete die Umgebung ab. Hier war einmal ein wunderschöner Platz mit einer großen Fontäne gewesen. Er hatte den Vorbereich des Palastes dargestellt, der mitten in der Stadt gelegen war. Hier unten hatte sich das Volk oft versammelt zu Feiern oder Ansprachen. Es war das Herz der Hauptstadt gewesen. Hier hatten sich am frühen Morgen die Bürger der Hauptstadt eingefunden, um zusammen mit dem Königspaar die ersten Sonnenstrahlen des Feiertages zu begrüßen. Eine viertel Million Menschen soll hier gewesen sein, nicht ahnend, dass sie Opfer eines Anschlages werden sollten.

    Jetzt glich die Gegend einem Kriegsschauplatz, alles war grau und verbrannt. Angstvoll lenkte die Prinzessin ihren Blick weiter und schaute auf das, was einmal der Palast gewesen war. Die gesamte Vorderfront war weggesprengt worden. Die Säulen, die Fenster, alles war weg. In den verbliebenen Teilen loderte noch immer ein immenses Feuer, das sich stetig durch das Gebäude fraß. Feuerwehrwagen und Krankentransporter standen bereit und tauchten den Ort mit ihren Blinksignalen in ein beunruhigendes, blau zuckendes Licht. An den Seiten des Platzes waren notdürftig Behandlungszelte errichtet worden, aber der Raum reichte nicht aus. Verletzte lagen und saßen im Freien, Sanitäter und Retter rannten von einem zum anderen. Zu dem vordersten der Zelte führte Sir Phillip die Gruppe nun hin, aber Constance stolperte wie betäubt durch das Chaos. So viel Blut, so viel Schutt. Der Anblick hatte sie tiefer getroffen, als sie es erwartet hatte. Und der Gedanke, dass ihre Eltern unter diesen Trümmern gestorben waren, verschlimmerte das Gesehene noch einmal. Sie blieb stehen und drehte sich um die eigene Achse, um den ganzen Irrsinn des Attentates sehen zu können.

    „Weg da, wir arbeiten hier!", fuhr eine barsche Stimme sie an. Ein Sanitäter, der mit einem Kollegen eine Trage hielt, hatte sie fast über den Haufen gerannt. Die Frau auf der Liege war aschfahl, Blut sickerte aus Wunden in ihrem Gesicht. Der Rest des Körpers war gnädigerweise von einer Decke verborgen, aber die Konturen ließen auf weitere schwere Verletzungen schließen.

    Der Ruf hatte die Verletzte aus ihrer Agonie gerissen und ihre Augen aufschlagen lassen. Sie erkannte die junge Frau und streckte die Hand aus.

    „Hoheit! Ihr seid da!"

    Jetzt erst blickten die Sanitäter auf und erschraken, wen sie da beinahe umgerannt hatten. Sie setzten an, sich zu verbeugen, aber Constance ließ es gar nicht so weit kommen. Mit einer raschen Handbewegung trieb sie die Retter an, weiterzulaufen, nicht ohne vorher die Hand der Frau gefasst zu haben.

    „Halten Sie durch. Gleich wird Ihnen geholfen." Sie spürte das Blut der Fremden an ihren Finger herabfließen und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

    Dann liefen die Sanitäter weiter, um der Verletzten endlich eine Behandlung zukommen zu lassen.

    Schnell eilte die Gruppe weiter zum Zelt des Einsatzleiters, der gerade ein Funktelefon in der Hand hielt und fragte, wie weit der Stand der Löscharbeiten war. Er erkannte die junge Frau in der Mitte der Militärs sofort und deutete einen Kniefall an, ohne das Telefonat zu unterbrechen. Er lauschte noch, als Constance ihm bedeutete, aufzustehen und die Unterlagen auf dem Klapptisch betrachtete. Dann legte der Einsatzleiter das Handy fort.

    „Hoheit. Es ist gewagt, hierher zu kommen." Dass er damit eigentlich ausdrücken wollte, dass sie ihn in seiner Arbeit störte, verstand die Prinzessin wohl, beachtete den Einwand aber gar nicht.

    „Was brauchen Sie hier?", fragte sie so unumwunden, dass der Einsatzleiter verwirrt den Kopf schüttelte.

    „Ich verstehe nicht, Hoheit."

    „Was benötigen Sie, um effektiv arbeiten zu können? Ist doch eine ganz einfache Frage. Woran mangelt es? Was muss optimiert werden?"

    Jetzt begriff der Einsatzleiter endlich, aber er war sich nicht sicher, wie weit er gehen konnte: „Mit einem Einsatz dieser Größe hat niemand in Sasson Erfahrung, nicht einmal durch Übungen. Wir kämpfen hier an mehreren Fronten. Das Feuer ist noch immer nicht unter Kontrolle. Der Feuerwehr geht das Wasser aus. Und die Suche nach Verletzten wird schwieriger, weil wir jetzt zu den dickeren Trümmerschichten kommen. Der Platz für die Leichtverletzten wird knapp. Wir müssten sie irgendwo zur seelischen Betreuung hinbringen können. Und dann …" Er stockte.

    „Was noch?", forderte die Prinzessin.

    „Es waren viele Kinder anwesend, von Chören und Tanzgruppen. Wegen der Feierlichkeiten. Viele sind ohne Eltern gekommen, aus den Städten der Umgebung. Wir können uns gar nicht um alle Kinder kümmern. Einige rennen hier hin und her und verstehen gar nicht, was geschehen ist."

    Constance nickte. Sie hatte einen Stift und ein Blatt Papier vom improvisierten Schreibtisch des Einsatzleiters genommen und mitgeschrieben. Jetzt wandte sie sich an Christobald: „Kontaktieren Sie das Streitkräftehauptquartier. Die Hundestaffel soll bei der Suche nach Verletzten helfen. Und es sollen mobile Küchen herbeigeschafft werden, die die Leute mit Tee, Wasser und Suppe versorgen können."

    Christobald zog sein Funkgerät heraus. Das war eine Entscheidung, die er voll und ganz unterstützen konnte.

    Constance wandte sich nun an den Einsatzleiter: „Sie weisen die Feuerwehr an, Wasser aus dem Palastgarten zu entnehmen. Jeder Teich kann angezapft werden. Wirklich jeder. Selbst wenn ein Koi dabei stirbt, ist es egal. Das Feuer darf nicht auf andere Gebäude übergreifen. Auch er griff zum Funkgerät, während Constance weiterredete: „Sir Phillip, wir lassen die Schulgebäude öffnen. Dort können Leichtverletzte und Desorientierte gesammelt und versorgt werden. Die Armee soll Decken und Feldbetten mitbringen, rief sie Christobald noch zu, der auch dies sofort weitergab. Wieder an Sir Phillip gerichtet, sprach sie weiter: „Und für die Betreuung der Kinder holen wir jeden Lehrer, jede Lehrerin, jede Kindergärtnerin heran. Sie werden verpflichtet. Jeder, der eine pädagogische Ausbildung hat. Jeder Erzieher soll eine Gruppe von höchstens fünf Kindern betreuen. Nicht mehr, damit für jeden genug Zeit bleibt, sich die Ängste und Erfahrungen anzuhören. Klar?"

    „Ja, Hoheit. Aber das sind Notstandsmaßnahmen."

    Constance wurde ungehalten: „Hiermit rufe ich den Notstand aus! Zufrieden?" Dieses Recht stand nur ihr als Regentin zu.

    Sir Phillip nickte beruhigend: „Das wollte ich nur vor Zeugen hören. Jetzt können wir rechtmäßig weitermachen."

    Die Regentin schnaufte tief. Dass sogar in einer solchen Situation Regeln beachtet werden mussten, war eine Schande. Aber es lief ja alles soweit.

    „Ist Kontakt aufgenommen worden mit den Krankenhäusern im Ausland? Falls unsere Kapazitäten nicht ausreichen? Der Einsatzleiter nickte bestätigend. „Und wie sieht es mit Blutkonserven aus?

    „Die werden mit Sicherheit knapp werden."

    „Christobald, sind Ihre Leute noch am Flughafen? Der nickte schnell. „Sie sollen ein Lazarett einrichten, in dem Blut gespendet werden kann. Ich denke, jeder der dort Anwesenden ist dazu bereit. Und wenn es nur jeder Zweite ist, können wir damit arbeiten. In Rundfunk und Fernsehen soll zu Blutspenden mit Hinweis auf den Standort aufgerufen werden.

    Er griff schon wieder zu seinem Funkgerät. Constance dachte an den alten Mann am Flughafen und konnte sich vorstellen, dass er einer der ersten Spender sein würde. Gerade setzte Constance an, noch etwas zu sagen, als zwei Männer in das Zelt traten.

    „Die Statik ist … setzte der jüngere der beiden Männer an, als er plötzlich die Gruppe um den Einsatzleiter registrierte und erkannte. Er ebenso wie sein Kollege verbeugte sich rasch, bevor er weitersprach. „Hoheit. Das ist gut, dass Ihr hier seid. Er war so selbstsicher, dass die Prinzessin aufatmete. Endlich mal jemand, der sie als Mensch sah und nicht direkt vor Ehrfurcht sprachlos wurde. Sie musste sich erst wieder daran gewöhnen, außerhalb der Gesellschaft zu stehen. Wie hatte sie es während des Studiums genossen, Teil einer Gruppe zu sein, eine Gleiche unter Gleichen. „Die Statik in den

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