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Das Gefühl des Augenblicks: Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms
Das Gefühl des Augenblicks: Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms
Das Gefühl des Augenblicks: Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms
eBook479 Seiten8 Stunden

Das Gefühl des Augenblicks: Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms

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Über dieses E-Book

»Nichts ist spannender als die Realität«: Ganz nach diesem Motto teilt der mehrfach prämierte Dokumentarist Thomas Schadt seine Leidenschaft für den Beruf des Dokumentarfilmers mit uns. »Dokus« boomen wie nie zuvor, ob im Fernsehen, im Internet oder auch im Kino. Doch was ist bei all der Vielfalt dokumentarischer Formate und Methoden mit dem klassischen Dokumentarfilm als Autorenfilm, der mehr von der persönlichen Handschrift eines Autors lebt als von einem vorgegebenen Format?

Nach einer kurzen aufschlussreichen Reise durch die Theorie des Dokumentarfilms, weiht Thomas Schadt uns auf äußerst lebendig-unterhaltsame Weise in die Praxis und Realität seines Berufs ein: von der Idee, Recherche, dem Exposé, der Finanzierung, des Teams, der Dreharbeiten, dem Schnitt … bis hin zur Filmpremiere.

»Alles ist Dramaturgie, Dramaturgie ist alles« – und dann ist da aber auch der unumstößliche Glauben an die eigene Filmidee, die hohe Kunst des Wartens, die Fähigkeit, mit unvorhergesehenen Ereignissen zu improvisieren, die immense Verantwortung gegenüber den Protagonisten und vieles mehr. Wie eigen und unberechenbar dokumentarische Arbeitsprozesse sein können, erzählt Thomas Schadt in zahlreichen spannenden Beispielen 35 Jahren Arbeit als Filmemacher. Mit großer Offenheit und Ehrlichkeit berichtet er von der Entstehung seiner Filme über den Amokläufer Robert Steinhäuser, über Helmut Kohl und über Christian Wulff und lässt uns unmittelbar an seinem reichen Erfahrungsschatz teilhaben.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Jan. 2017
ISBN9783739802237
Das Gefühl des Augenblicks: Zur Dramaturgie des Dokumentarfilms
Autor

Thomas Schadt

Thomas Schadt ist Professor an der Filmakademie Baden-Württemberg (Regiefach Dokumentarfilm) und seit 2005 auch der Direktor der Akademie. Er arbeitet seit 1983 als freier Dokumentarfilmer Produzent, Kameramann und Autor. Mit über 50 Filmen gehört er zu den bedeutendsten Regisseuren und Dokumentaristen Deutschlands.

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    Buchvorschau

    Das Gefühl des Augenblicks - Thomas Schadt

    A

    ZUR THEORIE

    A1 Der Rosenbusch

    A2 Der Dokumentarfilm als Gattung

    A3 „Dokus"

    A4 Wahrheit und Wirklichkeit

    A5 Das Gefühl des Augenblicks

    A6 Hinter der Kamera, vor der Kamera

    A7 Distanz und Nähe

    A8 Richtige und falsche Bilder

    A9 Innere Haltung, äußere Form

    A10 On und Off

    A11 Plan und Zufall

    A12 Komische Typen

    A1 DER ROSENBUSCH

    Oder: Was ist Dramaturgie?

    Sein Name war Tony oder besser: Antonio. Er war italienischer Abstammung, über 80 Jahre alt und hatte genau das Gesicht, das ich mir für meinen Film wünschte: eine Landschaft voller Furchen und Falten, ein einziger Beweis für ein gelebtes Leben voller harter Arbeit. Und seine Hände waren riesengroß, knochig, als ob er all die zurückliegenden Jahre das Kupfer allein und mit bloßen Händen aus den Minenstollen herausgeholt hätte.

    Es war im Herbst 1992, als ich in Montana/USA einen Dokumentarfilm über die ehemalige Bergarbeiterstadt Butte drehte. An diesem Tag waren wir mit Tony für ein Interview verabredet. Wie von anderen alten „Minern wollte ich mir auch von ihm die harte Arbeit untertage schildern lassen. Doch bei ihm war ich besonders aufgeregt. Ich spürte das seltene Glücksgefühl eines Dokumentaristen, in diesem Menschen ein ganz besonders starkes „Motiv gefunden zu haben.

    Nach der kurzen Begrüßung und einem kleinen Vorgespräch bereiteten wir das Interview in seinem Garten vor. Wir bauten unsere 35mm-Kamera auf, bemühten uns, ruhig und unauffällig zu agieren, und ich überspielte meine große Nervosität so gut ich konnte. Tony sah unserer Arbeit neugierig zu, und wir versuchten, möglichst professionell zu erscheinen.

    Dann sollte das Interview beginnen. Tony saß stolz auf seinem Gartenstuhl, alle waren konzentriert, und ich startete die Kamera. Mein „Motiv" blickte mich erwartungsvoll an, und ich begann zu fragen. In den folgenden Minuten erlebte ich jenes Waterloo eines Fragestellers, vor dem sich, glaube ich, jeder Dokumentarfilmer fürchtet. Wie die Arbeit im Stollen denn so gewesen sei, wie der Alltag da unten ablief, wollte ich wissen, welche Abenteuer er zu bestehen hatte, und so weiter. Was hätte ich darum gegeben, wenn Tony auch nur auf eine einzige meiner Fragen eine halbwegs brauchbare Antwort gegeben hätte. Aber nein, da saß er vor mir, dieses Prachtexemplar eines Bergarbeiters, und brachte nicht einen zusammenhängenden Satz hervor. Im Nachhinein kann ich diese quälenden Momente nur als gestörtes Kommunikationsverhältnis zwischen dem Fragesteller hinter der Kamera und seinem Gegenüber vor der Kamera beschreiben. Tony konnte mich inhaltlich einfach nicht verstehen, und ich hatte überhaupt kein richtiges Gespür für ihn. Ich wollte immer nur meine Fragen stellen und war nicht in der Lage, aus seinen wenigen, umständlich wirkenden Worten die eigentlichen Frageangebote herauszuhören.

    So verstrich Minute um Minute, und nach einer sehr teuren 300-Meter-Kassette wusste ich, dass wir nicht eine einzige brauchbare Sekunde Film im 13 Kasten hatten. Nach außen sichtlich um Fassung bemüht war ich innerlich völlig deprimiert und mit mir zutiefst unzufrieden. Mein Team spürte das, blickte verlegen zu Boden und ich beschloss abzubrechen. Ich bedankte mich sehr höflich bei Tony und sagte, um ihn nicht zu kränken, das Interview wäre ganz wunderbar gelaufen. Dann begannen wir, die Ausrüstung einzupacken.

    In diesem Moment geschah ein kleines Wunder, das ich erst sehr viel später richtig zu deuten wusste. Tony, in dieser Situation mindestens so unbeholfen und unzufrieden wie ich, fragte mich plötzlich, ob er mir seinen Rosenbusch zeigen dürfte. Für einen Moment war ich völlig irritiert. Einen Rosenbusch fand ich in dieser Situation so ungefähr das Allerletzte, was mir weiterhelfen könnte. Doch da die Situation sowieso völlig missglückt schien, war mir alles ziemlich egal und ich willigte ein. In einem Reflex und ohne darüber nachzudenken, fragte ich Tony, ob ich das drehen dürfe. Er nickte. Mein Assistent Thomas Keller legte mir die schwere Kamera mit einer neuen Kassette auf die Schulter. Ich schaltete sie ein und ging hinter ihm her zu seinem Rosenbusch, der etwas verlassen an der Rückwand des Hauses geduldig auf uns wartete.

    Tony stellte sich daneben, drehte sich zu mir um und begann ungefragt zu reden. Mit rauer Stimme erzählte er die kleine Überlebensgeschichte seines Rosenbusches, wie er ihn pflegen musste, damit er im Winter nicht erfror. Seine knochigen Hände holten dabei, so zärtlich es nur ging, Knospe für Knospe für die Kamera hervor. Von dieser unerwarteten Intensität erfasst, blieb ich wie angewurzelt und vollkommen fasziniert in gebührendem Abstand vor ihm stehen, veränderte weder meine Position noch die Brennweite, hielt die Kamera einfach ruhig und kam so zu einer meiner schönsten Filmeinstellungen überhaupt.

    Schon während der Aufnahme wusste ich, dass diese kleine Szene ein großer dokumentarischer Glücksmoment sein würde, wie Tony dastand, von seinen Rosen sprach, sie streichelte und zählte und darin wiederum in einer völlig unverhofften Metapher sein ganzes hartes Arbeitsleben offenbarte. Ich musste nur zusehen und zuhören. Für zwei Minuten waren Tony und ich ausschließlich darauf konzentriert, zum guten Ende unserer Begegnung doch noch die Sprache gefunden zu haben, um die wir vorher so vergeblich gerungen hatten. Er hatte etwas, worüber er wirklich reden wollte, hatte etwas, was er tatsächlich zeigen konnte. Und ich verstand endlich den Mund zu halten und nicht mit den falschen Fragen unbeholfenes Schweigen zu erzeugen. Später habe ich diese Einstellung in fast ganzer Länge in den Film montiert, und in vielen Zuschauerreaktionen wurde mir bestätigt, etwas „eingefangen" zu haben, was so schwer planbar und dennoch für jeden (Dokumentar-)Film unglaublich wichtig ist: Poesie.

    Als ich Jahre später anfing, mich auch theoretisch mit dem Filmemachen zu beschäftigen, habe ich noch oft an diese Situation gedacht. Was war passiert? Im Grunde waren damals zwei Menschen aufeinandergetroffen, die sich zwar sympathisch fanden, aber unfähig waren, miteinander umzugehen, weil sie sich fremd waren. Sie kannten sich nicht, wussten praktisch nichts voneinander. Klar war nur, dass der eine, der Filmemacher, etwas wollte und der andere nicht wusste, was das war. Und so richtig genau wusste es der Filmemacher ja auch nicht. Er hatte zwar ein Gefühl, war aber nicht imstande, es so zum Ausdruck zu bringen, dass es der andere verstehen konnte.

    Zwei sprachlose Wesen waren aufeinandergetroffen und hatten am Ende, weil sie sich mochten, die Situation so gerettet, wie es ihre Mittel zuließen. Es war, wie der Fotograf Robert Frank das nannte, „das menschliche Gefühl des Augenblicks. Ein wirklich seltener Glücksfall, nicht nur für den Film „Butte, Montana – Die vergessene Stadt selbst, sondern auch für mich persönlich.

    Später war ich in der Lage, aus dieser Begegnung mehrere Dinge abzuleiten, die das Wesen der dokumentarischen Filmarbeit im Kern beschreiben. Erstens: Bei der Filmarbeit treffen immer Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Erwartungen und Gefühlen aufeinander, die so miteinander in Verbindung gebracht werden müssen, dass eine Filmaufnahme entstehen kann. Es gilt, sie nach Möglichkeit verbal, auf jeden Fall jedoch nonverbal für den Moment der Aufnahme so aufeinander ab- oder einzustimmen, dass ein „richtiges Bild" zustande kommt.

    Zweitens: Ein Teil dieser Menschen befindet sich hinter Kamera und Mikrofon, der andere Teil davor. Man könnte auch sagen, der eine Teil versteckt sich hinter technischen Geräten, die dazu dienen, dem anderen Teil ein Stück seiner Seele zu nehmen.

    Drittens: Der Mindestabstand zwischen Kamera und Motiv muss so groß sein, dass die Kamerafrau oder der Kameramann noch die Möglichkeit hat, scharf zu stellen, und der Regisseur nicht den überlebenswichtigen klaren Blick auf sein Motiv verliert.

    Viertens: Beim Filmemachen ereignen sich in jeder Phase immer mehrere Dinge gleichzeitig, finden ständig auf parallelen Ebenen Prozesse statt, 15 die von den Beteiligten teils bewusst teils unbewusst wahrgenommen oder ausgeführt werden.

    Fünftens: Die Aufgabe eines Regisseurs besteht darin, sein Handwerk auf all diesen unterschiedlichen Ebenen gleich gekonnt auszuführen, sich als verantwortlicher Katalysator und Zentrum des Ganzen zu begreifen, um das komplexe und sensible Unternehmen Film steuern zu können. Dabei sollte er seine filmische Vision nie aus den Augen bzw. dem Sinn verlieren. Sechstens: Jeder Film ist ein eigener Mikrokosmos, auch jeder Dokumentarfilm, und die Suche nach der richtigen Dramaturgie beginnt für den Regisseur spätestens bei der Frage, ob es besser ist, mit geputzten oder nicht geputzten Schuhen aufzutreten. Anders formuliert: Alles ist Dramaturgie und Dramaturgie ist alles.

    Bei der dokumentarischen Arbeit geht es nicht nur um die klassische Dreioder Fünfaktdramaturgie oder um die manchmal geäußerte Annahme, Dokumentarfilm habe mit (dieser Art) Dramaturgie überhaupt nichts zu tun. Genauso irrig ist es zu glauben, beim Dokumentarfilm begänne das Nachdenken über Dramaturgie erst im Schneideraum.

    Recherche, Bildsprache, Tonebenen oder Interviewstrategien bestimmen genauso die Dramaturgie eines (Dokumentar-)Films wie eine richtige Exposition, Schnittrhythmus oder die herzustellende Identifikation des Zuschauers mit Thema und/oder Protagonisten.

    Zur Dramaturgie eines Dokumentarfilms gehören weiterhin, und das mag manchen überraschen, menschliche Verhaltensweisen. Zum Beispiel die des Regisseurs am Drehort. Oder auch bewusst gesetzte Fehler im Bildaufbau oder später im Schnitt, in der dramaturgischen Ordnung des Materials.

    Dramaturgie, davon bin ich fest überzeugt, geht in der dokumentarischen Arbeit jedenfalls weit über das hinaus, was gewöhnlich unter diesem Begriff subsummiert wird. Ich werde dies in den folgenden Kapiteln beispielhaft ausführen und es mag (angehenden) Dokumentarfilmregisseuren helfen, ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, welche Möglichkeiten sie im Umgang mit der Realität haben und welche Anforderungen ihnen dabei abverlangt werden.

    Damit ist die Grundthese meines Buches formuliert und ich werde mich im Folgenden bemühen, im Theoretischen wie im Praktischen zu erläutern, welche Philosophie und Erfahrungen der eigenen Arbeit sich dahinter verbergen. Die angeführten Beispiele aus meiner Filmarbeit wollen darüber hinaus Mut machen, auch dann noch an den Erfolg der dokumentarischen Methode zu glauben, wenn widrige Umstände, Unerfahrenheit, Unwissenheit oder sonstige Katastrophen den Prozess einer Filmproduktion zu gefährden drohen.

    A2 DER DOKUMENTARFILM ALS GATTUNG

    Oder: „Was ist ein Dokumentarfilm?"

    Im Herbst 1998 starteten der Dokumentarfilmer Christoph Hübner und ich über das „Haus des Dokumentarfilms, Stuttgart, unter Kollegen eine Umfrage. Die Frage lautete: „Was ist ein Dokumentarfilm?

    Ein Ergebnis der zahlreichen Antwortbriefe war, dass es im Meinungsbild zu dieser Frage keine disparatere Gruppe gibt als die der Dokumentarfilmer selbst. Die folgenden Zitate aus dieser Umfrage mögen verdeutlichen, wie schwierig es in der uns umgebenden Kultur-, Film- und Fernsehlandschaft geworden ist, ein einheitliches Credo zur Frage des Dokumentarischen zu formulieren.

    Christoph Hübner: Der Dokumentarfilm braucht für mich keine Abgrenzung gegen andere Genres. Im Gegenteil. Oft wird er gerade zu seinen Grenzen hin interessant. Und je radikaler man dokumentarischer arbeitet, desto selbstverständlicher gerät man immer wieder an diese Grenzen. Deutlich abgrenzen könnte sich der Dokumentarfilm allerdings vom spekulativen Voyeurismus, von der glatten, der professionellen Mittelmäßigkeit, aber auch von seiner manchmal fatalen Nähe zum Missionarischen, zur Schulstunde. Aber zugleich: Wer soll über diese Abgrenzung wachen?

    Clemens Kuby: Ist ein Maler, der die Berge rot oder blau malt, obwohl sie in Wirklichkeit vielleicht braun oder grün sind, ein Lügner, ein Manipulateur, dem das Handwerk gelegt gehört? Nein, er ist ein Künstler. Genau das sind wir Dokumentarfilmer auch, und ich bekenne mich dazu und ich gelobe, es in Zukunft noch stärker zu sein, und ich gelobe, mich von der Wirklichkeit nicht mehr einschränken zu lassen. Ich stehe zu meiner Manipulationsfähigkeit, denn sie ist mein Handwerk, mit dem ich meinen Auftrag als Künstler erfülle. Ich sage immer zu meinen Studenten: Den einzigen Film, den ich als Dokumentarfilm, im alten dokumentarischen Sinne, akzeptieren würde, ist der, den die Überwachungskamera im Bankschalter aufnimmt. Was hat dieser Film mit Kunst zu tun? Nichts! Und genau da sitzt der puristische Dokumentarfilmer in der selbst aufgestellten Falle.

    Hans-Dieter Grabe: Sie stellen schwierige, für mich zum Teil unbeantwortbare Fragen (wie viel Realität braucht ein Dokumentarfilm? Gegenfrage: In Gramm, Kilogramm oder Doppelzentnern?). Da ich kein Medienwissenschaftler oder Philosoph bin, will ich nur so viel sagen: Deutliche Abgrenzung braucht der Dokumentarfilm gegenüber allen Arten des Kulturfilms, da er zunehmend mit diesen in den großen Topf der „Dokus geworfen wird. Nachdem die Dokumentarserie Einzug in die deutschen Fernsehprogramme gehalten hat, ist darauf hinzuweisen, dass den Dokumentarfilm nicht nur die „echten Menschen vor der Kamera ausmachen, sondern auch die gesellschaftliche Haltung. Ja, ich meine, Dokumentarfilm sollte politisch sein.

    Peter Nestler: Es dreht sich nicht um Macharten, um technische Zauberkünste oder um Verfall durch Technik, sondern es dreht sich – wie in Urzeiten – um Moral und um den Respekt vor dem, was vor der Kamera ist. Es gibt keine reinen Urformen des Dokumentarfilms, der dann frei wäre von arrangierten Szenen. Auch hat der Dokumentarfilm nicht mit Richard Leacock begonnen, sondern mit den Anfängen des Films überhaupt. Schon die frühen Filme von Joris Ivens, „Regen und „Borinage, sind kein Abklatsch des Geschehens, aber der Respekt ist da und die Liebe zu den Leuten. Natürlich breitet sich die Korruption im sogenannten Dokumentarfilmbereich erschreckend aus, und damit die Verfälschung des (mit den Augen!) Gesehenen, und das Benutzen der Technik, um zu simulieren. Die Korruption hat mit der digitalen Technik ein sehr brauchbares Werkzeug bekommen, aber sie hat nicht ihren Grund in dieser Technik, sondern in der totalen Geschäftemacherei, die alles andere verdrängt, als Erstes die Suche nach der Wahrheit.

    Andres Veiel: Thesen vom Reinheitsgebot erinnern mich eher an die Wettbewerbskämpfe der Bierindustrie. Warum diese Angst vor einer Fiktionalisierung? Für mich ist es befreiend, mit Formen spielen zu können. Grenzen gibt es für mich nur dort, wo ich einen Protagonisten denunziere und gefährde. Im Bemühen um eine Definition des Begriffes Dokumentarfilm wurde für mich über diese Umfrage dreierlei deutlich.

    Erstens: Es gibt unter den Dokumentarfilmern einen Grundsatz-Konflikt, eine Diskrepanz zwischen Regisseuren wie Pepe Danquart oder Andres Veiel einerseits und Gisela Tuchtenhagen oder Peter Nestler andererseits. Sie äußert sich darin, wie über Abgrenzungen gesprochen wird. Benutzt Peter Nestler beispielsweise im Zusammenhang der Vermischung verschiedener (Spiel-)Formen das Wort „Korruption, sieht Andres Veiel gerade in diesem „Spiel eine Befreiung.

    Zweitens: Im Diskurs über Dokumentarfilm werden von allen zwangsläufig und ganz selbstverständlich viele gewichtige Begriffe benutzt: Wahrheit, Realität, Authentizität, Glaubwürdigkeit, Mut, Haltung, Korruption, Manipulation, Grenzen, Freiheit. Geht es allerdings darum, diese Abstraktionen zu definieren, zu konkretisieren, ist mitunter eine gewisse Ängstlichkeit oder Unsicherheit zu spüren, die sich oft in einer Form von Unmut und Lustlosigkeit äußert, sich mit dem Gehalt dieser großen Worte näher auseinanderzusetzen. Provozierend könnte man behaupten: Viele berufen sich auf Realität und Freiheit, aber nur wenige können oder wollen sagen, was sie darunter verstehen.

    Drittens: Einzig der Begriff der Glaubwürdigkeit wird von fast allen als unbedingte Voraussetzung genannt, um mit einem (Dokumentar-)Film qualitativ erfolgreich sein zu können. Die Frage nach der Methode, Glaubwürdigkeit filmisch herzustellen, wird jedoch sehr unterschiedlich beantwortet.

    Spätestens seit der Gründung der dänischen Dogmabewegung um Lars von Trier 1995 ist klar, dass äußere Formen und technische Methoden keine allein ausreichenden Erkennungsmerkmale für Fiktion oder Nonfiktion, für Kommerz oder Nonkommerz mehr sind. Zugespitzt auf die Situation der letzten Jahre muss man geradezu das Gegenteil feststellen. Während der Dokumentarfilm mehr und mehr mit Elementen der Inszenierung arbeitet, um die zwangsläufigen „Auslassungen und „Lücken seiner nonfiktionalen Handlung füllen zu können, und dabei das Kamerastativ längst zurückerobert hat, als gehe es darum, mit jedem Bild dem großen Spielfilmkino Konkurrenz zu machen („Mega Cities von Michael Glawogger), nutzt der große Spielfilm mittlerweile die Technik der verwackelten Handkamera, um der fiktionalen Handlung eine realistischere oder dokumentarischere Atmosphäre zu geben („Breaking the Waves von Lars von Trier, „Die Polizistin von Andreas Dresen oder „Der Sturm von Hans-Christian Schmid).

    Während also der Dokumentarfilm mehr und mehr die formale Perfektion des Spielfilms sucht, setzt der Spielfilm immer öfter auf die weniger perfekte Ästhetik des Dokumentarischen. Grenzen in Form vermeintlich genredefinierter technischer Methoden sind im Film längst aufgelöst. Als Dokumentarfilmer bin ich der Überzeugung, dass diese Entwicklung nicht die Auflösung der Gattungsbegriffe Spielfilm und Dokumentarfilm zur Folge haben kann. Wäre dies die Konsequenz, wäre es also „egal", ob man fiktional oder nonfiktional, Hauptsache funktional und erfolgbringend zur Emotion, zum Zuschauer, zum Ziel, zur Quote kommt, dann hätte sich meine Vision von der dokumentarischen Arbeit, nämlich mit einer in der Realität gefundenen Authentizität größtmögliche Glaubwürdigkeit beim Zuschauer zu erzielen, erledigt.

    Dabei geht es mir nicht um eine generelle Kritik an neuen Formen, Mischformen, Formaten und Techniken. Diese Vielfalt bietet ein großes kreatives Potenzial, das genutzt werden muss. Ich meine allerdings, es ist unbedingt erforderlich, die gewählten Mittel so einzusetzen, dass sie auch für den ungeübten Zuschauer zuzuordnen oder wenigstens erahnbar sind, „lesoder fühlbar" bleiben.

    Die Offenheit der Methoden, die Auflösung der formalen Grenzen muss der (Dokumentarfilm-)Regisseur reflektieren. Heutzutage, wo alles erlaubt scheint, jede Spielart zugelassen ist, muss er wirklich wissen, was er wie und warum auf diese Art macht und nicht auf eine andere. Dazu gehört sicher auch die Bereitschaft zur theoretischen Auseinandersetzung.

    Der Begriff Dokumentarfilm bezeichnet für mich in erster Linie eine Gattung. Mit seiner grundsätzlichen Definition „Nonfiktion bildet er den Gegenpol zum Spielfilm mit der grundsätzlichen Definition „Fiktion.

    Gleichzeitig ist der klassische Dokumentarfilm (damit gemeint sind Filme mit ausgewiesener, persönlicher Handschrift des Autors) selbst zu einer Subform der Dokumentarfilmgattung geworden. Denn eingeleitet durch die Entwicklung des Fernsehens als Massenmedium und die Einführung elektronischer Kameratechnik entstand eine Vielzahl von dokumentarischen Subformen wie Reportage, Feature, Dokumentation, Dokudrama und Dokuessay. Dazu gesellen sich neueste Modeerscheinungen wie Doku-Soap, Doku-Fake, Reality-TV und Reality-Soap.

    Das Symposium „Docu-Tanic" beschäftigte sich im Juni 2001 mit der Frage, wohin der Dokumentarfilm als Genre im öffentlich-rechtlichen Eismeer steuert. Dr. Renate Stegmüller vom Bayerischen Rundfunk gab in ihrer Einführung klare Definitionshilfen:

    Dr. Renate Stegmüller:

    Wahre Geschichten werden im großen Dokumentarfilm anders erzählt als in anderen dokumentarischen Genres. Unvereinbares wird zusammengeführt oder gegeneinandergestellt, wodurch ein ganz neues Bild unserer Wirklichkeit entsteht. Es geht, um mit Gilles Deleuze zu sprechen, um zwei Fragen: „Was gibt es im Bild zu sehen? und „Was gibt es hinter dem Bild zu sehen? Durch ungewohnte Sichtweisen, durch widerspenstige Interpretationen der Wirklichkeit, durch besondere Ausdrucksformen stellt der Dokumentarfilm unser Weltbild infrage, überprüft es, verändert es, befreit uns von Klischees, unterhält uns. (...) Dokumentarfilmer sollten sich als Impulsgeber für das dokumentarische Fernsehen begreifen.

    Mir geht es um den Dokumentarfilm, der in seiner Interpretation von Wirklichkeit in erster Linie auf reale Authentizität setzt und diese mit filmischen Mitteln und einer filmischen Dramaturgie so gestaltet, dass sowohl Thema, Motive und Protagonisten als auch Handschrift und Haltung des Autors darin ihren eigenen Ausdruck finden.

    Dokumentarfilm ist Realität, nonfiktionale Realität. Natürlich gibt es auch im Spielfilm Realität. Gerade Regisseure wie Andreas Dresen („Nachtgestalten, „Die Polizistin) interessieren sich stark für (einen dokumentarisch wirkenden) Realismus. Doch durch die Mittel der Inszenierung bleibt diese Realität immer eine fiktionale Realität. Man könnte auch sagen, Realität gibt es im Dokumentarfilm wie im Spielfilm, nur zeigt sie sich anders. Was im Übrigen keine grundsätzliche Wertung impliziert. Ein Spielfilm kann weitaus realistischer, also näher am (nonfiktionalen) Leben sein als ein Dokumentarfilm. Vilém Flusser definiert diesen Unterschied so:

    Vilém Flusser:

    Betrachtet man im Kino den Unterschied zwischen der Wochenschau und dem darauffolgenden Film, ist man verleitet, ihn folgendermaßen zu definieren: Die Wochenschau stellt etwas dar, zum Beispiel einige zu diesem Zweck ausgewählte öffentliche Ereignisse einer Woche, und der Film stellt etwas vor, zum Beispiel Episoden aus dem Liebesleben fiktiver Personen. Der Unterschied zwischen Vorstellung und Darstellung wäre seinerseits folgender: Bei der Darstellung wird – wenn auch nur mittelbar, nämlich mittels eines Films – die Wirklichkeit empfangen. Bei der Vorstellung vermittelt der Film nicht die Wirklichkeit, sondern eine Fiktion, welche auf die Wirklichkeit deutet. Dieser Unterschied lässt sich auch folgendermaßen formulieren: Bei der Darstellung kommt irgendwie die Wirklichkeit zum Vorschein. Bei der Vorstellung kommen Symbole zum Vorschein, welche die Wirklichkeit bedeuten. Die Darstellung bedeutet nichts, denn sie stellt etwas aus, das da ist. Die Vorstellung bedeutet etwas, das zwar nicht da ist, aber das durch das Ausgestellte vertreten und ersetzt wird. Kurz, bei der Darstellung empfängt man Zeichen der Wirklichkeit, bei der Vorstellung Symbole, die die Wirklichkeit vertreten.

    Im Dokumentarfilm geht es um nonfiktionale Realität, das Dokumentieren des real stattfindenden, nonfiktionalen Lebens. Für mich ist diese Form von Realität ein unerschöpfliches und faszinierendes Angebot. Ich will Realität so dokumentieren, dass sie authentisch und deshalb für den Zuschauer glaubwürdig erscheint. Aus Realität leitet sich Authentizität ab, aus dokumentierter Authentizität wiederum Glaubwürdigkeit. Und da fast alle Dokumentarfilmer glaubwürdig sein wollen, ist in dieser Aktionsfolge meiner Ansicht nach der eigentliche Auftrag festgeschrieben.

    Der Auftraggeber ist der Zuschauer. Und zwar ist das nicht der mit allen Wahrnehmungswassern gewaschene und deshalb durch und durch misstrauische Profi-Cineast oder der von allen Filmtheorien bis zur Wahrnehmungsohnmacht getriebene Filmintellektuelle. Es ist der ganz normale Zuschauer, der Wahrnehmungsamateur, der weit in der Überzahl (Gott sei Dank!) immer noch die Erwartung hat, ein Dokumentarfilm zeige etwas Reales, ein Stück Wirklichkeit, und nicht etwas Fiktionales, Erfundenes (wie er es vom Spielfilm erwartet) oder etwas Gefälschtes (womit er im dokumentarischen Fernsehen leider immer öfter konfrontiert wird). Sein Auftrag lautet: Zeig mir ein Stück Realität in der Art, dass ich sowohl dir als auch deiner dokumentierten Realität glaube, oder noch besser: dass ich dir glaube und deshalb auch deiner dokumentierten Realität.

    Seinem geradezu naiven Glauben an das Dokumentarische als Abbild von etwas Realem fühle ich mich verbunden, verpflichtet. Deshalb unterwerfe ich alle Aspekte meiner Arbeit dem Ziel, am Ende glaubhaft zu sein, das mir entgegengebrachte Vertrauen nicht zu (ent-)täuschen.

    Voraussetzung dafür sind die unablässige Neugierde und Freude auf Reales, auf reale Menschen, reale Orte, reale Geschichten. Dokumentarfilmer brauchen das Gespür, den Blick für das wahrhaftige und unverwechselbare reale Leben. Bei ihrer Arbeit müssen sie ständig auf der Suche nach Authentizität sein. Nur die authentischen Momente, zum Beispiel der Mensch mit der unverwechselbaren Geste, der originalen Sprache, dem nicht vorhersehbaren Blick, dem echten (oder echten falschen) Lachen oder Weinen, besitzen die für den Zuschauer rational und/oder emotional erkennbare Glaubwürdigkeit, die ein Dokumentarfilm dringend benötigt. Weiterhin müssen Dokumentarfilmer der unbedingten Überzeugung sein, dass dieser authentische, wahrhaftige Moment die nötige filmische Kraft besitzt, den Zuschauer in seinen Bann zu ziehen, sich eben gerade durch nonfiktionale Realität von fiktionaler Realität unnachahmlich zu unterscheiden.

    Dokumentarfilmer sollten die sie umgebende Realität als etwas Unverwechselbares verstehen, als ständige Überraschung. Darüber könnten sie zu der Überzeugung gelangen, dass zu findende Segmente der Realität sei genauso interessant, spannend, gefühlvoll und filmisch wie jede nachgestellte Szene, jede Inszenierung, jeder Spielfilm.

    Die Auslassungen innerhalb der Realität (nicht alles ist zeigbar), mit denen der Dokumentarfilmer im Gegensatz zum Spielfilmer (alles ist zeigbar) konfrontiert wird, darf er nicht als Nachteil, sondern muss er als Vorteil verstehen. Etwas „nicht zeigen zu können sollte nicht mit der billigen Floskel „dann stellen wir das halt nach beantwortet werden. Etwas weg- oder auszulassen kann authentischer und damit aussagekräftiger sein, als etwas bewusst nachzustellen oder gar zu fälschen. Das unterscheidet den Dokumentarfilm nach meinem Verständnis wesentlich vom (Fernseh-)Journalismus, der in seiner zentralen Aufgabenstellung eine möglichst lückenlose und dichte Fakten- und Informationslage zu schaffen hat. Der Dokumentarfilm lebt in seiner Dramaturgie dagegen auch vom bewussten Weglassen oder Einschränken der Informationsfülle, um an ihrer Stelle Raum und Zeit für andere Blickwinkel, andere Betrachtungsweisen und Reflexionen zu gewinnen. Dokumentarfilm ist Film. Er dokumentiert ein Stück Realität mit filmischen Mitteln, mit bewusst gestalteten Kamerabildern; mit genau gehörten und sorgfältig erfassten Originaltönen; mittels einer Montage, die ihren Schnittrhythmus nicht einem Zeitgeist nachempfindet, sondern ihn von Gehalt und Inhalt des Film(-material)s ableitet. Weiter definiert sich der Dokumentarfilm über eine filmische Dramaturgie, eine Erzählform, die den Film in seinem Spannungsbogen als etwas Ganzes begreift und strukturiert und nicht als bloße Aneinanderreihung von Einzelszenen, die durch Off-Texte zusammengehalten werden.

    Er braucht in seiner Erzählung, sei sie narrativ, essayistisch oder experimentell angelegt, für den Zuschauer nachvollziehbare Strukturen in Form einer schlüssigen, in den einzelnen Filmsegmenten aufeinander abgestimmten Dramaturgie. Diese Dramaturgie ist eine Verabredung mit dem Zuschauer, die es ihm ermöglicht, den Film zu lesen. Und der darf nicht nur informieren. Nein, er muss beim Zuschauer Gefühle freisetzen, Fragen stellen (nicht nur beantworten), Platz lassen für eigene Gedanken, die eigene Fantasie. In seiner Metasprache schließlich muss er Poesie entwickeln, sein Geheimnis bewahren, Seh- und Hörräume öffnen, die über die vordergründige Geschichte hinausweisen und wie ein Spiegel auf die Existenz des Zuschauers zurückverweisen. Nur dann wird der Zuschauer länger als eine Nacht „das Bild", das er von diesem Film mit nach Hause genommen hat, in seinem Gedächtnis bewahren.

    A3 „DOKUS"

    Oder: Dokumentarfilm und Fernsehen

    Noch immer gern erzählt der Dokumentarfilmregisseur Klaus Wildenhahn mit einem verschmitzten Lächeln aus der Zeit, bevor die Kamerafirma Arriflex die ersten leichten, schallgedämpften [geblimpten] Schulterkameras auf den Markt gebracht hatte. Das war Mitte der 60er-Jahre. Schon 1964, darauf verweist er zu Recht mit dem Stolz eines Erfinders, hätte er anlässlich eines CSU-Parteitages den damaligen „Panorama-Chef des NDR, Eugen Kogon, zu einem kleinen Experiment überredet. Für einen Magazinbeitrag wollte er, einmal abseits vom aktuellen Nachrichtengeschehen, „beiläufige Impressionen zusammentragen, um daraus einen etwas „anderen" kleinen Film zu montieren, der weitgehend ohne Kommentar auskommen sollte.

    Inspiriert durch ein Interview mit den amerikanischen Dokumentaristen Richard Leacock, D. A. Pennebaker sowie Albert und David Maysles über deren Idee und Methode des „Direct Cinema beschlossen Wildenhahn und sein Kameramann Rudolf Körösi, zu diesen Dreharbeiten weder Stativ noch Filmlicht mitzunehmen. Für damalige Verhältnisse geradezu ein revolutionärer Gedanke, bedenkt man, dass die zu dieser Zeit gebräuchliche geblimpte 16mm-Kamera viel zu schwer und unhandlich war, um sie auf der Schulter als „Handkamera einzusetzen, dass es keinen hochempfindlichen Film gab und auch die damaligen Ton-Aufnahmegeräte für das „Direct Cinema" noch zu schwer und unbeweglich waren.

    Mit Schulterstützen hielt sich Körösi die zwölf Kilo schwere Kamera vor die Brust und führte sie so ruhig er konnte, das hieß wackelig, aber dafür flexibel über den Parteitag. Wildenhahn und Körösi hatten auf diese Weise noch vor der Einführung geblimpter Schulterkameras die Methode des „Direct Cinema im deutschen Fernsehen ausprobiert. Neu daran war, nicht mehr mit zu viel und nur schwerfällig handhabbaren technischem Aufwand langsam und umständlich „neben, sondern unauffälliger und beweglicher „direkt bei den Menschen zu stehen. Ganz andere Perspektiven wurden dadurch möglich, andere Blickwinkel, die eine neue Form des Fernsehens ermöglichten, nämlich die der spontanen dokumentarischen Beobachtung. Egon Monk, der damalige Chef des NDR-Fernsehspiels, wurde auf Wildenhahns kurze „Abfallfilme, wie sie von Kollegen der Featureredaktion spöttisch genannt wurden, aufmerksam und holte ihn als Dokumentaristen in die Abteilung Fernsehspiel.

    Bei der herkömmlichen Art zu drehen, so Wildenhahn, war es eine starre Künstlichkeit, die alles überschattete. Lebendigkeit entstand immer erst dann, wenn die Kamera wieder ausgeschaltet war. Verhielten sich die Protagonisten im Scheinwerferlicht steif, so wurden sie umso lockerer, wenn nach Drehschluss bei einem Bier ungezwungen miteinander geredet wurde. Er fand das, was er vor und nach dem Dreh erlebte, immer interessanter als den eigentlichen Dreh und wollte sich vom starren Schema herkömmlicher Filmarbeit lösen, „in das Leben hineingehen, um zu nehmen, was man findet. Im spießigen und verklemmten Klima der frühen 60er-Jahre empfanden Wildenhahn, Körösi und andere dieses Ausbrechen aus der, wie sie es nannten, „synthetischen Art-Filme zu machen, als eine regelrechte „Befreiung".

    Hoch motiviert entwickelten sie die deutsche Variante des „Direct Cinema. Sie betrachteten das Leben ihrer Protagonisten, indem sie ihnen aus nächster Nähe bei ihrem Alltag „über die Schulter zusahen. Diese Technik wurde ein Label, ein formales Markenzeichen, das bis in die späten 70erJahre als strenges Dogma der Dokumentar-Puristen angewandt wurde: kleines Team, kein Stativ, keine Filmlampen, Originalton und Handkamera sowie die nötige Geduld und Anstrengung für die dokumentarische Beobachtung. Mit dieser Form war auch eine inhaltliche Richtung gekennzeichnet, eine durchaus links zu nennende (politische) Haltung. So war es für Wildenhahn und Körösi selbstverständlich, während der Dreharbeiten zu „In der Fremde, einem Film über den Alltag auf einer Baustelle, vor Ort in einem Bauwagen zu wohnen, mit den Arbeitern das Rohmaterial zu diskutieren und sich im Konflikt mit den Arbeitgebern mit ihnen zu solidarisieren. Dokumentarfilme wie „In der Fremde sind heute Fernsehgeschichte. Und da Wildenhahn immer als festangestellter Redakteur der ARD arbeitete, betrieb er auf diese Weise über Jahrzehnte eine überaus wichtige formale und inhaltliche (Film-)Opposition, die innerhalb und außerhalb des Fernsehens viele wegweisende und konstruktive Diskussionen auslöste.

    Seit dieser Zeit hat sich viel geändert. Auch wenn Klaus Wildenhahn noch so sehr darauf als technische Grundvoraussetzung für seine Dokumentar-Ideologie schwört, längst ist die Methode der beweglichen, „entfesselten Handkamera vom kommerziellen Spielfilm, den noch kommerzielleren Werbe- und Videoclips und nicht zuletzt von der ganzen TV-elektronischen Berichterstattung übernommen und adaptiert worden. Für eine spürbare Oppositionsarbeit innerhalb der Medien taugt der formale, ästhetische Aspekt des „Direct Cinema nicht mehr. Die einstigen „Gegner" haben sich diese stilistisch attraktive Methode einverleibt, um Inhalte und Haltungen zu verkaufen, die einst genau mit dieser Methode kritisiert wurden.

    Für mich hieß das schon in der Zeit meines Studiums an der DFFB in Berlin Anfang der 80er-Jahre, als Klaus Wildenhahn einer meiner Dozenten war, darüber nachzudenken, wie die inhaltlichen Standpunkte, die An- und Absichten des „Direct Cinema zu erhalten seien, wenn gleichzeitig die dafür angestammten ästhetischen Formen ihre Eindeutigkeit verlieren. Bei den Menschen stehen, nicht neben ihnen, lautete für mich die entscheidende Botschaft, die zentrale Erkenntnis, die mich die Auseinandersetzung mit dem „Direct Cinema unter anderem gelehrt hatte. In der Konsequenz war ich fortan bemüht, in meinen Filmen den Menschen als das eigentliche Zentrum meiner Aufmerksamkeit zu begreifen. Welche Ästhetik dafür allerdings die richtige sei, das wollte ich nicht nach einem Dogma, sondern aus dem jeweiligen Thema und seinen Erfordernissen ableiten.

    Dokumentarfilm ist in Deutschland ohne Fernsehen undenkbar. Seine Entwicklung ist seit der Entstehung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens im ehemaligen Westdeutschland vor 60 Jahren davon geprägt, dass ARD und später ZDF die größten Auftraggeber und damit Produzenten für deutschsprachige Dokumentarfilme waren und immer noch sind. Klaus Wildenhahn, Hans-Dieter Grabe, Eberhard Fechner, Dieter Ertel und die „Stuttgarter Schule", Roman Brodmann, Georg Stefan Troller, Harun Farocki, Hartmut Bitomsky – alle wichtigen Vertreter des (westdeutschen) Dokumentarfilms der 60er-, 70er- und 80er-Jahre haben teils festangestellt, teils als freie Auftragsproduzenten und Autoren ihre Filme innerhalb des Fernsehens verwirklichen können. Klaus Wildenhahn verweist in diesem Zusammenhang zu Recht auf sein großes Privileg, als Redakteur 30 Jahre lang im Schutze eines geregelten Einkommens mit Rentenanspruch die Filme gemacht haben zu können, die er wollte. Auch Dokumentarfilmregisseure

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