Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Filmwissen: Thriller: Grundlagen des populären Films
Filmwissen: Thriller: Grundlagen des populären Films
Filmwissen: Thriller: Grundlagen des populären Films
eBook841 Seiten18 Stunden

Filmwissen: Thriller: Grundlagen des populären Films

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Der Autor verfolgt das Genre von seinen Anfängen (Das Kabinett des Dr. Caligari, , M- eine Stadt sucht einen Mörder) über den film noir bis hin zum Schweigen der Lämmer, Illuminati und Shutter Island und zeigt was die Faszination des Genres ausmacht, welche Ängste und welche Hoffnungen es im Zuschauer auslöst und welchen Blick auf die Gesellschaft die Verbrecherjagd erlaubt.

Wie eigentlich jedes Filmgenre, wie jede "ordentliche" Geschichte, handelt der Thriller von Leidenschaft, von Sex und von Verbrechen, allgemeiner: von Grenzverletzungen innerhalb der gesellschaftlichen Regelungen. Doch anders als zum Beispiel im Gangsterfilm dient hier das Verbrechen nicht (oder doch nur in sehr neurotischer Weise) einem "sozialen Aufstieg über die Hintertreppe", und anders als zum Beispiel im Detektivfilm dient seine Aufklärung nicht dem gesellschaftlichen Konsens, ja das Verbrechen und seine Ahndung dienen, so scheint es zunächst, im Thriller sehr oft zu überhaupt nichts. Das Verbrechen ist weder vom Ursprung noch vom Ziel her eindeutig zu fassen, es wirkt eher wie das Zeichen für eine viel tiefer gehende Beunruhigung: Regeln und Gesetze werden da nicht so sehr verletzt oder umgangen, sondern gerade durch Übererfüllung oder durch die perfekteste Aufrechterhaltung des "schönen Scheins" ad absurdum geführt. Die Anpassung an tatsächliche oder gedachte Größen, weniger die Erfüllung eines Bedürfnisses als die einer Rolle, führt zur Gewalt. Am Ende von PSYCHO wissen wir, was mit Norman Bates und der seltsamen Liebe zu seiner Mutter geworden ist; es klingt vernünftig, was uns der Psychologe da erzählt, und doch beginnt hier die schreckliche Verlängerung dieses "Falls" in unser Alltagsleben hinein, und kein Sherlock Holmes wäre da, durch seine rationalization die völlige Normalität des Vernünftigen wiederherzustellen.
In einem Thriller steht das Verbrechen selbst, nicht seine Aufklärung, nicht seine Motivation, nicht seine Determination im Vordergrund.
SpracheDeutsch
HerausgeberSchüren Verlag
Erscheinungsdatum12. Juli 2013
ISBN9783894727079
Filmwissen: Thriller: Grundlagen des populären Films

Mehr von Georg Seeßlen lesen

Ähnlich wie Filmwissen

Ähnliche E-Books

Kunst für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Filmwissen

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Filmwissen - Georg Seeßlen

    Georg Seeßlen

    Filmwissen: Thriller

    Grundlagen des populären Films

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

    Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Schüren Verlag GmbH

    Universitätsstr. 55 · D-35037 Marburg

    www.schueren-verlag.de

    © Schüren 2013

    Umschlaggestaltung: Wolfgang Diemer, Köln unter Verwendung

    eines Fotos aus dem Film No Country for Old Men (Paramount/Miramax)

    Druck: CPI, Leck

    Printed in Germany

    ISBN 978-3-89472-706-2 (Print)

    ISBN 978-3-89472-707-9 (eBook)

    Inhalt

    Mythologie des Thrillers

    Thrill: Die Lust an der Angst

    Jahrmarktvergnügungen

    Thrill und Erotik

    Kinderspiele

    Gefährliche Wandlungen

    Die Probleme des Genres

    Das Verbrechen

    Die Angst

    Geschichte des Film-Thrillers

    Die Entwicklung des Suspense im Stummfilm

    Anfänge

    Griffiths The Musqueteers of Pig Alley

    Suspense in den Serials

    Fritz Langs Dr. Mabuse

    Vorläufer des Thrillers: Die 1930er Jahre

    Fritz Lang und die deutschen Kriminalfilme

    Alfred Hitchcock und die englischen Spionage-Filme

    Julien Duvivier und der Beginn des französischen Kriminalfilms

    Thriller und Schwarze Serie

    Voraussetzungen des amerikanischen Film noir

    Spionage-Filme der 1940er Jahre

    Psychologische Thriller

    Gefährliche Beziehungen

    Die schrecklichen Frauen

    Nachkrieg und Unfrieden: Themen des Thrillers

    New Realism und das Ende des Gangsterhelden

    Big Caper Movies

    Mörder und Opfer

    Die Rettung der Frauen

    Die tödlichen Intrigen

    Das Psycho-Syndrom

    Das James-Bond-Syndrom

    1980–1995: Die Zeit der Unübersichtlichkeit

    Die Agenten sind müde

    Sex & Crime im Courtroom: der Justizthriller

    Norman Bates kommt zurück

    Tödliche Spiele

    Blind Dates

    Trau’ den netten Menschen nicht

    Von Bad Girls und Femmes noires: Der erotische Thriller

    Killers Without a Cause: Serienmörder im Kino

    Brat Pack Thrill, Grunge Murderer and Road Killers

    Thriller und Transzendentalität

    1995–2013: Globalisierte Stätten der Angst

    Serienmörder küsst man nicht

    Kleine Morde unter Freunden (und Nachbarn)

    Es bleibt in der Familie

    Unübliche Verdächtige

    Das Medium zwischen Mord und Langeweile

    High Tech Thrills

    Tödliche Stille, mörderische Dunkelheit

    Thriller Made in Germany

    Tödliche Spiele und kranke Experimente

    The Doctor is Out (of his mind)

    Missing Persons, oder Das Grauen im Alltag

    Das Netzwerk des Schicksals

    Variationen alter Themen

    Die dunkle Seite des Begehrens

    Rache, heiß oder kalt

    Very Closed Rooms. Falle und Labyrinth: Entführung, Belagerung, Geiselnahme & Stalking

    Neo noir vs. True crime – oder Der Kreis will sich nicht schließen

    Vom gefährlichen Leben zum Experiment in Terror

    Anmerkungen

    Zitierte Bücher und Aufsätze

    Mythologie des Thrillers

    Thrill: Die Lust an der Angst

    Jahrmarktvergnügungen

    Vieles von dem, was wir als Unterhaltung bezeichnen, zumal was unsere Sinne reizt, mit Sensationen lockt, hat einen seiner Ursprünge in den mehr oder minder «billigen» Vergnügungen des Jahrmarkts. Nicht nur hat der Film hier eine erste Heimat gehabt, er hat auch seine Inspirationen empfangen im Rummel, der ein Gegengift gegen den Alltag und zugleich seine Spiegelung ist. Diese Vergnügungen lassen sich in verschiedene Sparten, wenn man so will: Genres, einteilen. Da ist zum einen das Essen. Nicht gewöhnliches, auch nicht raffiniertes oder bekömmliches Essen gibt es auf dem Jahrmarkt, sondern es gibt «extremes» Essen: extrem Süßes, extrem scharf Gebratenes, extrem Salziges etc. Eine Reihe von Speisen gibt es nur oder fast nur auf dem Jahrmarkt, so wie es bei den Naturvölkern Speisen gibt, die nur anlässlich bestimmter Feste verzehrt werden. Man kann davon ausgehen, dass in diesen Speisen ein magischer Geschmack steckt, ein Geschmack von Verbotenem, der den kulturellen Konsens der Essgewohnheiten in Frage stellt. Auf dem Jahrmarkt ist man nicht nur anderes, man isst auch anders.

    Klasse zwei der Jahrmarktvergnügungen sind die Kraft-, Konkurrenz- und Aggressionsspiele: Man «haut den Lukas», man zerbricht Porzellan, man wirft mit Bällen auf kunstvoll geschichtete Pyramiden, man schießt auf stehende oder bewegliche Ziele, und jedes dieser Aggressionsspiele stellt eine Belohnung in Aussicht, die zweifellos nicht viel wert ist und doch viel bedeutet. Es ist eine Trophäe. Eine dritte Klasse bilden die Sensationsdarstellungen, die Zelte, in denen «Todesfahrer» auf engstem Kreis Kunststücke mit ihren Motorrädern vorführen, wilde Tiere ausgestellt werden, dressierte Flöhe eine Art Parodie auf den Zirkus abgeben oder bärenstarke Männer ihre Kunst beweisen. Die vierte Klasse der Jahrmarktvergnügungen lässt sich als Erlebnis von Rausch- und Schwindelzuständen definieren: die Fahrt in der Achterbahn, das Kettenkarussell, die Schiffschaukel etc. Klasse fünf ist die Erzeugung von «kleinen» Angstzuständen, in der Geisterbahn, im Labyrinth, im Spiegelkabinett. Als sechste Klasse schließlich wären die Glücksspiele zu nennen, die Lotterien, Automaten- und Geschicklichkeitsspiele. In dieselbe Richtung weisen die (heute wohl nur noch in der ironischen Reminiszenz der «Wahrsageautomaten» vorhandenen) Zukunftsdeutungen und die magischen Darbietungen von Hypnotiseuren und Zauberern.

    Allen Jahrmarktvergnügungen, einschließlich dem des Alkoholgenusses und einer von der Feststimmung bedingten größeren erotischen Freizügigkeit, gemeinsam ist ein Element des Sichauslieferns in einem begrenzten, womöglich an der Grenze des Kontrollierten angelegten Rahmen. Natürlich gehört zum Wesen aller dieser Vergnügungen auch eine Form der Regression, ein lärmender und doch geordneter Protest gegen die Wohlerzogenheit, die solch «primitiven» Wünschen im Alltag keine Erfüllung gewährt.

    Das Alltagsleben ist hier sozusagen auf den Kopf gestellt: Was gemeinhin verboten oder doch nur in entsprechenden Sublimationen gestattet ist, das ist hier nicht nur gestattet, sondern wird durch – wenn auch in sich relativ wertlose – Belohnungen gefördert: hemmungslos zu lärmen, Aggressionen auszuleben, abergläubischen Mummenschanz zu bewundern.

    Jahrmarktvergnügungen sind ein frontaler Angriff auf die Sinne, bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit und ganz sicher mit einem mythischen Ziel von Zerstörung und Selbstzerstörung ausgestattet, das sich aber erschöpft in den willigen Objekten, die sich, aufgeputzt wie die Opfer eines heidnischen Rituals, der Zerstörung scheinbar lustvoll darbieten. In den Riten der Jahrmarktsvergnügungen könnte man einen «Masochismus der Objekte» diagnostizieren, der dem «Sadismus der Objekte» im Allgemeinen Leben gegenübersteht. In den Schwindel- und Rauscherzeugungen der Karussells und Berg-und-Tal-Bahnen ist dieser Sadismus der Objekte auf eine ins Unmäßige gesteigerte Art wieder da, jedoch verbunden mit einer Art der Bewegung zur Destruktion: der simulierte «Absturz» von Mensch und Maschine. Es ist allemal eine Herausforderung ans Schicksal. Entweder wird das Objekt «gedemütigt», das Porzellan zerschlagen, der Nagel mit einem Hammerschlag in den Balken getrieben, das Geschoss des «Lukas» bis an die Spitze der Skala gebracht, oder man selbst ist der Gedemütigte; wenn man die Fahrt in der Achterbahn wagt, zeigt man seine Überlegenheit gegenüber der Mechanik und kann zugleich ein Urerlebnis der Geschwindigkeit genießen. Jahrmarktvergnügungen sind, abgesehen vielleicht von dem kulinarischen und voyeuristischen Beiwerk, nicht denkbar ohne das bewusste Erleben von Angst und von der Hoffnung, nach überstandener Prüfung in die Sicherheit seines Alltags zurückzukehren, mit beiden Beinen wieder auf dem festen Boden zu stehen. Diese Erfahrung von Angst macht Spaß, und sie stählt gegen die Angst im Alltagsleben, indem sie Angst auf eine «niedrigere», direktere Ebene zurückführt, als sie im üblichen Leben vorkommt: Statt sozialer, zivilisatorischer oder psychischer Ängste wird hier eine feste, von einer und nur einer konkreten Gefahrensituation ausgehende Angst durchlebt, die überstanden zu haben ein Gefühl der Befriedigung hinterlässt. Diese Angstzustände sind zugleich aber auch immer gekoppelt mit einem mehr oder minder deutlichen erotischen Erleben. Diese Kombination kann man als das Wesen des Thrills ansehen: den Weg zur Lust über die Angst.

    Diese Bewegung: das Staunen über eine Situation, die Fremdes, Gefährliches, Aufregendes oder große Reize verspricht – die Hingabe an eine konkrete, dennoch nicht im Bereich des «Fassbaren» angesiedelte Gefahr (Bewegung, Geschwindigkeit, Verdoppelungen durch Spiegelungen etc.) – der vorübergehende Verlust an Orientierung – die letztendliche Wiedergewinnung der Sicherheit, ist unschwer auch als Grundstruktur des Thrills auszumachen. Abgründe, unkontrollierbare Geschwindigkeiten, Masochismus und Sadismus von Objekten sind zwar nur ein Element des Genres, doch es funktionieren auch die vielen anderen Gefahren des Thrillers – Identitätsverlust, Morddrohung, Gefangenschaft etc. – nach ähnlichen Formeln; es sind, ganz entschieden, Ausnahmesituationen inmitten eines ansonsten geordneten oder gesicherten Alltags (was die Bedrohung im Thriller von denen im Western, im Gangsterfilm, im Kriegsfilm und sogar auch im Horror-Film wesentlich unterscheidet).

    Thrill und Erotik

    Die Verbindung von Angst und Lust ist bei den meisten Formen der Freizeitgestaltung anzutreffen, im Sport, bei allen Formen von spielerischer Konkurrenz, im Umgang mit dem «neuen Objekt», mit allem, was von außen an uns herangetragen wird und nicht einfach bezwungen oder integriert werden kann, sondern nachhaltig auch auf uns selber einwirkt.

    «Das natürlichste neue Objekt ist die Jungfrau, und es ist erstaunlich, wie viele nervenkitzelnde Situationen (thrills) mit dem Adjektiv ‹jungfräulich› verbunden werden. Man spricht von jungfräulichem Land, einem jungfräulichen Gipfel oder dem jungfräulichen Weg zu einem Gipfel, von jungfräulichen Bereichen der Geschwindigkeit etc. Im Grunde genommen ist jeder neue Sexualpartner ein thrill, besonders wenn er oder sie einer anderen Rasse, Farbe oder Religion angehört. Die neuen, ungewohnten Vergnügungsweisen betreffen unter anderem: neue Speise, neue Kleider, neue Sitten, bis zu neuen Weisen ‹perverser› Sexualbetätigung. In all diesen Erscheinungen finden wir dieselben drei grundlegenden Züge: die objektive äußere Gefahr, welche Furcht auslöst, das freiwillige und absichtliche Sich-ihr-Aussetzen und die zuversichtliche Hoffnung, dass alles schließlich doch gut enden wird.» (Michael Balint)

    Die Lust an der Angst ist also eine Folge der Sehnsucht nach dem Neuen, und diese wiederum kann ihren Ursprung wohl in nichts anderem haben als in der Unzufriedenheit mit dem eigenen Realitätsentwurf, der zu eng gefasst oder nach falschen Prinzipien gestaltet erscheint. So ist in der Gefahr, der man sich aussetzt, die Hoffnung verborgen, aus ihr als «neuer Mensch» entlassen zu werden. Man kennt aus den Medien jene Läuterungs- und Identitätsphilosophie etwa von Bergsteigern, die extreme Strapazen auf sich genommen haben, um eine mystische Wandlung in den hohen, gefahrvollen Regionen des Berges zu erfahren. Tatsächlich scheint von solcher Wandlung nicht mehr spürbar als ein gewisser Zuwachs von Souveränität und Selbstbewusstsein. Amerikanische Bergsteiger, die auf die üblichen Sicherheitsvorkehrungen in der Wand verzichten, haben sich als Wahlspruch gewählt: «If Life Gets Boring, Risk it!», und auch dies scheint zunächst den Verdacht zu erhärten, der Thrill sei eine Art Nebenprodukt oder Gegenmittel für den Überdruss, die Melancholie, die Langeweile und diene viel eher der Stabilisierung einer Persönlichkeit als ihrer Wandlung. Allerdings mag der ziemlich eindeutige Suchtcharakter vieler Unternehmungen, die die Gefahr oder das Risiko (zum Beispiel das eines Spielers) zum Inhalt haben, misstrauisch machen. Wenn der wirkliche Thrill eine Verbindung von Lust und Angst ist, mit dem Ziel einer «Wiedergeburt» auf anderer Ebene, so lässt sich hier eine erste Sackgasse ausmachen, in die eine solche Strategie führen mag: die mehr oder minder vollständige Ersetzung der Lust durch die Angst. Dass diese Ersetzung um so perfekter gelingt, je abstrakter oder symbolischer der erotische Gehalt des Wagnisses ist, kann nun kaum noch verwundern.

    Der wirkliche Thrill besteht eben nicht in der Ausgrenzung der Gefühle in der Gefahr und nicht im Rückzug auf den Narzissmus. Es ist die untrennbare Verbindung von emotionaler Nähe und Gefahr. Allein in der Achterbahn zu fahren ist nicht einmal das halbe Vergnügen. Doch was da spielend wiederholt wird, ist in Wahrheit Abbild einer wirklichen Gefahr, dass die im Thrill zusammenfallenden Gefühle von Angst und Hingabe sich nicht wieder scheiden ließen. Die Gefahr ist, dass in der Liebe etwas schief gehen kann, nicht so sehr die, dass man versagen oder ohne Befriedigung bleiben könnte, als vielmehr die, dass die Fremdheit des Partners, zunächst im Thrill der erotischen Begegnung aufgehoben, über die Zuneigung triumphieren würde, ja dass sich in seinem Bild Wesenszüge von einer nicht vorhersehbaren Konsequenz und Gefahr durchsetzen könnten. Der Thrill und seine Verarbeitung im Genre des Thrillers wird daher um so bedeutender sein, je mehr eine Gesellschaft mit ihren Konventionen auf eine Festschreibung erotischer Beziehungen in sanktionierten Bahnen drängt und je härter sie Abweichungen davon unter Strafe stellt.

    Die Instabilität der Empfindungen, die bereits in den Jahrmarktsvergnügungen angesprochen wird, setzt sich auf einer anderen Ebene fort in der Instabilität der Gefühle, die einander zu überlagern, gar zu neutralisieren, aber auch zu steigern in der Lage sind. Es ist die Dosis Geheimnis, die Prise Gefahr in der Liebe, die zugleich ersehnt und gefürchtet wird – auch an sie muss man sich spielend gewöhnen, und auch sie bedürfen zur reinen Darstellung der Extremsituation, in der alltägliche Sicherheiten ihre Wirksamkeit verlieren. Die evozierte Angst ist unter anderem auch ein Mittel, Verdrängtes ans Licht zu bringen; die Angst im Thrill mag als Alibi für die Gestaltung verdrängter Wünsche und Vorstellungen gelten, ganz ähnlich wie im Albtraum der Schrecken nur den verbotenen Wunsch verdecken soll. Zugleich aber kann man sich ans Leben mit der Angst gewöhnen.

    Übersetzt man Thrill einmal mit Erregung (was zumindest an Mehrdeutigkeit dem angelsächsischen Begriff nahe kommt), so ist eine Struktur der Empfindung auszumachen, die von einem Zustand der relativen Ruhe über eine Phase der allmählichen Steigerung zu einer Klimax kommt, um dann wieder in einen Zustand der Ruhe zu münden: der Thrill folgt also einem Erregungs-«Drama», das einmal für alle Formen der sinnlichen Erregung gegolten haben mag, heute sich jedoch vorwiegend im Modell der Sexualität noch fassen lässt. Dass die Strukturen der Erfahrung von Liebe und die von Gefahr im Thriller kongruent sind, kann kaum verwundern, ist doch der Thriller im Allgemeinen ein negatives Liebesdrama. Die entstehende Spannung lässt sich auch als die verschiedener emotionaler Aggregatzustände deuten: In einer Beziehung, die nach Wärme der Gefühle verlangt, bleibt einer der Partner merkwürdig kalt. Das ist der Ausgangspunkt des Entsetzens.

    Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass im Thriller Verbrechen, Mord und Bedrohung in gewisser Weise emotionslos ausgeführt werden, dass der Anschlag auf Leben, Eigentum und Sicherheit des Mitmenschen gleichsam ohne nachvollziehbare Aggression erfolgt. Der Mobster im amerikanischen Gangsterfilm hat eine Menge Wut aufgestaut auf seine soziale Unterprivilegiertheit, auf seine beengten Verhältnisse im Ghetto, auf die staatlichen Verfolgungen, bevor er zum «Gegenangriff» gegen die Gesellschaft antritt; der Westerner, der zum Kampf bereit ist, weiß um die Bedeutung der Herausforderung: es geht um seine Identität; die Halbwesen des Horrorgenres scheinen Gier und Hass in Personifizierung zu sein etc. Der Verbrecher im Thriller – sei es der eher sympathisch gezeichnete in den Filmen mit dem Thema des großen Coups, sei es der wahnsinnige Mörder, sei es der Spion, der der freien Welt durch den Verrat schadet – bedroht die Gesellschaft eigentlich ohne erkennbaren Grund; die Gefahr, die von ihm ausgeht, ist bis an den Rand der Absurdität mechanisch und abstrakt. Erst in dem Moment, wo wir der Motivation des Täters auf die Spur gekommen sind, löst sich die Lähmung des Schreckens. Die Abwesenheit (oder doch oft: die scheinbare Abwesenheit) von Gefühlen, bzw. ihre völlige «Abnormalität» auf der einen und die Überbetonung von Gefühlen auf der anderen, der Seite der Opfer, gehören so sehr zum Wesen des Suspense wie das Wissen um die Gefahr, der dennoch nicht zu entgehen ist. Im Thriller geht es oft um Liebesgeschichten zwischen Menschen, die einander fremd bleiben, und die Reaktionen darauf, Frigidität, Vergewaltigung, Hass, Furcht, entladen sich in Handlungen von zwanghafter Natur. Selbst im perfekten Einbruch des Meister-Verbrechers und in der ruhelosen Aktion des Agenten steckt noch etwas von dieser Erfahrung von «Lieblosigkeit».

    Das «Trompe l’oeil der Gefühle» offenbart etwas von der sozialen Vermittlung von Sexualität und individueller Bindung: Da gibt es den Ehemann, der seine Frau langsam umbringt, ihres Geldes wegen, während er ihr noch seine Liebe beteuert, da sind die Spione, die mit den Agentinnen der anderen Seite schlafen, um ihnen ein paar Geheimnisse zu entlocken, und umgekehrt, da zeigt sich mit einem Mal der freundliche Nächste als gefährliches Monstrum, da wandelt sich, ist man einmal unter Verdacht geraten, die sympathische Umwelt in ein System von Verfolgungsinstanzen und gnadenlosen Jagdinstinkten, da erweist sich gerade der, den die Freundschaft in eine Gruppe aufgenommen hat, als Verräter etc. Gefühle sind ein gefährliches Terrain.

    Kinderspiele

    In jedem Spiel steckt der Thrill als Anreiz, das freiwillige Eintauchen in eine Situation der Gefahr. Man verzichtet auf gewohnte Sicherheit, lässt sich die Augen verbinden wie im «Blindekuh-Spiel», wird zum Gejagten oder Gesuchten, man muss einem «schwarzen Mann» entkommen. Wie auch in vielen Sportarten gibt es ein Zusammenspiel von dem Erreichen und Verbleiben in einer bestimmten Sicherheitszone, einer Art geschütztem Zuhause, dem «Mal», in dem man nicht angegriffen werden kann, und andererseits dem Drang (oder sogar einer den Regeln entsprechenden Pflicht), dieses «Zuhause» zu verlassen, um sich der Gefahr auszusetzen, zugleich aber auch die Chance zu gewinnen zu erhalten bzw. andere am Erreichen ihres Ziels zu hindern. Auch Brettspiele wie «Mensch ärger’ dich nicht», «Fang den Hut» oder «Hindernisrennen», die in keiner Spielesammlung fehlen, funktionieren nach diesem Prinzip.

    Man verlässt den sicheren, befriedeten Raum, um draußen den Gegnern gegenüberzutreten, wobei ständig die Fronten wechseln, und indem man sich mit ihnen misst, erringt man seine Identität, eine neue Form der Sicherheit mit jedem Sieg. Man kann Kinder beobachten, die kaum einmal sich von ihrem gespielten «Zuhause» fort wagen, aufgeregt einen Schritt tun, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, um dann sofort wieder zurückzuspringen. Andere Kinder setzen sich permanent aus, finden ihr größtes Vergnügen in der Gefahrensituation und zeigen deutlich Unmutszeichen, wenn auch nur Augenblicke lang «nichts los» ist. Es lassen sich hier wohl zwei extreme Typen definieren: einer, der die Gefahr sucht, und einer, der sie meidet. Das ist viel weniger das Problem des Flüchtens oder Standhaltens, keine Unterscheidung von Mut und Tapferkeit, gar von Männlichkeit und Weiblichkeit; es handelt sich viel eher um eine Eichung auf den Thrill: Eine Reihe von Sozialisierungsmechanismen kommen zusammen, um einem Menschen die Erfahrung des Unbekannten als lohnende und lustvolle Sache erscheinen zu lassen oder nicht. Im Thrill liegt nicht nur die Begegnung mit der Gefahr, sondern auch die mit dem Fremden und vor allem mit dem Unerwarteten. Wer sich diesen Kinderspielen aussetzt, muss mit allem möglichen rechnen, sogar damit, dass ihm der Rückweg versperrt wird.

    Nicht selten sind die Helden von Thrillern gerade Menschen, die eigentlich nicht der Kategorie der Gefahrsuchenden angehören, sondern eher biedere Charaktere, die sich in der Sicherheit einer durch und durch bürgerlichen Existenz ganz bei sich fühlen. Oder doch nicht. Eine geheime Sehnsucht nach dem Abenteuer und der Fremdheit mag sie leiten, und weil sie zum Schritt in die Gefahr von allein nicht imstande sind, geraten sie durch Zufall in einen Abgrund der Gefahr, aus dem sie nur als gewandelte Menschen wieder hervorkommen können. In der Gefahr begegnet man anderen möglichen Liebespartnern, als das je in der Sicherheit der Fall gewesen wäre, und man begegnet ihnen anders. Das ist die Lust im Thrill, dass mit der Sicherheit auch die moralische, soziale, erotische Fesselung verloren geht. Unter der Bedrohung des «schwarzen Mannes» verlieren die Konventionen ihre Gültigkeit.

    Das Erwartete und das Unerwartete in eine Balance zu bringen, scheint das Wesen aller Spiele zu sein. Es ist auch das Wesen aller Geschichten, die von fragwürdig gewordener Identität handeln. Im Thrill steckt dabei allerdings auch die mögliche Belohnung der Angst: Nach der intensiven Selbsterfahrung erreicht man, vielleicht analog einer «Läuterung», eine neue Stufe des Selbstwertes. Es liegt hier eine gewisse Kongruenz von erotischem und religiösem Thrill. Die Angst verbindet den Wunsch nach Liebe mit der Metaphysik, oder, anders ausgedrückt: im Thrill gibt es immer einen erotischen und einen metaphysischen Aspekt. Der «schwarze Mann» im Spiel ist nur ein anderes Kind, das einen mit einem Schlag auf den Rücken aus dem Spiel wirft, und er ist doch viel mehr: der Teufel möglicherweise.

    Jedes Spiel entspricht einer Tradition, der Übermittlung von Regeln. Und doch ist wohl letztlich nur der in der Lage zu obsiegen, der diese Tradition zu durchbrechen, zumindest listenreich zu umgehen versteht. Wer sich stur an die Regeln hält, kann, wenn er nicht überdurchschnittlich stark oder schnell ist, gleich im «Mal» bleiben oder sich freiwillig fangen lassen. Wer andererseits die Regeln gewaltsam bricht, wird das Spiel zerstören oder von den anderen eliminiert. Aber wer schöpferisch mit den Regeln umgeht, ihnen Weiterungen, Variationen, Deutungsmöglichkeiten abtrotzt, die Gewohnheit durchbricht, die sich mit der Tradition gebildet hat, hat gute Aussichten. Die Gefahr im Thriller zwingt die Protagonisten nicht nur dazu, sich gegen die Konventionen zu verhalten, über sich selbst hinauszuwachsen, sie fordert auch einen Zuwachs an Freiheit. Es gilt, einen Weg zu finden, den vor einem noch niemand gegangen ist, freudig am Anfang, dann, wenn man zu weit gegangen oder gelockt worden ist, umzukehren, mit dem Mut der Verzweiflung. Jedes Spiel, jeder Thrill hat mit dem Umgang mit der Tradition und mit den Regeln zu tun; so wie man sich bei den Jahrmarktvergnügungen die Vernünftigkeit der Sinne in Frage stellen lässt, so lässt man sich hier auf ein Duell mit den Regeln ein, die erst das Fortkommen, dann das Überleben (im Spiel) hindern. Man versteht, warum es derselbe Mensch ist, dem jedes Spielen (anscheinend) zuwider ist, und der Geschichten mit einem Thrill-Effekt für eine großen, fast persönlich beleidigenden Unfug hält.

    Ohne ein großes Maß an Schuldgefühlen ist man hierzulande nicht bereit, einen Menschen ins Leben zu lassen, und um mit diesen Schuldgefühlen fertig zu werden, hat man zwei grundsätzliche Strategien zugelassen: sich ans Objekt (an die Tradition, die Vernunft, die Regel, den Partner, die Heimat etc.) zu klammern, oder vor dem Objekt zu fliehen, die Thrill seeking Personality zu entwickeln, die scheinbar der Prototyp unserer Gesellschaft ist, in Wahrheit jedoch nur der große Mythos einer Gemeinschaft, die Angst und Lust so voneinander getrennt hat, dass sich beide Empfindungen eher gegenseitig negieren als bedingen.

    Es gibt im Alltagsleben kaum Thrill. Auch in dem, was man Karriere nennt und das neben Liebe, Verbrechen und Politik das Gefährlichste ist, was das Alltagsleben zu bieten hat, ist Angst und Lust bis zur Krankheit voneinander geschieden. (Krankheit ließe sich als Angst interpretieren, in der kein Platz für die Lust mehr ist, so ist etwa die Angst vor der Krankheit eine jener Ängste, die sich nicht mehr im Thrill aufheben lassen; sie lässt sich mit keiner Lustkomponente mehr koppeln.) Man verspürt entweder Angst oder Lust, um in der Freiheit verzweifelt zu versuchen, beides wieder zusammenzubekommen, im Spiel oder in der Unterhaltung. Im Thriller ist Lust und Angst wieder so verbunden, dass beides gemeinsam zu einem Motiv für die Bewegung nach vorn, für Ausbruch oder Aufbruch wird. Der «schwarze Mann» wird hier zum Prüfstein dafür, wie viel Liebe in der Begierde steckt, und erweist umgekehrt, wie viel Begierde die Liebe braucht. Es ist zwar scheußlich in der Hölle, aber man sollte einmal da gewesen sein.

    Gefährliche Wandlungen

    In unseren Gesellschaften gilt es als ausgemacht, dass die Bildung der Persönlichkeit abgeschlossen ist, wenn das Stadium der Kindheit durchlaufen ist. Erwachsensein ist gleichbedeutend mit dem inneren und äußeren Befehl, sich ab nun nicht mehr grundsätzlich zu ändern, sondern seine Anlagen zu entwickeln, eine Karriere zu machen, die auf den erworbenen Fähigkeiten aufbaut. Das begabte Kind wird zum Wissenschaftler oder Künstler, das gestörte Kind zum Verbrecher etc. So tief in uns sitzt dieses Urteil, dass es kaum einen wissenschaftlichen Ansatz gibt, der eine Identitätswandlung woanders als beim Kind oder beim Geistesgestörten annimmt. Ein «Erwachsener», der seine Meinung ändert, sein Erscheinungsbild oder seinen sozialen Status, aus sich selbst heraus und nicht im Sinne der Anpassung an den Zeitgeist, gilt als charakterlos und bringt alles durcheinander. Doch trotz der «Unmöglichkeit» dieser Vorstellung existiert sie als Traum und Mythos in allen großen Geschichten.

    Die Wissenschaft hilft uns, hier zur Erträglichkeit des Schicksals sozialer, psychischer Prädestination einen Fatalismus zu entwickeln, der sich noch als Erkenntnis tarnen kann. Man braucht gar nicht auf die Vaterfigur der Psychoanalyse, Sigmund Freud, zurückzukehren; selbst ein so «modern» denkender Psychologe wie Erik Erikson beschränkt seinen Begriff von menschlicher Entwicklung auf die Kindheit bis zum Übergang ins Erwachsenenalter. Wenn wir glauben, dass es im Menschen sozusagen «drinsteckt», dass er sich nur im Vorerwachsensein entwickelt und dass alles, was sich später ereignet, bloße Variation der in dieser Zeit erworbenen Beziehungen zur Umwelt sei, erlaubt sich kaum die Frage, ob denn eine Wandlung der Identität, wäre sie uns möglich, überhaupt gestattet sei. Besser lebt es sich mit dem Gefühl, jede Wandlung ließe sich nach intensiver Betrachtung sowieso als Illusion entlarven. «Es gibt», hat Mel Brooks gesagt, «nur eine todsichere Möglichkeit, über Nacht seine Persönlichkeit radikal zu verändern, nämlich indem man am Morgen nicht mehr aufwacht.»

    Aber es muss da ein Rest der Unbehaglichkeit über die starre Gesetzmäßigkeit eines Entwicklungsprozesses bleiben, der klar gegliedert nach Beginn, Mitte und Ende zu sein hat. Das ist das Bild vom Marathonläufer, der einmal startet und sich langsam, Schritt um Schritt, seinem Ziel nähert, oder das Bild vom Radrennfahrer, der Runde um Runde zurücklegt, bis die Zeit für das Rennen abgelaufen ist. Das Erreichen des Ziels, das vorgegeben ist und eine möglichst gute Position im Feld der Konkurrenten, die von objektiv messbaren Normen bestimmt ist, definieren die Bewegung. Persönlicher Fortschritt ist nichts anderes als die Annäherung an das Ziel. Stehenbleiben, gar in eine andere Richtung sich zu bewegen, wäre eine grobe Fehlhaltung und hätte Verwarnung oder Disqualifikation zur Folge.

    Diese gebräuchliche Metapher vom individuellen Schicksal als Wettlauf setzt die Entwicklung gleich mit der Erfüllung einer Aufgabe. Eine andere Deutung der Entwicklung interpretiert sie als Variation mit einem vorgegebenen Material, etwa so, wie man einen Stein unbehauen als Findling lassen oder ihn polieren, bemalen, zerstören, in eine andere Form bringen kann, dabei doch aber immer den gleichen Stein vor sich haben wird. Das individuelle Schicksal wird hier also metaphorisch als «Veredlungsprozess» eines vorgegebenen Rohstoffs dargestellt, bei dem sozusagen ein ästhetischer oder produktiver Mehrwert für die Gesellschaft abfällt.

    Beide in der Psychologie und Psychiatrie verwendeten Modelle der menschlichen Entwicklung gestatten es, der Gesellschaft und ihren Instanzen feste Normen zur Beurteilung des Individuums in die Hand zu geben, abweichendes Verhalten als «Rückschritte», «Fehlentwicklungen» etc. zu normieren. Kurzum, die Bahn eines Menschen ist in gewissem Grade vorgeschrieben, keiner soll glücklich werden, der gegen seine Bestimmung lebt, so will es auch die populäre Mythologie. Über solch eine Determination funktionieren alle sozialen Herrschaftsmodelle. Daher ist auch das Lernen auf diese Weise angelegt als eine stufenweise Aneignung von Terminologie und Klassifikation, die jeweils eine Rückkehr zur vorherigen Stufe unmöglich macht, zugleich nach oben, wie eine Pyramide, das Weltverständnis enger macht. Hat man einmal zum Beispiel die Klassifikation von Zahlen angenommen, so «kann man nicht mehr zurück», kann seine Umwelt nicht mehr anders als in der vergleichenden Quantität einordnen. Nur ein Irrer oder ein Wilder, denken wir, könnte anders als in Zahlen denken.

    Die Determination unseres individuellen Schicksals regelt sich also über die Abfolge bestimmter normierender Point of No Return. Dies sind zum Teil institutionalisierte Prüfungen, zum Teil selbstauferlegte Proben des Könnens, zum Teil aber auch nichts anderes als Internalisierungen von Denk- und Verhaltensvorschriften. Sie mögen von einem Wechsel der Umgebung, der Mitmenschen, der Anforderungen von Institutionen begleitet sein, aber die meisten «Wendepunkte» in unserem Leben sind vorgegeben; man hat sie erwartet wie eine jährliche Abschlussprüfung, und man hat sich, so gut man es versteht, darauf vorbereitet.

    Sicher gehört zu jeder Prüfungssituation, so sie einen wirklichen Wendepunkt bedeutet, ein starkes Element von Thrill: Die Lust am eigenen Fortschritt verbindet sich mit der Angst, der Prüfung nicht gewachsen zu sein, beziehungsweise nach dem Point of No Return auf gewohnte Sicherheiten verzichten zu müssen. Jeder Fortschritt bedeutet zunächst einen Zuwachs an Einsamkeit, und wird man ihr gewachsen sein? Je mehr allerdings die Abfolge der Prüfungen in eine verbindliche Planung eingeschrieben ist, desto mehr verliert der vorgebliche Wendepunkt an Aussicht auf Gewinn von Selbstbewusstsein und Erfolg. Denn zum einen erlaubt die Planung mehr und mehr nur noch ein Antreten zu Prüfungen, bei denen die Aussicht zu bestehen hoch ist (schon wegen der Einsparung gesellschaftlicher Produktivkräfte), zum anderen erhöht die erzwungene Vorbereitung den Zwang zum positiven Abschluss. Die Ökonomie bestimmt die Art der «Wendepunkte» im Leben des Einzelnen, und ökonomische Vorteile sind es, die sie in Aussicht stellen. Die daraus abzuleitende negative Utopie wäre eine Abfolge von Prüfungen, deren Bestehen kaum Erfolg und Ruhm einbringt, deren Nichtbestehen aber übermäßige Schande und Misserfolg bedeutete. Tendenziell ist dieser Vorgang in allen unseren sozialen Prüfungssituationen und in den bei uns möglichen Karrieren zu diagnostizieren: Dem Thrill als Motivation für den persönlichen Fortschritt wird die Grundlage für die Lust entzogen, und die Angst in ihm wird übermächtig. Ist es für das Wohlbefinden einer einzelnen Person entscheidend, dass in ihrem Movens Lust und Angst zumindest zu gleichen Teilen balanciert sind, so profitiert im Gegensatz dazu eine jede Gesellschaftsform vom Überhandnehmen der Angst.

    Mit anderen Worten: Dem gesellschaftlichen Teil des Lebens wird weitgehend der Thrill entzogen; die Einheit von Lust und Angst wird gesprengt, indem die Angst dem sozialen, die Lust einem (mehr oder weniger imaginären) «privaten» Bereich zugeordnet wird. Und beides wäre nur noch im Mythos zusammenzubringen.

    Die Metamorphosen, die ein Mensch im Laufe seiner gesellschaftlichen Entwicklung durchmachen muss, sind also zu einem großen Teil vorgegeben und gefordert, kaum kommt es einmal dazu, dass man sich ausprobiert, man wird ausprobiert. Dagegen zu protestieren ist eine Verweigerung, die nur mit einer radikalen, gefährlichen Wandlung der Identität zu bewerkstelligen wäre, für die es kein Modell gibt. Um so größer mag demjenigen, der sich nicht mit der Abschaffung des Thrill abfinden mag, die Hoffnung auf den Zufall erscheinen, der in einer Situation unerwarteter Bewährung eine «Transformation» nicht vorhersehbarer Qualität ermöglichen könnte.

    «Ein transformierender Zwischenfall sehr subtiler Art ist es, wenn man eine seltsame, aber wichtige Rolle gespielt und unerwartet gut gemeistert hat. Ob man Bewunderung oder Verachtung für diese Rolle empfand, ist dabei nicht von Bedeutung. Der springende Punkt ist, dass man sie nie glaubte spielen zu können, niemals dieses potenzielle ‹Ich› in sich selbst erwartet hätte. Sofern man seine Darbietungen nicht als ‹Nicht-Ich› oder durch Einflüsse außerhalb der eigenen Kontrolle motiviert abtun kann, trägt man die Verantwortung für sie oder garantiert für ihre Glaubwürdigkeit. Verächtliche oder heroische Rollen sind gleichermaßen geeignet, eine unerwartete Neuorientierung der Selbstachtung zu veranlassen. Aber verbreiteter und subtiler sind jene Zwischenfälle, in denen einem wie durch ein Wunder die Ausführung von Rollen gelingt, die man – zumindest bis jetzt – für unerreichbar hielt.» (Anselm Strauss)

    So eine «seltsame, aber wichtige Rolle» spielen sehr viele Thriller-Helden, die durch Zufall oder unbewusstes Verlangen in gefährliche Situationen geraten sind, und mag dies auch nicht überall so deutlich sein wie bei einer Reihe von Figuren aus Filmen Alfred Hitchcocks, dieser erzwungene/ersehnte Rollentausch, diese gegen die Determination gerichtete Wandlung, die einem niemand verbieten kann, weil sie ja ohne eigenes Verschulden und gar zum eigenen Entsetzen erfahren wird, geadelt durch Gefahr und Verzweiflung und Einsamkeit, ist ein Kern des Genres. Und mit diesem Abenteuer in der seltsamen, aber wichtigen Rolle geht die Auslotung der eigenen Moral einher, die sich frei von den Konventionen und Geboten des Alltags entwickeln kann. Die beglückende Erfahrung dabei mag sein, dass man viel «besser» sein kann, als man erwartet hat, und noch mehr, dass man viel «schlechter» sein kann.

    So erscheint es also als notwendig, zur Rückgewinnung des Thrill und damit zur neuen Schaffung von Möglichkeiten der Selbsterfahrung Masken anzulegen, Rollen anzunehmen, die nicht der eigenen Alltagspersönlichkeit entsprechen. Da die eigene Existenz zunehmend fremdbestimmt ist, eigenes nur noch insofern repräsentiert ist, als dass man am eigenen Leib erfüllen muss, was einem zugetragen wird, ist das Aneignen einer fremden Existenz der einzige Weg zu sich selbst geworden. Natürlich ist dieser Vorgang, aus seiner Person sozusagen herauszutreten, zugleich auch einer der stringentesten Tabubrüche – gestattet nur in Formen, die fest im Griff sind: im Karneval und im Kino. Dieses Paradox ist der einzige denkbare Weg, gegen das in Bahnen oder Varianten festgeschriebene Gefängnis der «Entwicklung» zu protestieren. Um eine wirkliche «Transformation» zu erreichen, muss allerdings dabei die Grenze zwischen gesellschaftlich sanktioniertem Rollenspiel und wirklichem Rollentausch erfahren und überschritten werden. Ein guter Thriller macht diesen Übergang zu einem Wesenselement seiner Spannung.

    Der größte vorstellbare Thrill ist es, seine Identität zu verlieren; er verbindet die größte Angst vor völliger Auflösung und die große Lust bei der Erfahrung einer Neugeburt. Thriller sind also in ihrem Kern Proteste gegen die Fremdbestimmung des Menschen und eine geträumte Flucht über Lust und Angst in neue Rollen. Den Geheimagenten in den besseren Beispielen des Genres bewundert man nicht so sehr wegen seines patriotischen Auftrags oder gar wie einen Westerner, sondern gerade wegen seiner Ungreifbarkeit, der Flüchtigkeit seiner Erscheinungsformen und dem ständigen Rollenwechsel. Die Big Caper-Motive zeigen die konzentrierteste Verbindung von Lust und Angst in der verbotenen Tat; der unheimliche Mörder zerstört die Alltäglichkeit des Lebens und ist zugleich das schreckliche Beispiel einer fehlgelaufenen Wandlung; vom Ausbrechen handeln im ganz direkten Sinn viele Gefängnisfilme und im übertragenen Sinne viele Filme, in denen sich jemand auf eine Aufgabe einlässt, die ihm eigentlich ein wenig zu groß erscheint.

    Der Held eines Western tut genau das, wozu er in der Lage und wozu er bestimmt ist; er ist in seinen Aktionen, in denen er den Gegensatz zwischen Denken und Handeln aufhebt, ganz bei sich. Beim Helden des Thrillers besteht fast immer ein Missverhältnis zwischen dem, was er tut beziehungsweise zu tun gezwungen ist, und dem, wozu er bestimmt zu sein scheint, und es besteht ein Widerspruch zwischen Denken und Handeln. Daher muss, so oder so, der Held eines Thrillers sich ändern, zumindest muss er schließlich einer Realität ins Auge sehen, die er in seinem bisherigen Leben leicht hat verdrängen können. Wenn zum Beispiel in einem Film, in dem unter einer kleinen Gruppe von Menschen einer ist, der die anderen durch Mord bedroht, am Ende die Wahrheit herausgekommen ist, kann wohl der Held oder die Heldin nie wieder so sein, wie er oder sie zuvor gewesen ist. Jeder Thriller gestattet einen Einblick in die Abgründe des menschlichen Verhaltens, ist eine Begegnung des Helden mit dem Bösen.

    Die Probleme des Genres

    Das Verbrechen

    Wie eigentlich jedes Filmgenre, wie jede «ordentliche» Geschichte, handelt der Thriller von Leidenschaft, von Sex und von Verbrechen, allgemeiner: von Grenzverletzungen innerhalb der gesellschaftlichen Regelungen. Doch anders als zum Beispiel im Gangsterfilm dient hier das Verbrechen nicht (oder doch nur in sehr neurotischer Weise) einem «sozialen Aufstieg über die Hintertreppe», und anders als zum Beispiel im Detektivfilm dient seine Aufklärung nicht dem gesellschaftlichen Konsens, ja das Verbrechen und seine Ahndung dienen, so scheint es zunächst, im Thriller sehr oft zu überhaupt nichts. Das Verbrechen ist weder vom Ursprung noch vom Ziel her eindeutig zu fassen, es wirkt eher wie das Zeichen für eine viel tiefer gehende Beunruhigung: Regeln und Gesetze werden da nicht so sehr verletzt oder umgangen, sondern gerade durch Übererfüllung oder durch die perfekteste Aufrechterhaltung des «schönen Scheins» ad absurdum geführt. Die Anpassung an tatsächliche oder gedachte Größen, weniger die Erfüllung eines Bedürfnisses als die einer Rolle, führt zur Gewalt. Am Ende von Psycho wissen wir, was mit Norman Bates und der seltsamen Liebe zu seiner Mutter geworden ist; es klingt vernünftig, was uns der Psychologe da erzählt, und doch beginnt hier die schreckliche Verlängerung dieses «Falls» in unser Alltagsleben hinein, und kein Sherlock Holmes wäre da, durch seine Rationalization die völlige Normalität des Vernünftigen wiederherzustellen.

    Im Thriller scheinen unsere alltäglichen Ängste und Befürchtungen aufgehoben zu sein, viel mehr noch als im Horror-Film, der seine Methoden entwickelt hat, uns auf wohltuender Distanz zu halten. Angewachsen zu einer bedrückenden Gegenwärtigkeit lässt uns der Thriller erleben, was uns der Horror-Film eher genießen lässt: die Angst in all ihren Formen. Deutlicher als Science-Fiction- und Horror-Filme funktioniert der Thriller nach der Struktur von Albträumen, nicht unter Missachtung, sondern in frontaler Kontroverse zu Logik und Wahrscheinlichkeit, und doch mit einer Richtigkeit der Zusammenhänge, die offensichtlich einen in den Erinnerungen der meisten Menschen gespeicherten Vorstellungskomplex anspricht.

    In einem Thriller steht das Verbrechen selbst, nicht seine Aufklärung, nicht seine Motivation, nicht seine Determination im Vordergrund. Die Bibel oder Dostojewskijs Schuld und Sühne wären so eher Vorläufer für das Genre als die Kriminalliteratur. Die Auflösung ist allenfalls eine beruhigende Dreingabe, nicht das Faszinosum des Genres, und andererseits ist die Lösung des Rätsels nicht Ergebnis von distanziert-delegiertem Treiben eines kontemplativen oder für Geld sich schindenden Detektivs, sondern steht in engem Zusammenhang mit der Rettung des eigenen Lebens oder des Lebens eines nahestehenden, geliebten Menschen seitens der Helden. Der Thriller erhält seine absolute Bedrohung gerade dadurch, dass es keine Vermittlung zwischen Verbrechen und «Normalität» gibt und vor allem keine Vermittler. Die Verbrecher und das Verbrechen haben im Thriller etwas Gespenstisches; es sind die Symptome von Wahnsinn und Perversion, sei es die von Individuen, wie etwa im Psychothriller, sei es die kollektive, wie etwa im Spionagethriller.

    Um zu verstehen, dass dennoch auch der Thriller seine kathartische, seine beglückende Wirkung hat, hinausgehend ein wenig auch über die Gewöhnung an die Angst und den reinen Thrill, bedarf es einer Rückführung auf den Grundmythos der populären Kultur. Dieser Mythos entstammt europäisch-kolonialistischem Verständnis einerseits, dem Pioniergeist des amerikanischen Nationalepos andererseits und den vielfältigen ideologischen und ästhetischen Verbindungen zwischen beiden. Seine zentrale Botschaft lautet: Freiheit, Glück und Hoffnung ist da, wo Bewegung, Raum und Virgin Land, jungfräuliches Land ist; Unterdrückung, Elend und Verbrechen ist dort, wo Immobilität, urbane Gefangenschaft, Enge herrscht. Unmissverständlich geht die heroische Entwicklung vom Raum für die Eroberung zur urbanen Geschlossenheit, also von der «Freiheit» zur sozialen Überdetermination, das heißt auch, von der Gewalt nach außen zur Gewalt nach innen. Der expansionistische Geist unserer Zivilisation ist an seine Grenzen gelangt und droht durch seine Inversion die Grundlagen des menschlichen Lebens selbst zu zerstören. Es ließe sich demnach nicht leben ohne überwältigende Melancholie und Verzweiflung, wäre da nicht zum einen der Mythos, zum anderen die Kompensation. Das heißt, die urbane Gesellschaft sucht neue Frontiers; der noch höhere Wolkenkratzer, die noch avanciertere Technologie, die noch größere Produktion lässt vielleicht vergessen, dass es eigentlich zu erobern nichts mehr gibt und sich somit die ideellen Grundlagen unserer patriarchalisch-kolonialisierten Gesellschaft einem Zersetzungs- und Neuorientierungsprozess ausgesetzt sehen. Im Thriller schließt sich die soziale Klaustrophobie mit der Angst vor dem Nächsten kurz, dem nicht zu trauen ist.

    Während also der kolonialistische oder pioniergesellschaftliche Geist im Mythos aufbewahrt wird, ist sein Elan umgesetzt in einen vom Geografischen ins Technologische versetzten Fortschritt. Beides erst, das Akzeptieren des verpflichtenden Mythos und die Bereitschaft, für den Fortschritt einzutreten, macht in der populären Kultur das positive Leitbild aus, während der «rückschrittliche» Umgang mit dem Mythos – man denke an einen Film wie Bad Day at Black Rock (Stadt in Angst; 1954, Regie: John Sturges) – zu einer Quelle der Bedrohung wird. Ebenso ist aber, wie die vielen negativen Utopien der Science-Fiction zeigen, der technische Fortschritt ohne Besinnung auf die Werte des Mythos (der Grenze) nicht denkbar, soll er nicht in die Kälte einer technologischen Hölle für die Menschen führen. Die Möglichkeit eines Outlaw als Korrektur zu ungerechten oder unfreien Gesetzen der Gesellschaft (im Western, im Gangsterfilm) ist dabei ebenso zu nennen wie das Verbrechen als Zeichen für Widersprüche. Das Verbrechen definiert den Kompromiss (und zugleich die Grenze) zwischen individualistischem Mythos und kollektivem Fortschritt: auf der einen Seite steht der hypertechnisierte Superverbrecher mit wahnsinnig überdrehtem Fortschrittsbewusstsein, auf der anderen der psychopathische Individualist, der durch sein Verbrechen gegen seine soziale Determination protestiert: die irren Erben von Billy the Kid.

    Im Thriller geht es um Zustände des Stillstandes und des Mythosverlusts, Schauplätze sind einsame alte Häuser, dunkle verfallene Straßen, vergessene architektonische Orte ohne Zukunft, und auch die Protagonisten sind häufig Menschen, die keine Zukunft mehr vor sich haben oder deren Initiativen begonnen haben, sich in Kreisbewegungen zu erschöpfen, die keine Identitätsfindung aus dem Mythos heraus gestatten, sondern dazu führen, dass Identitäten geborgt, erpresst, geträumt oder erzwungen werden. Selbst die Gauner in den Big Caper-Filmen, die einen fast perfekten Einbruch begehen, sind fast immer schon von vorneherein von einer Melancholie, einer ganz unangebrachten Sanftheit, die ihr Scheitern vorausahnen lässt.

    Macht, Reichtum, Einfluss und Ruhm sind an die Stelle der geografischen Bewegung getreten; am Ende steht als mythischer Erfolg nicht mehr eine zurückgelegte Strecke, sondern angehäuftes Material, versteinerte Riten. Die Rituale des Westens, die gerade die Freiheit des Individuums garantiert haben, setzen sich in den städtischen Slums fort in Ritualen, die nichts als zwanghaftes Reagieren auf soziale, technologische und architektonische Pressionen darstellen und dennoch einen Hauch der alten Sehnsucht in sich tragen. Aus diesem Übergang entstehen neue Helden: der Gangster, der Privatdetektiv, der Journalist, kurz alle, die den einen oder anderen Weg gefunden haben, nicht die passive Korruption zu vertreten. Diese Helden oder auch Antihelden führen ganz zwangsläufig einen intensiven Kampf mit der Gesellschaft. Das gesellschaftliche Ornament, das Geflecht von Regeln, Konventionen, Gesetzen und Traditionen, von Gewohnheiten und Riten, erweist sich für den Held als Bedrohung. Während sich der Held etwa eines Detektiv-Films bewusst außerhalb oder über dieses Ornament stellen kann (im Extremfall gar, um es selber neu zu ordnen), ist der Held eines Thrillers zunächst ganz und gar darin gefangen, bis er durch Zufälle und Intrigen herausgerissen wird aus seinen scheinbaren Sicherheiten. So ist die Handlung eines Thrillers eine Form der umgekehrten Befreiung, einer Befreiung, die erzwungen wird. Erst als die Gesellschaft ihn ausstößt, spürt der Held, dass er in ihr nie völlig aufgehoben war. Wenn man ihn verdächtigt, ein Verbrecher zu sein, wenn er von einem anonymen, bedrohlichen Wesen angegriffen wird, und niemand will ihm glauben, niemand ihn schützen, wenn er in die Intrigen von Geheimdiensten gerät, deren Wesen er nicht durchschauen kann, wenn der Bürger zum Verbrecher wird, ohne auch nur einen Moment aufzuhören, Bürger zu sein, so ist allen diesen Konstellationen gemeinsam, dass gerade die Regelhaftigkeit, der Konformitätszwang in der Gesellschaft das Verbrechen beschützt. Die Bedrohung im Thriller geht von der Gesellschaft selber aus, und das Verbrechen ist nichts als Indikation für diese Bedrohung. Denn erschreckend im Thriller ist am Verbrechen weder seine Grausamkeit noch seine Kaltblütigkeit, erschreckend sind Zwang und Regel der Wiederholung. Das Individuum bewegt sich in Wahrheit in «seiner» Gesellschaft auf dünnem Boden: Ein kleiner Zufall genügt allemal, es in die Fänge der Staatsmacht, in die Fänge der Unterwelt, in die Fänge des «Wahnsinns», in die Fänge des Verbrechens zu treiben.

    Die Angst

    Natürlich geht es im Thriller in erster Linie ums Schicksal, um das, was den Helden widerfährt, ohne dass sie selbst es gewünscht oder vorhergesehen zu haben scheinen; aber es ist eine besondere Art von Schicksal, es sind die anderen, die einem zum Schicksal werden. Man verliert seine Identität nicht, wie etwa eine Figur aus dem Horror-Genre, die eine schreckliche Mixtur zu sich nimmt und plötzlich jemand anderes ist, ein sich selber und den anderen gefährliches Triebwesen, sondern die anderen sind es, die einem die Identität absprechen, verbieten. Inmitten einer so geborgenen und vergnüglichen Situation wie einer Zirkusvorstellung, einem Ball, einer Familienfeier, einem Konzert, inmitten der Zelebration von Gemeinsamkeit, sind die Helden am einsamsten und bedrohtesten.

    Wer da allerdings in die Netze von obskuren Spionageringen, unter falschen Verdacht, in die Falle einer lebensgefährlichen Gruppensituation gerät, dem widerfährt dies nicht ganz zufällig. Es sind besonders sicher scheinende Menschen, freundliche, angepasste junge Männer, ältere Damen, kühle, beherrschte junge Frauen, die es von ihrer finanziellen und familiären Situation her kaum nötig hätten, sich in schlechte Gesellschaft zu begeben. Aber diese Menschen, die ihre Sinnlichkeit wohl unter Kontrolle zu haben scheinen, wirken, als würde sie die Gefahr, ja sogar der Tod anziehen, und was sie für eine Flucht halten mögen, ist meistens in Wahrheit eine Art süchtigen Verhaltens, das sie immer wieder in schlüsselhafte Gefahrensituationen bringt, so lange, bis sie sich radikal geändert haben. Die Gefahr für den Helden im Thriller tritt nicht einmal, sondern mehrfach, sich steigernd auf.

    Angst entsteht, wo man nicht völlig bei sich ist, wo man seine Selbstverwirklichung, seinen Realitätsentwurf verfehlt hat, als eine Art Schuld gegenüber sich selbst, und sie entsteht, wo man seine Heimat, seine Geborgenheit verloren hat. Mit anderen Worten, Angst gibt es, wo man sich entweder selbst nicht genug liebt oder wo man nicht geliebt wird, oder aus einer Kombination beider Elemente. Dies ist eine normale Angst, eine Alltagsangst gewissermaßen, die kaum jemanden verschont, und die nicht ganz unabhängig zu denken ist von den gesellschaftlichen Diktionen.

    So besehen haben die Helden des Thrillers zur Angst alle Ursache: Sie sind trotz ihrer scheinbaren äußeren Sicherheit mit sich selbst unzufrieden, was sich in Langeweile, in Schrulligkeit, in übergroßer Familienhörigkeit, kurz, in regressiven Verhaltensformen und in Selbstbeschneidung äußern mag, und sie sind, obwohl sie von Menschen umgeben oder sogar in gewisser Weise umzingelt sind, in ihrem Innersten einsam. Entweder ist dies die Voraussetzung einer Thriller-Handlung, oder eine solche Konstellation ergibt sich, bevor die eigentliche Suspense-Handlung beginnt. Anders würde ein Thriller nicht funktionieren.

    Am Anfang eines Thrillers begegnen wir also einem (oder seltener mehreren) Menschen, die sich in einer Art neurotischer Angst-Abwehr den Weg zum eigenen Ich verstellt haben. Das gleichwohl angepasste Fehlverhalten der Helden ist nicht nur ihr emotionales Analphabetentum, sondern auch das, was die Psychologie eine falsche, «angstersparende» Lebensweise genannt hat. In dieses Leben bricht die Angst mit großer Macht, eben so, wie die Angst in das Leben eines Menschen einfällt, der sich seine Angst durch süchtige oder ichentlastende Handlungen vom Leibe gehalten hat. (Am Beginn eines jeden psychischen Heilungsprozesses steht ja die Konfrontation mit der eigenen Angst.) Daraus lässt sich folgern, dass die Angst im Thriller nicht etwa die Krankheit (das «Problem» des Genres), sondern die Therapie darstellt.

    Diese Aussage steht sicherlich im Widerspruch zu der herkömmlichen Meinung der Filmgeschichtsschreibung, die davon ausgeht, dass sich Spannung und Aktion im Thriller einfach nur deswegen so emotional besitzergreifend auf den Zuschauer auswirken, weil sie aus einer solch «normalen» Situation heraus entwickelt werden. In der Tat wäre es aber völlig undenkbar, einen wirklich normalen Menschen (wenn es einen solchen denn geben sollte) zum Helden einer Thriller-Handlung zu machen; die Angst muss immer den «richtigen» Menschen treffen.

    Die Handlung ist nichts anderes als die Abfolge von Situationen, in denen sich diese Angst äußert; sie kommt immer mehr zu ihrem Kern, offenbart immer mehr von der in ihr verborgenen Sehnsucht; sie wird, wenn man so will, immer erotischer, bis sie sich in der «gefährlichen Wandlung» selber aufhebt. Weil die Angst das Bezeichnende im Genre ist, strebt sie auf eine Lösung, eine Katharsis hin, und daher ist der Thriller, wie alle anderen Genres des populären Kinos auch, eine Art von Film, die die fantasierte Erfüllung von (heimlichen) Wünschen gestattet.

    Die Handlungsstruktur eines Thrillers lässt sich also in einem Allgemeinen Modell in etwa so beschreiben: Ein «Durchschnittsmensch» mit uneingestandenen Wünschen, weit von seiner Selbstverwirklichung entfernt, doch mit einer nahezu perfekten gesellschaftlichen Rolle ausgestattet, wird gezwungen, sich mit seiner Angst auseinanderzusetzen und sie zu überwinden, indem ihm durchs Schicksal und durch den Zufall eben jene Rückzugsmöglichkeiten auf die gesellschaftliche Stellung genommen werden. Sehr oft muss er sich in die Rolle eines «Schuldigen» gedrängt sehen, und er muss in der Aktion, die vonnöten ist, um sich vom falschen Verdacht zu befreien, ein wenig von dieser Schuld akzeptieren. Wie er über das Akzeptieren der Schuld zu sich kommt, so findet der Thriller-Protagonist über die Angst heraus, was ihn eigentlich bedroht. Erst die Angst gibt den psychischen Widersprüchen Gestalt. Dabei darf man die Handlung eines Thrillers nicht als bloße Widerspiegelung psychischer Prozesse definieren, sondern als die unbewusste, dennoch zielstrebige Suche nach einer neuen, lustbetonteren Lebensform. Auch hier gilt also: im Thrill versucht man, über die Angst zur Lust zu kommen.

    Der Held wird seines familiären, sozialen, beruflichen, erotischen «Korsetts» beraubt und ins Abenteuer gestürzt, in dem sich alle Aspekte seiner Angst einmal offenbaren müssen und überwunden werden können. Das kleine Einmaleins der Angst im Thriller umfasst etwa die Klaustrophobie (Angst vor dem Eingeschlossensein in engen Räumen), die verschiedensten Tier- und Objekt-Phobien, die Agoraphobie (Angst vor belebten Straßen, die als Ort der Gefährdung und der Verführung gesehen werden), Kastrations- und Vergewaltigungsängste, Höhen-, Geschwindigkeits-, Flugangst, aber auch alles, was an direkten Widersprüchen und Ängsten in erotischen Beziehungen sich ergibt, der Widerspruch zwischen Regel, Pflicht auf der einen und Eros auf der anderen Seite. (In Notorious von Alfred Hitchcock muss Cary Grant als amerikanischer Agent Ingrid Bergmann, die Frau, die er liebt, gewissermaßen ins Bett eines anderen treiben; in Suspicion vom selben Regisseur hält eine Frau lange Zeit ihren Mann für einen Mörder und glaubt, dass er auch sie ermorden wolle. Wie in diesen beiden Filmen geht es im Thriller sehr oft auch darum, dass ein «schlechter Ruf» einen Menschen verurteilt.)

    Das Abenteuer im Thriller, bei dem es selten etwas anderes zu gewinnen gibt als das eigene Leben (im Grunde sogar in den Filmen mit dem Big Caper-Motiv), wirft den Helden ganz auf seine Person zurück, deren Unfertigkeit sich nun erweist, und über alle Gefahren findet er zu einer neuen Identität und Beziehung. Es ist das Modell einer persönlichen Revolution, aber auch einer Befreiung von einer Obsession, eine Psychotherapie, die der Zufall vornimmt.

    Dieser Zufall kann sein Werk nur tun, wo ihm die Doppelbödigkeit der gesellschaftlichen Organisation eine Chance dazu gibt. Ebenso lässt sich eine «gefährliche Wandlung» nur denken, wenn sie Spiegelbild verschiedener gesellschaftlicher Systeme ist. Wurzelnd in der inneren Welt, bringt das Abenteuer im Thriller das Problem des Helden in die äußere Welt. Mit anderen Worten: Die Thriller-Handlung dokumentiert auch den vergeblichen/unbewussten Versuch, aus einem persönlichen Problem ein gesellschaftliches zu machen. Dies mag selbst noch in den unbewussten Bestrafungsängsten der Verbrecher zum Ausdruck kommen. Die Gesellschaft aber zerfällt dem Thriller-Protagonisten vor den Augen in verschiedene Subsysteme, die nur durch das Schweigen zusammengehalten sind. Die Gesellschaft der guten Bürger ist nur eine der Säulen des bürgerlichen Staats, daneben gibt es etwa das System der Gangster, das System der Polizei, das System der Agenten, die politische Macht verteilen und kontrollieren wie die Gangster die wirtschaftliche. Wie das kapitalistische Wirtschaftssystem ohne Gangster und – in ihrem Gefolge – Korruption längst nicht mehr funktionieren würde, so würde die Balance der Nationen nicht funktionieren ohne das System der Spionage. In beiden Sub- oder Antisystemen der bürgerlichen Herrschaft steckt nicht nur die Vermittlung sozialer Widersprüche (eine Art kollektiver Abwehr), sondern auch die Verlockung von Glamour und Lust, die die andere Seite der Gewalt ist. Bezeichnend für die Helden eines Thrillers ist die Verwirrung, zwischen diese Systeme geraten zu sein und von beider Häschern gejagt zu werden.

    Die «Unterwelt», in die der Held hinabzusteigen gezwungen wird, ist immer auch seine eigene psychische Unterwelt, in die ihn eine Intrige bringt. Eine Intrige ist nichts anderes als ein gesellschaftliches Ritual mit gewissermaßen fehlbesetzten Hauptpersonen. Es ist richtig, dass zwei, die heiraten wollen, dies vor einem Priester tun. Aber wenn nun der Priester gar kein richtiger Priester ist? Wenn der Polizist ein Gauner, der harmlose Zeitgenosse ein Agent, der übelste Bursche ein Freund und Helfer sein soll? Die Bedrohung steigt aus der kleinen und großen Verschiebung der gesellschaftlichen Rollen. Ein fantastischer Film stellt die rationale Logik, ein Thriller den gesellschaftlichen Konsens, die Konvention in Frage. Wie das Fantastische nur wirksam sein kann, wenn es sich aus der Idylle entwickelt, so kann der Suspense eines Thrillers sich nur aus der Darstellung funktionierender, ja perfekter gesellschaftlicher Rituale ergeben. Die Wirkung eines Thrillers ist um so größer, je größer der Widerspruch zwischen der Gefahrensituation der Helden und der glatten Konventionalität der Umgebung ist. Im Dschungel ist es allemal gefährlich, aber inmitten eines großen Festes, auf einem überfüllten Platz, in einer öffentlichen Vorstellung, inmitten der größten Versprechungen von Sicherheit, ist diese Gefahr umfassend und dringt in die Seele ein, weil sich kein Fluchtpunkt mehr denken lässt.

    Geschichte des Film-Thrillers

    Die Entwicklung des Suspense im Stummfilm

    Anfänge

    Die einfachste Form, Suspense zu beschreiben, ist, die Reaktion des Publikums zu beschreiben. Wenn es seinen Thrill daraus erlangt, sich zu fragen, ob geschehen wird, was es befürchtet oder erhofft, spielt sich Suspense ab. Wenn der Informationsvorsprung der Zuschauer gegenüber den Helden nicht zu Geringschätzung oder Abwertung führt, sondern zu einer Spannung, die Mitleid und Angst ebenso umfasst wie verborgene Schadenfreude oder Sadismus, wird Suspense erlebt. Wenn Unschuld in Gefahr ist, eine Falle zuschnappt, ein Abgrund sich auftut und das Publikum drauf und dran ist, seine Besinnung zu verlieren, keine Distanz zur Situation mehr aufbauen kann und hilflos auf die Kunst des Regisseurs warten muss, die aufgebaute Spannung wieder zu lösen, erlebt es Suspense . So wenig es eine Geschichte ganz ohne Suspense gibt, so wenig gibt es einen Film, der eine Handlung hat, ohne Suspense . Bis daraus allerdings ein regelrechtes Genre werden konnte, der Thriller, der aus dem Suspense seine Botschaft macht, musste der Film noch seine Sprache für den Thrill finden.

    Unter den ersten Filmen mit einer rudimentären Handlung ist Louis Lumières L’Arroseur Arrosé (Der begossene Begießer; 1895) im Allgemeinen als Vorläufer der Komödie bekannt, doch lässt er sich auch als Stufe in der Entwicklung des filmischen Suspense deuten: Da wird ein Gärtner gezeigt, der, um den Garten zu sprengen, einen Wasserschlauch aufdreht. Verdutzt hält er ihn sich vor Augen, als kein Wasser kommt. Das Publikum indes kennt den Grund für das Ausbleiben des Wassers: Ein Junge hat seinen Fuß auf den Schlauch gestellt. Eine Zeitlang fragt man sich: wird er oder wird er nicht, dann passiert das Unvermeidliche.

    «Mit diesem einfachen Film fand Lumière die erste Regel für den Suspense: Das Publikum muss die Fakten kennen. Hätten wir nicht gesehen, dass der Junge auf dem Schlauch steht, wären wir zwar überrascht gewesen, dass der Gärtner plötzlich nassgespritzt wird, aber es hätte sich kein Suspense eingestellt. Der entsteht daher, dass wir mehr wissen als der Gärtner; wir sind gespannt, wann und wie es geschehen wird und wie die Hauptfiguren darauf reagieren werden.» (Lawrence Hammond)

    Ein solcher Informationsvorsprung des Publikums, der eine Form des Suspense erst ermöglicht, kann schon durch den Titel hergestellt werden, der einem Film oder einem Kapitel aus einer Serie gegeben wird. So hieß etwa einer der ersten großen Erfolge von Henry Porten im deutschen Film Das Liebesglück einer Blinden (1910), und allein der Titel brachte das Publikum dazu, gespannt auf das Eintreten einer Schicksalswende zu bangen, an die die Heldin offensichtlich selber zunächst nicht glaubt. (Natürlich kann ein Filmtitel das Publikum auch auf eine falsche Fährte führen, etwa bei Filmen, die eine fantastische Auflösung suggerieren.)

    Während der Film die Sprache für den Suspense entwickelte, waren die Themen für den Thrill noch relativ unspezifisch. Der größte Thrill überhaupt schien um diese Zeit für das Publikum die Bedrohung der Jungfernschaft zu sein; die Dekorationen änderten sich häufiger als die immerwährende Jagd des Unholds auf die Reinheit eines Mädchens. So wimmelte es etwa im deutschen Film von verlebten, kriminellen Baronen, die arme Tagelöhner-Töchter um «die einzige Mitgift eines armen Mädchens» zu bringen trachteten – und während die viktorianischen Mädchen des amerikanischen Films gute Aussichten hatten, ihre Unschuld über die dramatische Handlung des Films zu retten, kreiste im deutschen Film der 1910er und 1920er Jahre die Vorstellung um ein Ende in der Gosse durch den Verrat der amoralischen «Lebewelt» an der natürlichen Substanz des Volkes. Während das Publikum die bösen Absichten des schurkischen Aristokraten kannte, vertraute das arme Mädchen seinen Versprechungen und sorgte so nicht nur für eine Portion Suspense und erotischen Thrill, sondern auch für eine handfeste Botschaft. Die vielen Entführungen, ohne die der amerikanische Stummfilm nicht ausgekommen wäre, vermittelten ähnliche Erlebnisse, wenngleich mit einer anderen sozialen Rollenverteilung.

    Zahlreiche Metaphern haben sich für die bedrohte Unschuld herausgebildet; als besonders wirksam hat sich dabei immer wieder die Bedrohung des Kindes erwiesen, die einen besonders hohen Grad an Human Interest fördert. Typisch für einen «Thriller» dieser Art aus der Stummfilmzeit ist etwa David Wark Griffiths The Adventures of Dollie (Dollys Abenteuer; 1908): Ein Zigeuner hat das Kind eines Mannes entführt, der ihn schlug, als er ihn bei einem Raub ertappte. Das Mädchen treibt hilflos in einem Fass, in das der Unhold es gefesselt und geknebelt gelegt hat, einen Fluss hinunter, über gefährliche Stromschnellen, bis es wohlbehalten am Ufer landet und gerettet wird, gerade an dem Platz, wo das Drama seinen Ausgang nahm.

    In diesem und den zahlreichen Filmen Griffiths, die nach ähnlichem Modell entstanden, lässt sich auch verfolgen, wie die filmische Sprache für den Suspense sich entwickelte. Einer der ersten Schritte in diese Richtung war die Entwicklung der Nahaufnahme, die die Gefühle eines der Protagonisten betonen und so etwa eine extreme Spannung zwischen Hass, Lüsternheit und Gier auf Seiten des Bösen und Angst, Grauen, Ekel auf Seiten des Opfers aufbauen konnte. Der Wechsel der Perspektiven gehört zu den notwendigen Stilmitteln des Thrillers, der zwischen Opfer und Täter oszilliert.

    Eine andere Form, Suspense zu erzielen, war die Verwendung der Rückblende: In The Adventures Of Dollie ist der gefährliche Weg des Mädchens den Fluss hinunter unterbrochen von Rückblenden auf die Ereignisse, die zu dieser dramatischen Situation geführt haben. Durch dieses Element der Montage ließ sich eine Komposition von Momenten des extremen Thrills und eher erzählenden, retardierenden Teilen realisieren, die die Spannung nie versiegen ließ, ohne dass man auf die logische, erschöpfende Darstellung der Vorgeschichte und die Erklärung der Charaktere und ihres Verhaltens verzichten musste, was erst eine über die bloße Aktion hinausgehende Anteilnahme des Publikums ermöglichte. Die Parallelmontage von Bildern der Verfolger und solchen der Verfolgten schließlich erlaubte es, zusätzlich die Spannung einer der unerlässlichen Verfolgungsjagden zu verlängern. Mit anderen Worten: die Entwicklung des Thrillers bedeutete die Erfindung filmischer Methoden, das Bild von einer in Gefahr geratenen unschuldigen Person und ihrem Verfolger so aufzulösen und zu komponieren, dass die Spannung möglichst hoch und möglichst lange aufrechterhalten wurde.

    Durch die Abwechslung von Nahaufnahmen als Schnitt-/Gegenschnittkomposition konnte der Eindruck erweckt werden, der Zuschauer sähe abwechselnd das Opfer mit den Augen des Täters und den Täter mit den Augen des Opfers. Dazwischen ließen sich größere Handlungsausschnitte zeigen in dem, was wir heute Halbtotale nennen würden (Griffith verwendete bald auch Totalen), die in den «objektiven» Handlungsablauf zurückführten. Dieser Perspektivenwechsel, unerlässlich für die Aufladung jeder Filmhandlung mit Suspense, definiert den Rhythmus und damit die emotionale Spannung des Films.

    «Um 1912 hatte Griffith praktisch das gesamte Reservoir Suspense erzeugender Techniken entwickelt, die die Regisseure bis heute anwenden. Er erzielte nicht nur durch Nahaufnahmen zusätzliche Wirkung, zusätzliche Spannung durch Montage und parallel geschnittene Szenen, zusätzliche atmosphärische Eindrücke durch die stärkere Ausleuchtung, durch die Einführung der Totale, durch Wechsel von Halbtotale und Nahaufnahme und durch die diagonale Bewegung der Darsteller durch das Bild, er setzte auch zum ersten Mal mehrere Kameras für eine Szene ein, und er verwendete häufig eine Kamera, die auf einen in Bewegung befindlichen Zug montiert war.» (Lawrence Hammond)

    Nachdem nun die Techniken des Suspense und die Motive für den Thrill entwickelt waren, begannen sich die verschiedenen Formen der Film-Erzählung mehr und mehr in Genres zu unterteilen: Western, Kriminalfilme, Melodramen fanden ihre spezifischen Formen von Action und Thrill. Der Thriller war allerdings als eigenständiges Genre noch nicht ausgeprägt, während es etwa im Western schon eine eigenständige Ikonografie und eine eigene Moral gab. Das «Drama» blieb lange Zeit als eine umfassendere Filmform bestehen, welche melodramatische wie der Kriminalliteratur entlehnte Momente verwendete, um immer wieder den Kampf der unschuldigen Helden gegen die Übermacht des Bösen darzustellen.

    Griffiths The Musqueteers of Pig Alley

    Als «Geburt des Thrillers» (Michel Cieutat) mag D.W. Griffiths The Musketeers of Pig Alley (1912) gelten; es ist zumindest wohl der erste Film, der die Suspense -Elemente mit einer reinen Kriminalhandlung und der Urban Illness , den Widersprüchen des Stadtlebens, in Beziehung setzte. Griffiths Film funktionierte nicht nach den Regeln des Detektivromans und seiner filmischen Umsetzung, und er war auch kein Gangster-Film, wie man ihn zwei Jahrzehnte später produzieren sollte, obwohl das Gangstertum eine wichtige Rolle in der Handlungsführung spielt und die Unterwelt mit einer fast dokumentarischen Genauigkeit porträtiert wird. Nach Filmen wie The Fatal Hour (1908) und The Transformation of Mike (1911), die bereits Gangster als Hauptfiguren präsentiert hatten, folgte mit The Musqueteers of Pig Alley ein Film, für den Griffith On Location in der New Yorker Lower East Side drehte. Thriller sind auch Filme, in denen die Schauplätze eine große Rolle spielen; und anders als im Detektiv-Film sind sie nicht exotisch, sondern so gut als möglich real.

    Die Handlung beginnt mit dem Zwischentitel: «New York other side. The poor musician goes away to improve his fortune.» Die Stadt selbst spielt im Schicksal des Helden eine große Rolle.

    «New York, die Stadt, die oft als Metropole der Welt gesehen wurde (The Crowd; 1928, Regie: King Vidor; Two-Faced Woman; 1941, Regie: George Cukor; The Big Circus; 1959, Regie: Joseph M. Newman etc.), ist hier schon die mikrokosmische Abbildung des Bösen und des geprägten Sozialdarwinismus. Der junge Musiker (Walter Miller), der mit Lillian Gish verheiratet ist, versucht in dieser Stadt einen Platz an der Sonne zu erobern. In einer Ellipse zeigt der Film, dass er den Aufstieg schließlich geschafft hat. Doch dieser Aufstieg wurde ihm nur durch den Kontakt mit der Unterwelt ermöglicht, deren Repräsentant Snapper Kid (Elmer Booth) ist. In einer späteren Szene schlägt dieser den Musiker nieder, um sich seines Geldes zu bemächtigen, stößt ihn so wieder in die Verzweiflung. Ein solcher Ausgangspunkt ist eine häufig verwendete Handlungsfigur aus der Literatur (man denke etwa an Theodore Dreisers Sister Carrie) und wurde später noch Dutzende von Malen von Hollywood-Regisseuren variiert. Tatsächlich ist der Traum von der goldenen Pforte, die man mit einem goldenen Schlüssel öffnet, ein Bild vieler berühmter Filme (Young Man with a Horn; 1949, Regie: Michael Curtiz; The Eddy Duchin Story; 1956, Regie: George Sidney; The Rat Race; 1960, Regie: Robert Mulligan), wo es ebenso um den schwierigen Aufstieg von Musikern geht wie etwa in vielen Komödien und Musicals, die ihre Handlung um Erfolgsstories im urbanen Milieu aufbauen. Das Schicksal des tenderfoot Walter Miller in der Stadt der tausend Fallen ähnelt denen der Tyrone Power, Tony Curtis oder Kirk Douglas

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1