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Von einfachen Dingen
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eBook302 Seiten3 Stunden

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Über dieses E-Book

Vier Frauen einer Familie, die Schwangerschaft und Muttersein als beglückende Erfahrung erleben und zugleich als heftige Auseinandersetzung mit Selbstzweifeln, Ängsten und dem Gefühl, schuldlos schuldig zu werden.
Vier Generationen, vier Lebenswege, die deutlich machen, wie einflussreich bis heute das Bild von der umsorgenden Frau und hingebungsvollen Mutter ist, die Güte und Heilung verkörpern soll. Ein starres Bild, das in der jüngeren Geschichte besonders machtvoll wurde durch kollektive Schuldabwehr und ein damit einhergehendes panisches Harmoniebedürfnis.
Den Figuren des Romans aber gelingt es, sich diesen rigiden Erwartungen zu entwinden, zu widersetzen - und sich dabei gegenseitig respektvoll und mutig zu unterstützen. Doris Schuster verweigert sich einer für sie unwürdigen Existenz, Marie findet als Eva zu einem glückenden Leben, Hannah verwirklicht ihren Traum als Künstlerin und Fabia versöhnt sich mit sich selbst.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum5. Mai 2021
ISBN9783347316133
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    Buchvorschau

    Von einfachen Dingen - Gabriele Michel

    Marie

    28. Mai 1955

    Nicht mal ihre Augen hat sie gesehen. So verschrumpelt und verborgen, der winzige Mensch. So fern inzwischen – und doch sieht sie, wenn sie »Elke« denkt, das Gesicht ihrer Tochter genau vor sich: die hellblauen Augen wie Herbert, mit einer feinen dunklen Linie rundum, hauchdünne blonde Haare, so wie in ihrem Traum gerade.

    Frau Taraschewsky lehnt ihr Kopfkissen gegen die Wand und schaltet das Radio ein. Schlafen kann sie jetzt sowieso nicht mehr.

    Elke. Im Frühjahr hätte sie ihr eine Schultüte gebastelt, mit Himbeerbonbons, bunten Maoams, zwei Cola-Lutschern. Und für den Einschulungstag hätten sie im Kaufhof das fröhlich blau-weiß-karierte Trägerkleidchen aus dem Schaufenster gekauft.

    Wolkenloser Himmel. Wenn die Sonne scheint, kann sie im Innenhof die Wäscheleine aufspannen. Draußen ist alles ruckzuck trocken und riecht auch ganz anders; als hätte der warme Wind frischen Blütenduft in die Fasern geblasen. Frau Taraschewsky schlüpft in die Kleider von gestern und schnappt sich den Korb mit den ordentlich zusammengelegten Laken, Hemden und Handtüchern.

    Als sie fast schon in der Waschküche ist, schrillt oben in ihrer Wohnung die Klingel. Sie eilt die Kellertreppe hoch. Vor der Haustür stehen zwei Männer in grüner Uniform: »Guten Tag, entschuldigen Sie die Störung so früh am Morgen. Wir suchen Taraschewskys hier im Haus.«

    »Ja?«

    »Bei denen wohnt wohl ein Fräulein Schuster.«

    »Ja. Sie ist verreist.«

    »Ach, dann sind Sie Frau Taraschewsky?«

    »Ja.«

    »Und seit wann ist Fräulein Schuster weg?«

    »Was ist denn mit ihr?«

    »Das können wir Ihnen nicht sagen. Aber wir müssten einen Blick in ihr Zimmer werfen.«

    Die Stufen knarren unter den schweren Schritten des Dicken. Im ersten Stock der hässliche Fleck auf dem Treppenläufer. Das Schweigen der beiden Polizisten hinter ihr bedrückt Frau Taraschewsky. Ihre Hand zittert, als sie den Schlüssel an dem hellblauen Bändchen aus der Schublade holt und Fräulein Schusters Zimmer aufschließt – es ist tiptop aufgeräumt.

    Die Polizisten schauen sich unschlüssig um. Der Ältere öffnet mit seinen behaarten Händen eine der Nachttischschubladen und nimmt ein Buch heraus, blättert darin und legt es kopfschüttelnd zurück, während sein jüngerer Kollege einen Blick in den Kleiderschrank wirft. Offenbar gibt es nichts Bestimmtes, das sie suchen.

    »Es hat mich schon gewundert, dass Fräulein Schuster mit einem so kleinen Koffer aufgebrochen ist. Aber dann hab ich nicht mehr daran gedacht, weil die Kohlen geliefert wurden. Die sind ja jetzt viel billiger als im Herbst, wenn alle bestellen.«

    Die beiden Männer beachten sie nicht, schauen flüchtig die Papiere auf dem kleinen Schreibtisch durch, verständigen sich mit einem Blick und wenden sich dann zum Gehen. Erst in der Haustür nennen sie ihre Namen und geben Frau Taraschewsky eine Karte mit einer Adresse in Köln-Deutz und zwei Telefonnummern. Falls sie etwas von Fräulein Schuster hört, soll sie sich umgehend melden.

    Das »umgehend« beunruhigt sie – überhaupt ging das alles zu schnell. Unheimlich, wenn der Tag so beginnt. Auf den Schreck muss sie erst mal einen Tee trinken. Vielleicht ist alles auch ganz harmlos. Doch ihr schwindelt, als sie die Gasflamme anzündet und den Wasserkessel auf den Herd stellt. Gut, dass Herbert zum Mittagessen nach Hause kommt. Sie muss das unbedingt loswerden – und für die Polizisten wird er sich sicher interessieren.

    Über Elke sprechen kann sie nicht mit ihm. Er dreht sich weg, macht den Kühlschrank auf oder das Radio an.

    Immerhin hat er ihr letztes Jahr am ersten April, als Elke vor fünf Jahren hätte zur Welt kommen sollen, die Tapete geschenkt, die ihr so gefiel. Bunte Dreiecke, durch schwungvolle schwarze Linien miteinander verbunden. Das sei jetzt modern und von einem berühmten Maler inspiriert, hat ihnen der Verkäufer erklärt. Eigentlich versteht sie nichts von Malerei und Herbert schon gar nicht. Aber die Tapete gefällt ihr, besonders das Lichter-Spiel, wenn die Sonne darauf fällt. Das Wasser blubbert, Frau Taraschewsky zieht rasch ihren Kittel an. Nylon, das ist praktisch, schützt Rock und Bluse und sieht immer adrett aus, auch wenn die Taschen am Rand schon etwas gelblich sind.

    Zum Tee eine Schnitte mit Brombeermarmelade, selbst gekocht. Die Brombeeren hat sie letztes Jahr zusammen mit Herbert am Bahndamm gepflückt. Wenn sie das Brot sofort isst, braucht sie keine Margarine und kann Sonntag mit gutem Gewissen etwas mehr davon nehmen. Es geht ihnen ja nicht schlecht inzwischen, aber das Sparen sitzt einfach drin.

    Frau Taraschewkys Blick folgt einem jungen Kerl, der auf seinem Motorroller am Küchenfenster vorbei saust und dabei geschickt den großen Löchern im Straßenbelag ausweicht. Genauso ist sie mit dem Fahrrad manchmal durch die Straßen gefegt. Früher. Hoffentlich werden die Asphaltschäden noch vor dem Sommer ausgebessert. Wenn es erst mal richtig heiß ist, trocknet der Teer nicht, und man bleibt mit den Absätzen hängen.

    Sie hatte sich schon eine Wiege ausgeliehen. Und dann war plötzlich alles vorbei. Mit niemandem hat sie darüber sprechen können. Weil sie zu leicht war, ist Elke nicht einmal beerdigt worden. Jetzt gibt es einen Baum am Waldrand, wo Frau Taraschewsky einen Elke-Stein hingelegt hat, den sie besuchen kann.

    Das leere Zimmer zu vermieten ist ihr schwer gefallen, aber jetzt kann sie dafür ab und an richtig zum Friseur gehen. Und nächstes Jahr könnte es für einen Fernseher reichen. Mit Fräulein Schuster kamen die Erinnerungen. 1945 bei Metzger Künkelmann in Gladbach. Bei denen waren sie die Fremdlinge. Zu zehnt in einer Dreizimmerwohnung, immer eng und immer das Gefühl, nicht erwünscht zu sein. An Karneval sangen die Leute auf offener Straße »Am dreißigsten Mai geht ein Flüchtlingstransport – mer lache uns kapott, dann sin se wieder fott.«

    Frau Künkelmann war oft garstig, aber sie hatte es auch schwer, die vier Kinder, das Geschäft und dann noch wir. Der Mann kam manchmal abends und brachte Mutter ein Stück Wurst oder einen Knochen mit Fleisch für Suppe.

    Sieben Monate ist Fräulein Schuster jetzt schon bei ihnen – und eigentlich inzwischen ja eine Frau. Seit ihr Kind auf der Welt ist. Hat sich für die Schachtel mit Knusperpralinen nett bedankt, als sie nach der Geburt wieder nach Hause kam und erzählt, dass es ein gesundes Mädchen sei und alles in Ordnung.

    Mehr wollte Frau Taraschewsky damals nicht fragen. Aber sie hat sich schon gefreut, mal auf das Kind aufzupassen. Man denkt ja solche Sachen. Schließlich ist sie fast immer zu Hause. Doch das Fräulein hat ihre Kleine in dem Heim vom Krankenhaus gelassen, ist gleich wieder arbeiten gegangen. Und dann so plötzlich verreist.

    »›Ganz Paris träumt von der Liebe …‹ – mit diesem wunderschönen Lied von Caterina Valente wollen wir den Tag beginnen. Es ist 7.12 Uhr, und es kündigt sich ein sonniger Frühlingstag an.«

    Das Radio ist ihr gutes Stück. Ein Loewe-Opta, das sollte es dann schon sein. Herbert hat es ihr gekauft, weil sie so viel allein ist. Dafür hat sie ihm versprochen, dass die Flasche tagsüber im Schrank bleibt. Ganz hält sie sich nicht daran, aber bei dem schönen Wetter kann sie heute Nachmittag in den Park gehen oder auf der Schildergasse Schaufenster gucken. Dann ist die Versuchung nicht so groß.

    Jetzt muss sie aber runter, sonst ist die Wäscheleine voll. Nur rasch noch das Zimmer wieder in Ordnung bringen, falls das Fräulein gerade heute zurückkommt.

    Frau Taraschewsky wischt sich die Marmeladenreste von den Fingern, die offene Tür am Ende des dämmrigen Flurs, der Schlüssel steckt noch.

    Der Dicke hat sich beim Durchsuchen des Nachttisches aufs Bett gesetzt, ganz verkrumpelt sieht das jetzt aus. Als sie das Deckbett aufschüttelt, fällt ihr Blick auf etwas Dunkelblaues, das unter dem Kopfkissen hervorlugt.

    Sie zögert, legt das Plumeau ordentlich aufs Bett, greift rasch darunter und zieht ein Schulheft hervor. Es ist abgegriffen, der Umschlag hat Eselsohren, die Frau Taraschewsky glatt zu streichen versucht. Dabei schlägt sie, wie aus Versehen, die erste Seite auf – und sofort wieder zu.

    »Bitte nicht lesen« steht da.

    Das ist privat, sie muss das Heft zurücklegen. Ihre Hände zittern. »Bitte nicht lesen.« Vielleicht ein Tagebuch. Das Tagebuch eines fremden Menschen lesen, das darf man nicht.

    Aber vielleicht enthält es wichtige Informationen. Ob Fräulein Schuster zusammen mit der kleinen Marie weggefahren ist? Schnell, als könnte jemand sie sehen, steckt Frau Taraschewsky das Heft in ihre große Kittel-Tasche, streicht noch mal die Bettdecke glatt, verschließt die Zimmertür und geht ins Schlafzimmer. Dort schiebt sie das Fundstück unter die Arztromane in ihrem Nachttisch, klopft die Betten auf, wischt Staub auf den Nachttischen, legt Herberts Hosen zusammen und die Bettvorleger gerade.

    Wenn das Tagebuch Hinweise darauf enthält, wo Fräulein Schuster ist, müsste sie es der Polizei bringen. Umgehend. Aber vielleicht steht auch drin, was mit dem Mädchen ist. Frau Taraschewsky zieht das schmale Heft zögernd wieder aus der Schublade, legt es aufs Bett und geht ins Bad. Sie putzt das Becken, stellt die Zahnbürsten gerade, holt neue Handtücher. Sie wird schnell lesen. Und wenn Fräulein Schuster am Ende des Hefts noch nicht zurück ist, wird sie es der Polizei geben.

    12. Dezember 1954

    Eklig der modrige Geschmack im Mund. Auch noch solche Träume!

    Wie sie da hockte, genau in der Kuhle, in der ich immer liege, die fette schwarze Spinne mit ihren gefräßig ausholenden Kraken-Beinen. Da wächst etwas in mich hinein, frisst mich von innen weg.

    Ich will kein Kind. Aber ich will auch nicht so träumen von diesem Kind, das die Leute bald »dein Kind« nennen werden. Mein Kind. Nie wird es Hans-Jürgens Kind sein, für niemanden. Immer nur meins! Als hätte nur ich diese paar Male die Berührungen genossen, die Gier und die Lust.

    Er war schnell weg, der Herr Abteilungsleiter, als ich versucht habe, mit ihm zu sprechen.

    Jetzt ist alle Schuld bei mir. Bald wird sie sichtbar sein. Wo soll ich hin? Das Kind darf mir nicht so zu Leibe rücken. Schlafen. Schlafen bis morgen, bis Sonntag, über Weihnachten weg, aus dem Leben raus schlafen. Mit dem Kind. Dann wäre es mein Todesschlafkind.

    Ihr Herz wummert. Dachte sie sich doch, das Buch führt sie zu der Kleinen, zu Marie. Aber jetzt muss sie sich erst mal beruhigen.

    Frau Taraschewsky klemmt sich den Wäschekorb wieder unter den Arm und geht mit zitternden Beinen in den Keller, um die Leine zu holen.

    Das Tagebuch ist ein Beweisstück, egal wofür. Was sie tut, ist Unrecht. Aber sie will wissen, was mit dem Kind ist. Vielleicht kann sie das Heft schon morgen zum Revier bringen. Im Hof ist noch niemand, die Leinen sind rasch gespannt. Sie klammert die Handtücher und Unterhemden zusammen, rasch, ein Topflappen fällt ihr aus der Hand, sie schlägt die Blätter ab, rubbelt einen frischen Fleck weg, nun steht auch noch Frau Schwamborn schnaufend mit einem Stapel Bettwäsche auf dem Hof, die blonden Haare gewellt wie bei Lilo Pulver.

    Mit einem kurzen Gruß huscht Frau Taraschewsky an ihr vorbei, früh habe der Metzger ja immer die besten Stücke.

    Die feuchten Oberhemden hängt sie auf Kleiderbügeln ins Bad und geht dann schnurstracks ins Schlafzimmer, schlägt das Tagebuch auf und findet auf Anhieb die Stelle, an der sie vorhin aufgehört hat zu lesen.

    13. Dezember

    Wenn mir nur nicht so übel wäre. Aber kotzen werd ich nicht, weiß ich ja. Bleibt immer im Würgen stecken. Würgen, und niemand darf etwas merken. So elend allein. Aber wenigstens ein Zimmer. Und die Vermieterin hat gütige braune Augen, mütterliche Arme und immer adrett frisiertes Haar. Also ordentlich. Sehr ordentlich: »Herrenbesuch ist nach 20 Uhr verboten!« Als sie das sagte, hat ihre Stimme nach jedem Wort ein Ausrufezeichen gesetzt. Dafür säuft der Mann nicht, ist zumindest noch nie laut geworden. Wenn nur das Bett nicht so weich wäre. Aber alles besser als die Schreierei zu Hause.

    »Ein Bastard! Ein Bastard in unserer Familie.« Was ich mir dabei denken würde, wo er sich abrackert Tag für Tag. Ein Flittchen sei ich. Eine Schande!

    Vater in einen Zwerg zu verwandeln, ein sich im Zorn verzerrendes Rumpelstilzchen – der Kinderzauber hat nicht mehr funktioniert. Wie er sich aufgebaut hat und geschrien, die Adern an seinem Hals traten wulstig hervor: »Du bist nicht mehr meine Tochter! Eine Hure, eine elende Hure, das bist du, ja!«

    In dem Moment hätte ich gehen sollen. Wusste ja, was jetzt kommt: Zucht, Anstand, die feigen Wehrkraftzersetzer. Die hätten die Deutschen in den Dreck gezogen, so wie jetzt ich ihn in den Dreck ziehen würde. »Aber wir sind eine ehrbare Familie. Und das bleiben wir auch!«

    Den ganzen Schmodder auf dem Papier abladen? Klappt genauso wenig wie Schäfchen zählen.

    Frau Taraschewsky geht zur Vitrine und schenkt sich ein Glas ein. Das braucht sie jetzt. Auf ihrem Bett sitzend, trinkt sie die goldbraune Flüssigkeit in zwei großen Schlucken weg. Warme Ruhe breitet sich in ihr aus.

    16. Dezember

    Ha, ehrbare Familie. Ich hab’ doch gesehen, wie sie es getrieben haben, die Nachbarn rundum, als der Krieg vorbei war. Wie sie gegrapscht haben, schon nachmittags betrunken. Wie zu Frau Krings gegenüber abends immer neue Männer kamen. Dagmar im Zimmer neben ihrer Mutter musste alles mit anhören. Gebetet hat sie, dass ihr Vater endlich aus der Gefangenschaft zurückkommt. Aber jetzt will davon natürlich niemand mehr etwas wissen. Da muss ich dann eine Schande sein!

    Sollen sie sich doch anständig fühlen, von mir aus, für den Rest ihres Lebens.

    Mutters Gesicht, so schmal, ihre Augen, aufgerissen vor Schreck, als Vater schrie: »Raus, raus«. Seine Stimme überschlug sich: »Nicht unter meinem Dach!«

    Rausgehen, packen, nichts denken. Die beiden haben nebenan weiter gestritten, später rannte Vater Richtung »Simons«. Nach einer Weile das Knarren von Mutters Bett.

    Mein Brief für sie auf dem Kopfkissen, so einsam.

    »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben.«

    Morgens beim »Früh« Tee mit Rum. Der Alkohol war mir egal. Hab mir gewünscht, das Kind würde den ganzen Aufruhr nicht überstehen, ich ginge aufs Klo, plötzlich Schmerzen, Blut, ein kleiner Klumpen und alles wäre vorbei. Ich war dreimal auf dem Klo. Wehgetan haben nur meine abgefrorenen Finger.

    Kalt ist ihr auch. Frau Taraschewsky greift zum Glas, stellt es schnell wieder weg, ist ja eh leer. Sie kann jetzt nicht aufhören zu lesen.

    18. Dezember

    Schon wieder Betrunkene unten. Diese penetrante, schrille Stimme, die nach ihrem Dieter schrie: »Du kannst doch nicht ohne deine Irene nach Hause gehen.«

    Ausgerechnet Irene. Wie Hans-Jürgens Frau. Feiger Typ. Kein Wort wert. Heile Familie. Spielt sonntags sicher mit seiner Püppchen-Frau und dem misstrauisch blickenden Sohn Autoquartett oder Canasta.

    Ein Schreck fährt ihr in die Bauchgrube. Irene heißt auch die Frau von Hans-Jürgen, dem Stolz ihrer Schwester. Dass der kleine Klaus misstrauisch guckt, hat sie zwar noch nicht bemerkt, aber der Name und die Püppchen-Frau passen hundert Prozent auf Hans-Jürgens Irene, so hochnäsig und etepetete, wie die ist.

    Jetzt braucht sie doch noch ein Glas. Es gerät ein bisschen groß, aber bis zum Mittagessen sind es noch vier Stunden. So ein Durcheinander. Sie muss weiterlesen. Darüber kann sie ja nicht mal mit Herbert sprechen.

    24. Dezember

    »Kommet ihre Hirten, ihr Männer und Frauen.« Wenn jemand mich so sähe. Flöte spielen unter der Bettdecke! Aber so hören die beiden nebenan nichts. Dass in fast allen Weihnachtsliedern das kleine Kind rumgeistert, ist mir früher nie aufgefallen.

    In der Rosenstraße essen sie jetzt Braten mit Rotkohl und Kartoffelpüree, exakt um sieben Uhr. Das Exakte war ihm immer wichtig. Kein Satz von Mutter an mich. Geht ja auch nicht, ohne Adresse. Im Büro nachzufragen, war ihr wohl zu unangenehm. Könnte sich ja jemand etwas denken! Ich hätte es wissen können. Immer schon war ihnen das Wichtigste, dass die Nachbarn rechts und links nichts zu reden haben. Etwas zu gelten.

    Dass es so wehtut!

    Die Glocken, das muss der Weihnachtsgottesdienst sein. Jetzt drehen Taraschewskys auch noch ihr Radio laut. Schön, die helle Stimme der Frau. So innig. Die singt gern – auch wenn ihr Herbert keinen Ton trifft.

    Im Wohnzimmer auf und ab gehend, versucht Frau Taraschewsky, sich mit kleinen Schlucken zu beruhigen. Das Fräulein hat recht, Herbert kann nicht singen. Wenn sie das gewusst hätte, wie das Mädchen allein in seinem Zimmer …

    Eigentümlich, von Weihnachten zu lesen – und draußen so hell. Die Sonne hat sie völlig vergessen. Und sie weiß immer noch nicht, wo Marie ist.

    7. Januar

    Gestern mit Hans-Jürgen ein Bier getrunken. Dass ich in den Mann mal verliebt war. Na ja, wohl eher geschmeichelt, dass er sich für mich interessiert hat. Und ich wollte berührt werden, ja, das wollte ich.

    Ahnte nicht, wie weh es tut, wenn jemand nah ist und dann plötzlich so fern, feindselig. Angst bekommen hat er, wollte sich und seine traute Familie in Sicherheit bringen. Schon im Stehen, sein anzüglich Gemeines: »Du warst eine aufregende Überraschung. Eigentlich schade, dass ich schon vergeben bin.«

    Arschloch.

    Hoffentlich hat das Kind keine blonden Haare.

    Sie muss sich einen Tee machen, sonst verliert sie ganz die Fassung, vom Cognac und all den Gefühlen. Aber jetzt weiß sie immerhin, warum dieser Mann nicht ihr Neffe sein kann. Hans-Jürgen trinkt kein Bier. Stößt höchstens an Geburtstagen mal mit einem Sekt an. Ihm schmecke der Alkohol nicht. Sagt er. Hans-Jürgen. Immer erfolgreich. Immer gut gelaunt.

    Der nächste Eintrag ist nicht lang.

    20. Januar

    Heute auf den Ämtern. Formulare ausgefüllt, Absprachen getroffen, beinahe ohne Gefühl. Sonst könnte ich das nicht. Der Sachbearbeiterin klebte ein grünes Blatt am Zahn, das gab ihr etwas Hexenhaftes. Die trinkt sicher auch ohne Schwangerschaft nur Pfefferminz-Tee und löst abends Kreuzworträtsel. Aber sie war fair, hat keine blöden Fragen gestellt oder versucht, mir ins Gewissen zu reden. Danach bin ich ewig durch die Stadt gelaufen. Spüre das Kind und lass es doch nicht richtig auf die Welt kommen. Nicht in meine Welt. Aber die gibt es ja auch nicht mehr.

    Frau Taraschewsky kramt in ihrer Schürze nach einem Taschentuch, wischt sich die Tränen ab, legt das Heft eine Schublade tiefer, ganz nach hinten – ihre Binden fasst Herbert nicht an.

    Draußen gießen zwei Männer in fleckigen Arbeitsanzügen vorsichtig schwarz glänzenden Teer in die Schlaglöcher. Wie Rübenkraut sieht er von hier oben aus. Sie öffnet das Fenster, saugt den ölig-heißen Geruch ein, wird ruhiger.

    Herberts Schritte erkennt sie schon im Treppenhaus. Bedächtig, schwer, dabei ist er nicht mal fünfzig. Sein leises Schnaufen, als er im Flur seine Jacke auszieht. Nur im Hemd würde Herbert nie ins Büro gehen.

    Im Vorbeigehen legt er ihr kurz eine Hand auf den Rücken, schaut zufrieden in den dampfenden Topf und rutscht auf die Eckbank.

    Zwei Teller Nudeln verputzt er. Frau Taraschewsky betrachtet ihn, essen kann sie nicht. Seine kräftigen Unterarme mit dem blonden Flaum gefallen ihr immer noch.

    Während sie die Küche aufräumt, legt Herbert sich immer zu einem Nickerchen hin. Kaum ist er wieder aus dem Haus, schließt sie die Vitrine mit zwei Umdrehungen ab, holt die Trittleiter und legt den Schlüssel oben auf den Kleiderschrank. Dann schiebt sie die Gardine beiseite, rückt den schweren Sessel ans Fenster, wo die helle Mittagssonne hinfällt, und sucht blätternd das nächste Datum:

    12. Februar

    Ich will nicht allein sein, ich will keine Geburt, ich habe Angst. Es ist kalt, Frau Taraschewsky knappst mit den Kohlen. Und natürlich hat sie was gesehen, als ich gestern zum Wäscheaufhängen im Keller war. Dabei war es noch fast Nacht.

    An das Zusammentreffen im Keller erinnert sich Frau Taraschewsky gut. Sie war einen Moment lang wütend, als sie den gewölbten Bauch unter Fräulein Schusters Bademantel sah. Ja, sie wollte sich nicht mit bissigen Bemerkungen der Leute im Haus herumschlagen. Aber dann hat sie doch gefragt, wie es heißen soll.

    »Marie oder Michael, je nachdem« hat Fräulein Schuster gemurmelt und ist rasch nach oben verschwunden.

    Das Bäuchlein hat sie neidisch gemacht, doch das konnte sie sich damals nicht eingestehen.

    Im Hof wollte sie an der Teppichstange eine Schaukel für Elke aufhängen und in den Garten einen kleinen Waschzuber stellen.

    2. März

    Schon wieder so ein Lärm unten. 2.23 Uhr. Wenn das so weiter geht, klapp ich zusammen. Zusammenbruch und Klinik, dann würde man sich wenigstens um mich

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