Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die unfruchtbare Witwe: Roman
Die unfruchtbare Witwe: Roman
Die unfruchtbare Witwe: Roman
eBook376 Seiten5 Stunden

Die unfruchtbare Witwe: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Die Geschichte spielt in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in einer Kleinstadt im Piringebirge in Südwestbulgarien.
Nachdem ihr Mann an der nahen Vardar-Front gefallen ist, wird die junge Witwe Wranitsa von ihrer Schwiegermutter aus dem Haus gejagt, weil sie ihr keinen Enkel schenken konnte. Wranitsa verliebt sich in den Albaner Adem, der in dem Ort eine Art Konditorei führt, und wird von ihm schwanger. Bevor sie ihm sagen kann, dass sie ein Kind von ihm erwartet, ist Adem gezwungen in seine Heimat zurückzukehren, um eine Blutschuld zu zahlen, deretwegen er zwanzig Jahre vorher nach Bulgarien geflüchtet war. Zwar wird er in Albanien nicht getötet, aber ob er zu Wranitsa zurückkehrt, bleibt angesichts der Tatsache, dass er in der Heimat eine Frau mit inzwischen erwachsenem Sohn hat, offen. Die nicht mehr unfruchtbare Witwe wird von ihrer Schwiegermutter wieder aufgenommen. Boika Asiowas Roman porträtiert im Mikrokosmos einer bulgarischen Kleinstadt den Makrokosmos des Balkan. Mit ihren einfühlsamen Beschreibungen von Bulgaren, Türken, Pomaken (muslimischen Bulgaren) und Albanern zeichnet sie ein Bild einer multiethnischen Gesellschaft, die in Frieden, wenn nicht notwendigerweise Harmonie, zusammenlebt und zusammen leidet.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum19. Juli 2013
ISBN9783943941340
Die unfruchtbare Witwe: Roman

Ähnlich wie Die unfruchtbare Witwe

Titel in dieser Serie (7)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Die unfruchtbare Witwe

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die unfruchtbare Witwe - Boika Asiowa

    www.culturcon.de

    Rabiye betrat den Hirsebierladen

    Rabiye betrat Adems Hirsebierladen. In einem Zweiliterkessel kaufte sie montags Hirsebier. Nicht, dass sie jeden Sonntag in ihrer Familie geschlemmt hätten, aber aufgrund einer vor langer Zeit festgelegten Ordnung aßen sie am ersten Tag der Woche Hirsebier mit eingebrockten großen, trockenen Brotstücken. Der Hirsebierverkäufer wischte den Ladentisch. Ihr stach sofort seine Schürze ins Auge, die weißer war als sonst. Sie war ordentlich gewaschen. Sie wandte den Blick zu den auf einen Bindfaden aufgezogenen kleinen Vorhängen – auch sie waren sauber. Sie hatten, wenn schon nicht ihr anfängliches, so doch einen Großteil ihres Weiß wiedererlangt. Das war mit Sicherheit das Werk einer Frau.

    Keiner der Kunden bemerkte, dass beim Hausherrn alles frisch gewaschen war. Nur Rabiye sah es. Daran merkte sie, dass er Besuch gehabt hatte. Sie dachte, sie kenne alle zu Seitensprüngen neigenden Frauen, Witwen und Sitzengelassenen in der Stadt. Und jetzt das! Sie begann, sie im Geiste wie die Perlen einer Gebetskette abzuzählen. Aber sie konnte bei keiner stehen bleiben. »Warte mal, warte mal, warte mal! Halt, nicht so schnell!«, befahl sie sich selbst. Sie legte die Stirn in Falten, um das Bild nicht entgleiten zu lassen, das sich um ein Haar wieder in ihrem Kopf zerstreut hätte. »Warte, warte, warte …«, sie rieb sich die Stirn. »Hopplaaaa! Sie ist es! Sie ist es! Sie hat die traditionelle Halva für den Sonntag vor Beginn der Fastenzeit bei ihm gekauft. Hat ihren Nachbarn Tschibuk Tonka übergangen, ebenfalls ein Meister der weißen Halva, und ist gekommen, um bei Adem einzukaufen. Sie ist es!«, sagte Rabiye sich mit Nachdruck.

    Rund um den Tisch an der Wand saßen bereits die beiden – Adžisale und Tschibuk Tonka. Sie erwarteten den dritten – Aydın Dinka. Um die immer gleich bleibende Dreiergruppe von Altersgenossen scharwenzelten auch andere herum. Ging einer, kam ein anderer. Der Tag beginnt, die Woche wickelt sich auf, nach ihr eine andere. Wie auf einem Webebaum.

    Adem

    Mittelgroßer Kopf. Dunkeläugig. Kantiges Gesicht. Hände mit langen Fingern wie bei einem Dudelsackspieler und festem Griff. Mit einer weißen Wollmütze auf dem Scheitel, die man in seiner Muttersprache Kelesh nennt. Die Augen – scharfe Dolche. Man kann nichts darin lesen. So sehr man auch hineinspäht. Nach draußen hin schneiden sie, nach drinnen, in ihn hinein, lassen sie niemanden vor. Seine ganze Gestalt wie aus Marmor gehauen und danach jahrzehntelang vom Regen ausgewaschen und poliert. Erstarrt. Ohne Bewegung auf den Jochbeinen. Hinter seinem eingemeißelten, breit eingefassten dunklen Mund blitzten kräftige weiße Zähne auf. Das passierte beim Aussprechen bestimmter Wörter. Ein Lächeln zeigte sich nie auf seinem Gesicht. Wenn es ein Lachen gab, dann verschwand es irgendwohin. Unter der Haut ergoss es sich über die Mundwinkel, wonach es sich irgendwo in der Tiefe verbarg. Zorn streifte ebenfalls nicht offen umher. Auch andere Gemütsregungen ließen sich nicht an der Oberfläche blicken. Im Leben dieses Mannes war die Zeit stehen geblieben, ihn umgab eine rätselhafte Ruhe, die ihn von den anderen trennte und ihn gleichsam mit einer unsichtbaren Rüstung bedeckte. Fremde Augen konnten nicht sehen, was dahinter geschah.

    Immer ein und dieselben Bewegungen. Er dreht am Hahn des Fasses mit Hirsebier, wartet, dass sich einige Gläser füllen, die er mit einer Hand nacheinander unter den Strahl hält. Er reicht sie den Kunden. Er räumt das Geld vom Tresen in die Schublade, die er mit der Hüfte wieder zumacht. Er wischt das heruntergetropfte Wasser auf. Er geht zwischen den Tischen hindurch, wenn neue Besucher hereingekommen sind. Und wieder dasselbe. Es wiederholt sich jede Stunde und jeden Tag. Ein und dasselbe. Ein und dasselbe von morgens bis abends. Wie die Tropfen aus einem nicht richtig zugedrehten Wasserhahn. Wie viele Jahre schon? Niemand konnte sich mehr erinnern, wann Adem in der Stadt aufgetaucht war. Sie begannen, mit ihm und seinem Hirsebierladen zu leben wie mit etwas in einem längst vergessenen Frühling aus dem Erdboden Erwachsenen. Die Kinder überquerten in der großen Pause die Straße, die die Schule und seine Konditorei voneinander trennte, und gaben ihr Kleingeld bei ihm aus. Gegen ein Ei, noch warm aus dem Nest stibitzt, gab der Albaner eine Schachtel Zigaretten an die Rauchanfänger. Die nächste Generation Schüler – dasselbe. Es änderten sich die Zigarettenmarken, Adem blieb an derselben Stelle.

    Bis spät am Nachmittag hielten sich seine Kunden. Manchmal wurden sie von der Dunkelheit überrascht. Er trank nicht, aber es kam vor, dass er den länger Gebliebenen einen Schnaps einschenkte. Danach brach jeder nach Hause auf. Der Arnaute blieb allein zurück. Niemand verschwendete auch nur einen Gedanken an ihn. So als sei er dazu geboren worden, um sie in ihre Häuser zu verabschieden, wo ihre Frauen, Kinder und die Armut auf sie warteten. Und er? Die Freundschaft zu den dreien – Tschibuk Tonka, Aydın Dinka und Adžisale – reichte bis hier, bis zur Tür seines Hirsebierladens. Bis zu den Gesprächen über den Krieg, der auf verschiedene Art und Weise für sie schicksalhaft geworden war. Sie liehen sich oft Geld von ihm, und er gab ihnen immer. Das war’s.

    Adem konnte sich nicht daran erinnern, dass ihn je jemand in sein Haus eingeladen hätte.

    Die Tage kullerten dahin, die Jahre wickelten sich auf wie um den Mittelpfahl des Dreschbodens. Über sein Vaterland hörte man nichts.

    Das Leben floss wie auch zuvor dahin. Der Umsatz im Hirsebierladen – ebenfalls. Bescheiden, immer ein wenig, er sprudelte nicht, aber er tropfte. Für Brot reichte es.

    Adem machte einen Abstecher nach Plovdiv

    Adem machte regelmäßig einen Abstecher nach Plovdiv, um Ware einzukaufen. Nicht sehr oft, weil sein Umsatz nicht weiß Gott wie groß war, aber er fuhr gerne nach Filibe, so nennt man Plovdiv auf Türkisch, um selbst auszusuchen, was er brauchte. Er verließ sich nicht einzig auf die reisenden Händler, die ihn mit Hirse für das Hirsebier versorgten, mit Hefe, Kichererbsen, getrockneten Früchten, Zucker und anderen Kleinigkeiten. Einmal alle drei oder mehr Monate brachten ihn Pomaken mit dem Pferdewagen oder auf dem Pferd über den Gebirgssattel Jundola. Seltener – im Winter – mit dem Schlitten, das Zischen seiner Kufen blieb ihm lang im Gedächtnis. Sie fuhren ihn gegen eine bescheidene Summe, und auf der Rückfahrt bezahlte er sie meistens mit Waren. Das war eine Freude für ihre Kinder, von denen einige, schon große Jungen, ihre Väter begleiteten, um den Brotberuf zu erlernen. So gelangte er zur Eisenbahn in Saranbej. Die parallelen Stahlstränge durchquerten die Thrakische Ebene und gelangten zum großen Handelszentrum, das sich zu beiden Seiten des Flusses Marica ausbreitete.

    Er mochte das Warten am Bahnsteig. Der ganze Lärm und das Donnern, das Zischen des Dampfs, wie die Lokomotive ihn in Stößen aus ihrem Bauch entließ, während sie rückwärts fuhr, das Eintauchen in seinen warmen Nebel weckte in ihm die Sehnsucht nach unbekannten Ländern. Die aus den Waggons aussteigenden Reisenden stellten eine seltsame Mischung von Herren dar – sie kamen aus dem Herzen Europas, waren fein, wichtig, strahlten Hochmut aus und hatten sich auf den Weg gemacht, Bulgarien mit dem Zug zu durchqueren. Sie mischten sich unfreiwillig mit der lokalen Bevölkerung, die zwischen Pirot und Adrianopel zustieg, mit dem sinnlosen Aufputz der Frauen, die die westliche Mode kopierten und eher Vogelscheuchen auf dem Melonenfeld glichen als aufgetakelten europäischen Damen. Bauern, die zum ersten Mal einen Zug bestiegen hatten, voll Angst, nicht während des kurzen Aufenthalts übrig zu bleiben, getrieben von der Pfeife des diensthabenden Schaffners, drängten sich an der Tür mit Bündeln, Körben und Vögeln, die kopfüber aufgehängt lautstark mit ihren Flügel schlugen, höchstwahrscheinlich zum Verkauf bestimmt. Koffer, Abholende, Reisende, ihre Ware anpreisende Bahnhofsverkäufer von Obst und frischen Fladenbroten, diese ganze menschliche Geschäftigkeit beschleunigte den Puls seines Herzens.

    Die Lokomotive rief die Erinnerung an das Pferd seines Großvaters wach. Aufgeregt wegen des Geröllhangs, der sich im Gebirge in den Weg stellte, Dampf aus seinen Nüstern ausströmend, den ganz mit einer prächtigen Mähne bedeckten Hals gespannt, ein herrlicher, unnachahmlicher fliegender Drache. Dieses Bild ließ das Herz des Albaners schneller schlagen.

    Eingeschlossen in einer fremden Stadt, durch einige Berge von seinem heimatlichen Nest getrennt, konnte Adem nur in seinen Wunschträumen reisen. Was würde wohl passieren, wenn er in einen Waggon in Richtung Wien oder Bosporus spränge und nie wieder in den Schönen Talkessel zurückkehrte, in dessen Herz, das kleine Städtchen, sein treues Versteck?

    Versunken in seine unmögliche Flucht wartete er manchmal auf den blauen Zug, auf dessen Waggons mit großen Goldbuchstaben »Belgrad-Istanbul« geschrieben stand. Wenn dieser wunderschöne Riesenvogel schnaufend in den Bahnhof einfuhr, schnaubte er einmal warnend, und die Vibrationen seines metallenen Körpers riefen eine leichte Erschütterung hervor, die durch den Schotter zwischen den Stahlschienen lief, über den Gehsteig kroch, in den Venen der Menschen widerhallte und im kaum wahrnehmbaren Schaukeln der Lampen über den Köpfen der Menschenmenge im Bahnhof verstummte. Reisende und Abholende zogen sich ehrfürchtig einen Schritt zurück, und er blieb langsam und feierlich stehen. Dann stiegen aus ihm die Reisenden aus. Damen und Herren, weiß und sauber und vor allem ganz offensichtlich mit ihrem Leben zufrieden. Sodann rannte meist ein Kind mit einem kleinen Wasserkrug los, um ein Becherchen mit Wasser anzubieten. Von diesem Wasser kaufte sich Adem immer einen Schluck. So begann sein Geschäftstag auf dem Weg nach Plovdiv.

    Der Markt in der südlichen Stadt war ein kleines Abbild der lärmenden Handelsplätze im Osten. Reichlich laut, herrschte auf ihm eine seltsame Fröhlichkeit, die Adem in seinem Alltag nicht haben konnte, und das bereitete ihm besonderes Vergnügen. Von Natur aus ein schweigsamer Mensch, so wie albanische Männer eben sind, und sogar mürrisch, tauchte er mit für sich selbst unerwarteter Begeisterung in die vielsprachige Menge ein. Die Verkäufer priesen ihre Waren in verschiedenen Sprachen an. Abgesehen von der weichen Stadtaussprache der Plovdiver konnte man auch die schwer verständlichen Mundarten der Bauern aus den zentralen und östlichen Rhodopen hören, Türkisch, Zigeunerisch, Griechisch, Armenisch und Judenspanisch. Und all dieser Lärm mischte sich mit Vogelgekrächze. Zusammengebundene Hühner, Enten, Puten und sogar Tauben in Käfigen mischten ihre federbedeckte Wehklage unter die menschliche Vielsprachigkeit. Obwohl er nicht erwartete, ausgerechnet hier Landsleute zu treffen, sehnte er sich nach seiner Muttersprache, er spitze immer die Ohren, um ihren süßen Klang zu vernehmen, und oft kam es ihm so vor als hörte er bekannte Wörter. Es passierte, dass er stürmisch auf jemanden zurannte – ob Wasserverkäufer oder Gaukler –, um enttäuscht festzustellen, dass er sich doch geirrt hatte. Er konnte nicht glauben, dass er wirklich nicht soeben »Mirëdita!«, was »Guten Tag!« heißt, gehört hatte, dass dies Trugbilder waren, die ihn wohl immer öfter heimsuchen und auf kleiner Flamme braten würden, welche eine seltsame Mischung aus Hölle und Paradies darstellte.

    Aber einmal geschah es wirklich, dass er einen Albaner traf. Adem freute sich so von Herzen darüber, dass er den Grund vergaß, weshalb er sich seit vielen Jahren im Schönen Talkessel versteckt hielt, und er begann, den Bergbewohner auszufragen, ob er nicht etwas über sein Dorf gehört habe. Er sagte ihm genau, wie es heißt, zählte die Namen seiner Familienmitglieder auf, von denen er seit Ewigkeiten nichts mehr gehört hatte und nur fieberhaft hoffte, dass sie gesund und munter waren. Gute Reise! Und sie trennten sich herzlich auf der Straße voneinander, auf der dieses kurze Gespräch in albanischer Sprache stattgefunden hatte.

    Aber es verging nicht einmal ein Jahr nach diesem Vorfall auf dem Plovdiver Markt, und das Gerücht machte die Runde, dass Adems Sohn in die Stadt gekommen sei. Von irgendwelchen Bergen, wobei er einen Haufen stürmischer Flüsse durchquert und um viele klare Seen herumgegangen sei, er habe auch noch viele Wälder und Felsgrate durchwandert, bevor er ungerufen und unerwartet im Zentrum des Schönen Talkessels auftauchte. Niemand hatte sich bis dahin gefragt, ob denn der albanische Hirsebierverkäufer irgendwo irgend jemanden hatte, ob er »in der Sonne einen Kragen« hatte, was in der hiesigen Sprache eine Familie und ein Haus bedeutet. Er war sozusagen vom Himmel gefallen, ihm stand die Einsamkeit gut zu Gesicht, von der sie sich nie gefragt hatten, wie er sie überlebte. Ach, eigentlich war er geradezu niemand.

    Rabiye schwor, es herauszufinden

    Rabiye schwor sich selbst, dass sie alles bis ins letzte Detail herausfinden würde.

    Sie nannten sie so, weil sie vom Gesicht her einer Türkin aus dem nahen Dorf ähnelte – ihre ständige Anwesenheit auf dem städtischen Wochenmarkt, dunkelhäutig, mit lebendigen bunten Augen, laut, sie hatte sich in das gute Zeichen des Montags verwandelt. Ihre Verwandten und Freunde riefen sie Muša. Sonst war ihr Name Marija. Aber die meisten hatten ihn vergessen und wandten sich mit dem Spitznamen an sie, worüber sie sich nicht ärgerte. Manchmal liefen sie und die Türkin, deren Namen sie nicht auf eigenen Wunsch hin trug, sich auf dem Markt über den Weg und begrüßten einander herzlich. Sie wandten sich mit »Liebste Schwester!« und »Namensvetterin, dein Name soll leben!« aneinander. Sie tauschten den einen oder anderen Scherz aus und gingen dann ihrer Wege.

    »He, junge Frau, weißt du, was mein Name bedeutet?«, fragte die Türkin einmal ihre Namensvetterin.

    »Ich weiß es nicht«, gestand die Frau. »Und was bedeutet er?«

    »Frühling!«, sprach die echte Rabiye fast feierlich aus, womit sie sagen wollte, dass sie ihr dankbar sein musste für diesen schönen und beredten Spitznamen.

    »In meinem Kopf ist es Frühling geworden. Und ich hatte gedacht es kommt von ›rabinja‹, dem alten bulgarischen Wort für Sklavin. Das steht mir besser, um dir die Wahrheit zu sagen«, antwortete die zu Frühling umgetaufte Marija oder Muša oder Großmutter Nevenas Muša, nach dem Namen ihrer Mutter, allen besser bekannt als Rabiye.

    »Warum, junge Frau? Worin liegt denn deine Sklaverei?«

    »Oh, wenn du wüsstest, liebe Frau, mit was für einem Tyrannen ich verheiratet bin, mürrisch genug für neun Dörfer!«, verheimlichte Muša die Wahrheit über ihre bessere Hälfte nicht.

    »Weißt du, was ich dich lehren werde?«

    »Was?«, nicht, dass sie an irgend etwas glaubte, aber Großmutter Nevenas Muša war in dieser Angelegenheit für alle Ratschläge offen.

    »Leg ihm das Zaumzeug an. Du verstehst doch? Wie einem wild gewordenen Ochsen. Binde ihm das Seil um die Hörner, lass ihn grasen, und schau derweil auf deine Gesundheit.«

    Muša wollte der guten Türkin nicht widersprechen. Sie wollte ihr nicht gestehen, dass sie schon alles probiert hatte … Aber als sie so darüber nachdachte, dann tat sie eigentlich nichts anderes. Sie ging ihren Leidenschaften, die sonst ihr Familienleben nicht störten, nach und rettete sich so vor der Schlechtigkeit ihres Mannes.

    Und die zu Rabiye umgetaufte Muša hatte zwei Leidenschaften – Beerdigungen und Hochzeiten. Sie schloss sich beiden leicht an. Wessen Anlass es auch war, sie nahm von ganzem Herzen daran teil. Sie machte die beiden Rituale zu ihrem Leben. Sie half beim Decken des Tischs, ging hier und da zur Hand, gab Ratschläge, aß. Und sie brachte immer etwas mit. Sie war nicht geizig, kam nie mit leeren Händen. Diese Ausgaben betrachtete sie so, als wären sie ihr von Gott aufgetragen worden und ein wesentlicher Teil des gemeinsamen Lebens mit den Menschen. Sie hasste Beerdigungen an Feiertagen. Der Sonntag war ein Tag für Hochzeiten und sie wollte ihn nicht vergeuden. Nicht, dass sie nicht zum Friedhof hätte gehen können, ein Klümpchen Erde auf jemandes Sarg werfen und dann zurück in die Neue Kirche rennen, wie sie das große Gotteshaus im Stadtzentrum nannten, wo der Pope unter dem angezündeten Lüster die Kronen über den Köpfen des Brautpaares kreuzte. Es wäre ihr ein Leichtes gewesen, aber es verdarb ihr den Spaß.

    Rabiye und ihre Leidenschaften

    Die Teilnahme am Kirchenchor verband sie mit dem Küster. Der Kirchendiener war ihr besonders nützlich, um auf der Stelle die letzten Neuigkeiten über die Leute zu erfahren. Eine der wichtigsten war, wer verstorben war. Sobald die Glocke läutete, überquerte Rabiye die zwei, drei Straßen zwischen ihrem Haus und der Kirche und fand sich sofort beim Küster ein. Aus erster Hand erfuhr sie, wer gestorben war. Und später, als die Mode der Todesanzeigen aufkam, gefiel es ihr gar nicht, sich anhand eines Stücks Papier über solch wichtige Dinge zu informieren. Es fehlte ihr das Miterleben, das Gefühl, die Anteilnahme.

    Sie war bereit, die Nacht über bei dem Toten zu bleiben, wenn er keine Verwandten hatte. Nichts war mit einer nächtlichen Totenwache vergleichbar. Wenn wir von Hochzeiten einmal absehen. Obwohl sie mitleidig war, mochte sie keine Beerdigungen von armen Leuten. Sie ging zwar zu allen möglichen, aber es gefiel ihr bei größeren Familien besser. Dann versammelten sich mehr Menschen um den Sarg, und nachts, wenn der Verstorbene schon älter war, begannen die Leute, von ihren Erinnerungen an ihn zu erzählen. Das Leben lief über seinen geschlossenen Augen rückwärts. Für gewöhnlich begann es als wohltätig und endete mit interessanten lustigen Geschichten. Die Angehörigen vergaßen schnell, dass sie erschüttert aussehen mussten. Sie wechselten sich am Totenbett ab. Während die einen den Kopf über ihm hängen ließen, werkelten die anderen leise im Haus herum, um es für die bevorstehende Trauerfeier in Ordnung zu bringen. Aber irgendeine geheime Kraft hielt trotzdem die Teilnehmer an der Totenwache zurück, um nicht die Grenze des Anstands zu überschreiten. Niemand konnte so wie Rabiye eine Nachtwache beleben, und deshalb war ihre Anwesenheit erwünscht. Sie hielt es definitiv nicht für eine Sünde, etwas am Kopfende des Verstorbenen, der bereits die Schwelle zum Jenseits übersprungen hatte, zu essen. Etwas in den Mund zu stecken – etwas kleines, zum Trost, und auch etwas zu trinken. Wenn sich kein anderer fand und es ein kalter Winter war, dann war sie diejenige, die vorschlug, ein wenig Schnaps aufzuwärmen. Und sie ging ans Werk und erledigte diese Arbeit selbst. Sie schüttete ein paar Körnchen Zucker auf den Boden des Kupferkesselchens, der Duft von Karamell schwebte über den Wachenden, und sobald die braune Mischung sich über den Boden verteilte, schüttete sie den Schnaps hinein. Das durch das Zusammentreffen von Heiß und Kalt hervorgerufene Zischen belebte den Raum. Immerhin entspannen sich die Nerven nach einem Gläschen eines heißen Getränks, und der Weg in die Zukunft ist nicht mehr so kategorisch verschlossen, wie er noch vor kurzem ausgesehen hat.

    Wenn der Verstorbene ein junger Mensch war, dann war Rabiyes Rolle eine andere. Und auch diese wusste sie vorzüglich auszufüllen.

    Der Leichenschmaus war ein nicht wegzudenkender Teil der Beerdigung. Er wurde im Haus des Verstorbenen ausgerichtet, sofort wenn die Verwandten vom Friedhof zurückkamen. Rabiye liebte es zu schauen und später auch zu kommentieren, nicht aber darüber zu lästern, wer wie für seinen letzten Weg angezogen war oder wie viel und auf welche Art die Verwandten geweint hatten. Unter besonderer Beobachtung standen die Schwiegertöchter bei verstorbener Schwiegermutter oder Schwiegervater. Das war der Punkt, an dem sie es sich nicht nehmen ließ, damit anzugeben, was sie für sich selbst auf dem Boden des Sargs vorbereitet hatte, in dem gebundenen Einschlagtuch »für die Reise«.

    Es ging ihr durch den Sinn, wie die Männer, die sich nach ihrem Tod daran machen würden, den Sarg mit ihrem Körper hinauszutragen, ihn fallen ließen. Weil sie im zweiten Stock wohnten und die Treppe hinauf ziemlich eng und steil war. Äpfel und Walnüsse würden die Stufen hinunter poltern, Basilikum und jede Blume, die die Frauen zu einem letzten Lebewohl mitgebracht hatten, würden sich über die Treppe zerstreuen. Und sie, angezogen in den Kleidern, die sie eigens vorbereitet hatte, als wäre sie eine Braut, würde quer herauskullern, stecken bleiben und das Durcheinander wäre perfekt … Warum sie sich wohl dieses Bild vorstellte? Nun, weil sie eine lebhafte Phantasie besaß und das Leben sich in ihrem Kopf schneller abspielte als in der Wirklichkeit. Manchmal lachte sie über sich selbst wegen der Hirngespinste, die sie viel zu früh heimsuchten. Einmal beschloss sie, sich mit ihrem Mann zu streiten:

    »Ja und du, wenn du so ein großer Handwerker bist, wie konntest du da die Treppe so vermurksen? Nicht nur eng, sondern auch noch steil.«

    »Was ist dir denn jetzt wieder eingefallen?«, knurrte er überrascht und wie üblich mürrisch.

    »Na was wohl? Wenn die Zeit kommt, dass ihr mich hinaustragt, dann könnte jemand stolpern und dann lasst ihr mich fallen«, erklärte Rabiye die Gründe für ihre plötzliche Besorgnis.

    »Mach dir keine Sorgen!«, beruhigte sie ihr Mann. »Vielleicht gibt es in dieser Sippe sonst nichts, aber starke Männer, die dich hinaustragen können, die gibt es.«

    Rabiye hatte eine gute und helle Seele. Ihr Spott war immer zur Hand, vor allem gegen sich selbst gerichtet, und sogar wenn sie an den Tod dachte, schien die Lage nie völlig ausweglos.

    Während der Chorproben in der Kirche erfuhr sie, was in welchem Haus geschah. Wer weshalb Feuer gefangen hatte, wer ihn beruhigt hatte und ob man ihn überhaupt beruhigen konnte. Rabiye nahm mit ihrer Seele und ihrem Herzen an solchen Streitgesprächen teil. An Feiertagen stand sie früh auf, um sich umzuziehen, und mit einem Blumenstrauß in der Hand ging sie aus dem Haus, um ihre heilige Pflicht als siebte Stimme im Chor der kleinen Kirche »Mariä Verkündigung«, die sich hinter einer hohen und regelmäßig geschnittenen Hecke versteckte, zu erfüllen. Und wenn sie Zeit hatte, dann ging sie donnerstags in die Kirche »Mariä Himmelfahrt«, in der die Gottesdienste abends stattfanden.

    Rabiye und ihre Religionen

    Im Elternhaus Mušas oder Rabiyes, wie die meisten sie nannten, hatten sie längst den Altar vernachlässigt. Sie hörten auf, Öl ins ewige Licht zu schütten. Sie hörten auf, Kerzen für Gesundheit und für ein helles Andenken an die verstorbenen Verwandten anzuzünden. Sie tauschten diese ganze Ordnung gegen einen Vortrag am Samstag und das Singen im Chor mit dem Prediger von Gračen. Er kam aus dem Nachbarstädtchen, wo sie zuerst die protestantische Religion angenommen hatten, die vor Jahrhunderten den Ärmelkanal von England zum Kontinent hin überquert hatte, dann über den Atlantik geflogen war, um in Amerika Wurzeln zu schlagen. Das war noch bevor den Leuten die Geschichte von Miss Elena Stone zu Ohren kam. Als sie sich auf den Weg machte, das leidgeprüfte Makedonien zu bereisen, um in dem noch von den Türken unterdrückten Land den Glauben ihrer Kirche zu predigen, geriet sie in einen Hinterhalt. Beim Podprenfels am Gradevskafluß, genau dort, wo der Weg nach Gorna Džumaja von Predel herunterkommt in Richtung des Weilers Baba Cveta, erwarteten die Woiwoden Jane Sandanski und Christo Černopeev mit ihren Gesellen die Missionarin und ihre Mitreisenden. Goldstücke brauchten sie, die Rebellen. Sie brauchten sie, um Waffen für ihre Sache zu kaufen. Als er in der Klemme wegen des Geldes war, beschloss der König von Pirin, vom amerikanische Konsulat in Konstantinopel Lösegeld für die Freiheit von Miss Elena Stone zu fordern.

    Aber bei den Račovs, im Elternhaus von Rabiyes Mutter, hatten sie auch schon vor besagter Geschichte mit Miss Stone der hiesigen Kirche den Rücken gekehrt. Warum die Vorfahren diesen Entschluss gefasst hatten, darüber wurde in der Familie nicht gesprochen. Alle zählten sich schon längst zu den Protestanten und folgten den Regeln dieser übernommenen Religion. Das hinderte Rabiye aber nicht daran, am Samstag dem Clavecin von Frau Jordana im Hause Tulilov zu lauschen, dessen Erdgeschoß den evangelischen Pilgern Obdach gewährte, und sonntags im Kirchenchor der Kirche »Mariä Verkündigung« zu singen. Rabiye hielt es nicht für eine Sünde, dass sie auf verschiedene Art und Weise ein und denselben Gott verehrte. Für den eifrigen Gottesdienst mit den Protestanten und aus gutem Herzen gab ihr Frau Jordana Samen, Blumenzwiebeln und Setzlinge, und mit den Frauen vom Chor der Kirche »Mariä Verkündigung« fuhr sie zu anderen Kirchenfesten in der Umgebung, zum Rilakloster und noch weiter weg. Sie probten zwei Mal wöchentlich kurze Kirchenlieder und Lobpreisungen. Jeden Sonntag beim Frühgottesdienst und an Feiertagen sang Rabiye mit dem Chor »Gegrüßet seiest du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.«

    Das ist ein Lobgesang auf die Heilige Gottesmutter. Sie sangen es besonders inspiriert an Mariä Verkündigung, denn das war der Namensgeber der neuen Kirche. Erbaut mit einer Schenkung des reichsten Mannes in der Stadt, und aus diesem Grund trug das Gotteshaus auch den Namen, den er dafür ausgewählt hatte. Unter den Leuten erzählte man sich, dass er viel Geld gegeben habe, nicht nur weil er es besaß, sondern auch weil er in seinen Jugendjahren ziemlich viel Schade angerichtet hatte. Nicht nur, dass er nicht rechtschaffen gelebt hatte, der Halbmond habe auch ziemlich viele Seelen ins Unheil gestürzt, die ihm von seiner sonst wohltätigen Hand gewiesen wurden. Und später glaubte er dann, dass er sich von seinen alten und schweren Sünden mit Geld freikaufen könnte.

    Bevor sie an diesem großen christlichen Feiertag in die Kirche ging, putzte Rabiye das ganze Haus von Grund auf. Am Ende nahm sie ein großes Kupferblech, ging durch den Hof und schlug mit der ganzen Hand darauf, wobei sie siebenmal rief: »Flieht, Schlangen und Eidechsen, flieht Flöhe, Mariä Verkündigung vertreibt euch!« Und jeder Ruf endete mit einem durchdringenden, zischenden »Iiiij!«.

    Sie erklärte auch noch, dass an Mariä Verkündigung der Herr die Erde erwärmt und die Schlangen deshalb nicht beißen, weil sie Gott für die Wärme dankbar sind.

    Zum Festtag für die Brüder aus Thessaloniki wiederum wurde gesungen: »Ihr Weisen, Kyrill und Method, gleich nach dem Geiste mit den Aposteln und Lehrer der slawischen Länder, bittet den Bischof aller slawischen Völker, dass er die Orthodoxie und die Einhelligkeit stärkt, dass er die Welt versöhnt und unsere Seelen rettet.«

    Ob Werktag oder Feiertag, ob morgens, während sie Hausarbeit verrichtet, oder abends, wenn sie die Kinder schlafen legt, oder auf dem Feld, Rabiye liebte es, vor sich hin zu singen. Eine schöne Stimme hatte sie. Aber nicht aus der Stimme entsprang das Lied bei ihr. Aus ihrem Inneren holte sie es.

    »Mein Herz ist frei«, sagte sie über sich selbst. »Weder ist es voller Neid, noch ist es ein Eiswürfel.«

    Sie begann gern mit einem kurzen Kirchenlied für den Montag und endete mit:

    Der heilige Georg beschlägt das Pferd

    beschlägt das Pferd, sattelt das Pferd,

    um aufs Feld zu reiten,

    um die gesäten zu besuchen.

    Die vom Frühling haben Schosse getrieben,

    die vom Herbst haben Ähren angesetzt …

    Mitten im Sommer war der Feiertag des Klosters von Obidim. Genauer gesagt einer der Feiertage. Weil das Kloster zwei Namen hatte. Daher auch die zwei Volksfeste, die in ihm stattfanden. Den einen, den des Heiligen Pantelejmon, feierte das größte Dorf. Am siebenundzwanzigsten Juni. »Heiliger Dulder und Arzt Pantelejmon, bitte den barmherzigen Gott, dass er uns Vergebung schenkt für die Sünden unserer Seelen.« Dieses kurze Kirchenlied schwebte durch die kleine Kirche im Hof des Klosters. Dann stiegen dort besonders Lahme, Kranke und Kinderlose hinauf – alle mit der Hoffnung auf Heilung.

    Zu Mariä Geburt kamen die Laien aus den kleineren Dörfern und diese aus dem Nachbarkreis. Dann wurde ein Tier geschlachtet. Es kam zu einem großen Menschenauflauf. Das noch warme Wetter erlaubte es, auch außerhalb des Klostergebäudes zu schlafen, das für die Übernachtung von Laien vorgesehen war. Die Leute brachten sich irgendeine kleine Matte mit und legten sich in den Hof – wenn man den Platz, der sich in Spannen ausmessen ließ, überhaupt Hof nennen konnte. Sie

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1