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Venezia
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eBook478 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Das unabwendbare Schicksal der Venezia Daponte

Das Schicksal einer Familie. Eine verborgene Wahrheit. Das Ringen um Liebe und Ansehen. Andros zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Der junge und wohlhabende Linardo Daponte verliebt sich in die Schneiderin Anesa. Trotz der unterschiedlichen gesellschaftlichen Stellungen der beiden Liebenden heiraten sie heimlich und ihre Tochter Venezia Daponte wird geboren. Mit dem Jungen Angelos, Sohn eines Angestellten der Familie, mit dem sie geschwisterlich aufwächst, verbindet sie bald mehr als bloße Freundschaft. Durch die arrangierte Hochzeit mit Perros, einem Reednereisohn, soll dies unterbunden werden, doch ihr Mann ist als Kapitän selten zu Hause und Venezia flüchtet sich vor der Einsamkeit in die Arme ihres Jugendfreundes.

Während das Anwesen ihrer Familie immer weiter zerfällt, drehen sich ihre Gedanken ausschließlich um die Geheimhaltung ihrer Liebschaft. Auf Tochter Erietta folgt das zweite Kind, eindeutig das Kind Angelos'. Die Furcht vor der Entdeckung ihrer Affäre treibt Venezia dazu, zu immer härteren Mitteln zu greifen, um ihr Ansehen zu wahren. Als Tochter Erietta mit einem italienischen Besatzer eine Affäre eingeht wird Angelos rasend vor Wut und begeht den wohl schlimmsten Fehler seines Lebens… Es folgt die hastige Flucht von der Insel nach Athen. Erst Jahre später soll ein Foto Venezia klarmachen, was wirklich hinter ihrer tiefen Verbundenheit zu Angelos steckt.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Nov. 2017
ISBN9783957711298
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    Buchvorschau

    Venezia - Maria Skiadaresi

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    ERSTER TEIL

    LACHESIS

    (Die Zuteilerin)

    1

    Andreas Dapontes Hand zitterte, der Kaffee schwappte über den Tassenrand, das Leinenjackett saugte ihn auf, so, wie nur Reichtum zu saugen versteht.

    »Wer, Menschenskind? Logothetis’ Tochter? Welche von allen? Die Schneiderin? Das ist ja wohl nicht zu fassen! Du und sie!«

    »Wieso?« 

    »Weil sie nicht standesgemäß ist.«

    »War Mama denn reich, als du sie zur Frau genommen hast?«

    »Reich war sie nicht. Aber sie war die Enkelin von Dimitrakis Kampanis, Gemeindevorsteher seit der Türkenzeit, der auch die Fahne der Revolution erhoben hat!«

    »Schon gut, schon gut, das habe ich nun schon tausendmal gehört. Die Revolution, die Standarte, der Großvater Dimitrakis ...«

    »Halt deine Zunge im Zaum, Linardo! In diesen Dingen steht dir kein Urteil zu, du bist viel zu jung. Man höre sich das an: Da vergleicht er seine Mutter mit Logothetis’ Tochter!«

    Daponte drehte sich zur Seite und spuckte angewidert auf den Boden.

    Antonis Logothetis war freilich ein Trunkenbold, doch er hatte auch seine Gründe. In seiner Jugend war er ein angesehener Herr auf seiner Insel gewesen. Mit seinen Kuttern lieferte er Eicheln aus Naxos und Lesbos zu den Gerbereien auf Samos. Er machte gutes Geld. Seine Besatzung zählte zuweilen jeweils an die dreißig Leute. Doch als seine Frau mit dem Polizeioffizier durchbrannte, brach die Schande über ihn und seine vier Töchter herein, und auf der Suche nach einem Unterschlupf, um das erlittene Ungemach zu vergessen, gelangte er auf die Insel des Kyr Andreas. Und hier, sei es durch die widrigen Umstände, sei es durch den Kummer und das Trinken, gingen die Geschäfte allmählich schlechter – sie schrumpften zusammen wie ein billiges Kleidungsstück in der Wäsche. Er sank zum Fischer mit einem einzigen Boot herab, der Irene – Name der Treulosen.

    »Aber ich liebe sie!«

    »Und ich sage dir, dass das vorübergeht, so wie mit all den andern auch.«

    Linardo Daponte hat schon in vielen Betten gelegen. Er durchpflügt mit seinen Freunden die Orte Mesariá und Chora und nascht ungeniert von allem, was ihm vor den Bug gespült wird: Töchter von Landeignern, Fischern, Hufnern und Kapitänen. Namen und Geld sind bedeutungslos für ihn, angefangen bei ihm selbst. »Überheblichkeiten« nennt er es in den Unterhaltungen mit seinen Freunden: Diamantis, der Friseur, und Triantafyllos, Sohn der Witwe Erinió, die sämtliche Marmortreppen der Insel gescheuert hat, um ihren Augapfel großzuziehen.

    Linardo kann die seidenen Sommeranzüge und die Tweed-Umhänge seines Vaters nicht ausstehen. Er mag weder das Monokel an seinem linken Auge noch die tadellosen Gamaschen. Vor allem anderen aber hasst er jene Miene der strengen Freundlichkeit, die Kyr Andreas annimmt, wenn er von der Höhe seines Einspänners herab die Leute grüßt.

    Andreas Daponte, wohl situiert mit ruhmreichem Namen, tritt jeden Morgen nach dem Aufwachen auf die östliche Veranda und liebkost mit dem Blick die Haine der Zitrusfrüchte, soweit das Auge reicht – mit dem Stolz des Mannes, der es gewohnt ist, die Welt von oben herab zu betrachten, und der in die Kissen seines wohlwollenden Schicksals gebettet ist. Er fühlt sich glücklich, wenn er zu den Schweine- und Kuhställen hinüberspaziert, und er empfindet es als ganz natürlich, dass im Kafenion alle aufstehen, wenn er es betritt, auch wenn er nur einen einzigen Stuhl zum Sitzen braucht. Die größte Bestätigung seiner Vorzugsstellung jedoch stellt die Ausfahrt in den Ort Chora mit seinem kleinen Wagen dar. Dort liest er im Klub als Erster die Zeitung, noch unzerknittert, und nicht am Lesepult, sondern sitzend, und das Nargileh raucht er mit seinem eigenen Mundstück aus Elfenbein, das Konstantis im Schanktisch verschlossen für ihn verwahrt.  

    Linardo steigt nie auf einen Wagen. Wo immer er hin will, geht er zu Fuß oder nimmt sein Pferd. Er kümmert sich nicht um das Gerede hinter seinem Rücken und stellt sich den Bitten seiner Mutter gegenüber taub, sich »geziemend« zu benehmen.

    ›Wenn geziemend bedeutet, unter einem Knoten am Hals zu ersticken und eine Frau am Arm zu führen, die kalt wie ein Grabstein ist wie meine Mutter, dann scheiße ich doch auf das Geziemende‹, denkt er immer wieder und schüttelt seinen blonden Haarschopf. Ihm sind angeklebte, ordentlich gekämmte Haare mit gerade gezogenen Scheiteln ein Graus. 

    Daponte wiederum macht die Flatterhaftigkeit seines Sohnes zu schaffen. Als er vor zwei Jahren Franka, die Tochter des Kutschers Nikolas, geschwängert hatte, hätte Kyr Andreas ihn beinahe umgebracht. Das arme Mädchen! Sie bekam es mit der Angst, suchte Hilfe bei Heilkundigen und trug bleibende Schäden davon. Daponte blutete das Herz, als er den Mann, der so viele Jahre für ihn gearbeitet hatte, wie ein Kind weinen sah. Um es einigermaßen wieder gutzumachen, kaufte er ein Haus auf Nikolas’ Namen, damit er seinem Kind, das schwach wie ein Vogel geworden war, etwas hinterlassen konnte, wenn er die Augen schloss. Dann nahm er sich seinen Sohn vor, um ihn wegen seines Lebenswandels zur Rechenschaft zu ziehen. Der Taugenichts erklärte, das Mädchen heiraten zu wollen, doch Kyr Andreas war nicht bereit, das alles hinzunehmen. Er verfrachtete ihn kurzerhand auf ein Schiff und schickte ihn als Präsent zu seinem Cousin Jerasimos nach Braila in Rumänien, um die Sache zu verschleiern und in Vergessenheit geraten zu lassen. In der gleichzeitigen Hoffnung, dass der Handel vielleicht Linardos Interesse wecken könnte. Seiner Frau jedoch war zum Sterben zumute, ihren geliebten Sohn so weit fort zu wissen. Sie verließ das eheliche Bett, schlief in Linardos Zimmer und sprach den ganzen Tag kein Wort. Kyr Andreas gab schließlich nach. Nach sechs Monaten beorderte er seinen Sohn zurück nach Hause.

    Die Monate seines Aufenthalts in Rumänien waren ihm gut bekommen. Seine Arme hatten an Kraft zugenommen, sein Schnurrbart an Dichte, er war zum Mann geworden. Er begann sich für das Landgut zu interessieren. Und schlug seinem Vater vor, sämtliche Maulbeerbäume zu roden – sie gaben ohnehin kein Seidengespinst mehr her nach der Wurmplage, die die Region befallen hatte – und den Hang mit Weinstöcken zu bepflanzen. Er beriet ihn auch mit klugen Ideen für die Systematisierung des Zitronenexports. Daponte freute sich über die offenkundige Veränderung seines Sohns. Er bepflanzte den Hügel mit Weinstöcken und hatte seine Freude an den ersten Trauben – wächsern und saftig lagen sie in seiner Hand. Er war jedoch nicht mit der Handhabung der erforderlichen Geschäfte vertraut, er konnte die fertigen Produkte nur aufbewahren. Und so gelang es ihm nicht, nennenswerte Bedeutung auf dem Weinmarkt zu erlangen – Anagnostou hatte hier die Schlüsselstellung inne –, er verlor eine Menge Geld und schwor, sich nicht noch einmal auf so etwas einzulassen. Sein Verhalten machte seinem Sohn deutlich, dass er ihn für den Misserfolg verantwortlich hielt, und er reagierte mit Trotz. Tagelang sprachen sie nicht miteinander.

    Vergrätzt und finster folgte Linardo seinen Freunden zur Kirchweih des 15. August. Langsam, mit kleinen Schlucken trank er seinen Brusco und schaute geistesabwesend zu den Köpfen hinüber, die zu den Noten der Laute und des Santuri auf- und ab hüpften. Und da sah er sie. Zwei schwarze Zöpfe, glänzend wie Wasserschlangen auf ihrem Rücken, und ein bronzefarbenes Gesicht, liebreizend wie frischer Most und mit zwei Grübchen in den Wangen voller Anmut. Auch Anesa sah ihn, sie wurde rot und wandte den Kopf ab, wie sie es immer tat, wenn sie ihn sah. 

    ›Oh mein Gott‹, dachte sie. ›Das ist der Heilige Georg! Blau wie das Meer und blond wie die Ähren.‹ Scheinbar gleichgültig drehte sie sich wieder in seine Richtung. Seine Augen waren noch immer auf sie fixiert. Ein Schwindelgefühl erfasste sie. ›Das glaube ich nicht! Dieser Gott sollte mich anschauen?‹ Sie entfernte sich von der Menschenmenge und setzte sich unter einen Maulbeerbaum, weit weg vom Tanzplatz. In ihrer Brust signalisierten die heftigen und holprigen Herzschläge ihre helle Aufregung.

    Plötzlich schien irgendetwas sanft ihren Arm zu berühren. »Ein Blatt vom Baum«, sagte sie zu sich selbst und wollte es abstreifen. Es war seine Hand. Sie wandte sich um, sah ihn an und wurde wieder von Schwindel erfasst. Sie senkte die Augen zu Boden. ›Aus der Nähe ist er noch schöner‹, dachte sie und riskierte wieder einen verstohlenen Blick. Sein Blick – etwas blau, etwas grau, scharf wie eine Nadel, leuchtend wie ein Lichtstrahl drang in den ihren ein, er löschte ihn aus. Sie schloss die Augen. ›Lieber Gott, ich träume!‹ Er nahm ihre Hände in die seinen. Sie waren warm, und die Fingerspitzen schienen leicht zu zittern. Sie entwand sich ihm. Sie ging und suchte hinter der großen Platane Zuflucht. Tränen erstickten sie. Seine Schritte wurden hörbar, sie näherten sich, waren da. Ein Duft von frisch gewaschener Kleidung und trockenen Blättern drang ihr in die Nase. 

    »Wie heißt du?«

    Zum ersten Mal hörte sie seine Stimme. ›So redete der Heilige Georg, und die Menschen haben ihn heiliggesprochen und feiern seinen Namen.‹ Sie machte wieder eine Bewegung, um fortzugehen, doch ihre Füße gehorchten nicht, sie hielten sie fest.

    »Anesa.«

    »Anesa – und weiter?«

    »Logothetis.«

    »Der von Samos?«

    Sie nickte »ja« mit gesenktem Kopf.

    »Ich wusste nicht, dass Logothetis so reich ist!«

    Ihr Blick zeugte von Unverständnis.

    »Mit einem solchen Schatz im Haus!«, sagte er und zeigte auf sie.

    »...«

    »Ich bin Linardo Daponte.«

    »Das weiß ich, gnädiger Herr.«

    »Gnädiger Herr!« Gelächter verschlug ihm die Sprache, es brach aus seinem Mund hervor und ließ seine weißen Zähne sehen. Anesa fühlte sich noch mehr eingeschüchtert.

    »Du sollst Linardo zu mir sagen. Jetzt, wo wir uns kennengelernt haben, sind wir doch Freunde.«

    »...«

    »Willst du etwa nicht?«

    Ob sie will? Er fragt, ob sie will! Aber geht denn sowas? Er und sie Freunde! Und was für eine Art Freunde denn? Sie öffnete den Mund, »von wo und bis wo«, wollte sie ihn fragen, es waren doch zwei verschiedene Welten. Sein Herrenhaus gleich einer Burg auf dem Landgut, mit Schießscharten aus behauenem Stein und dem Zeichen des vornehmen Namens über dem Portal, inmitten von Landbesitz, so weit das Auge reicht – und dagegen ihr Heim: Das Ziegelhaus hinter den Schlächtereien, zwei Kammern für fünf Personen, Tonteller auf dem Küchentisch, daneben die Schneiderwerkstatt – Garnrollen, Nadeln und billige Stoffe. 

    Nichts von all dem war zu hören. Ihre Zunge klebte am Gaumen, sie löste sich keinen Millimeter, um die Worte durch die Zähne zu stoßen. Sie ließ sich gegen den Baumstamm sinken, als ob ihr schwindelte. Linardo beugte sich über sie, packte sie bei den Armen – ihr Gesicht fiel auf seine Brust, sie atmete seinen Geruch ein, und der Schwindel ließ nach. Im hohlen Stamm der Platane pochte der Schlag ihres Herzens wie aus einem Horn. ›Ob er es wohl auch hört?‹, ängstigte sie sich und hob den Kopf, um es an seinen Augen zu prüfen. Als ob er ihr eine Falle gestellt und diese Bewegung erwartet hätte, neigte er sich noch näher zu ihr und gab ihr einen Kuss auf den Mund. Anesa war starr. Er zog sie zu sich heran und küsste sie, küsste sie nochmals, und sie blieb wie versteinert in seinen Armen. Er drückte sie leidenschaftlich und murmelte Worte der Liebe.

    »Würdest du mich heiraten, wenn ich dich darum bäte?«

    Sie glaubte sich verhört zu haben. Er merkte das und fragte sie noch einmal. Anesa verlor die Fassung, sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Ganz sicher machte er Witze, er war betrunken oder sehr leichtfertig. Sie versuchte, sich seinen Armen zu entwinden. Er drückte sie mit aller Kraft an sich, und ihr Körper kribbelte vor Schmerz. Ihre Arme hingen wie welke Blumenstiele herab.

    »Ich will dich, Anesa. Mein ganzes Leben lang habe ich dich gesucht, weißt du das?«

    ›Er ist bestimmt betrunken, mein Gott, was soll ich nur tun?‹

    »Sag mir, wirst du mich heiraten?«

    Und sie dachte: ›Worte des Augenblicks – nichts als Luftblasen und Träumereien.‹

    »Ich möchte dich mein Leben lang an meiner Seite haben.«

    ›Warum, lieber Gott, hat er ausgerechnet mich ausgesucht, um seinen Spaß zu treiben? Ist es etwa möglich, dass er mich an seiner Seite will, als feine Dame, in seinem Haus, von gleichem Rang wie Violanto Daponte?!‹

    Linardos Küsse wurden heftiger, verlangender, sie wehrte ihn ab, doch ihre Hände gaben nach. Ach! wie schön waren doch seine Augen, und sein Kopf strahlte wie eine Sonne über ihrer Brust.  

    »Du mein frischer Quell«, murmelte Linardo zwischen ihren Brüsten, und sie dachte, dass sie fort musste: ›Der Vater wird böse werden und Katina wird nach mir suchen.‹ Sie war voller Unruhe und konnte zwischen seinem Geflüster keinen vernünftigen Gedanken fassen.

    »Willst du mich denn auch ein bisschen?«, sagte er mit Tränen in den Augen.

    ›Das kann nicht sein, dass mir das passiert, ich träume!‹

    »Sag mir, ob du mich auch willst.«

    Ob sie ihn will! Sie, die ihn schon so lange immer wieder von weitem sieht und dabei ein flaues Gefühl im Magen spürt wie nach zwei Tagen Hungern!

    Anesa, schon seit langem in Linardo verliebt, spürte den Knüppel der Vernunft zuschlagen, wann immer die Sehnsucht aus ihrem Herzen strömen und sich zu Gedanken formen wollte. Doch nach dieser ersten, so stürmischen und magischen Begegnung brach ihre Abwehr ein – und sie überließ sich der Reise der Verzückung.

    Linardo teilte seinen Entschluss unverzüglich seinem Vater mit.

    »Ich liebe sie, sage ich dir!«

    »Wie plötzlich ist das denn gekommen, Mann?«

    »Was spielt denn die Zeit für eine Rolle? Ich will mit ihr leben.«

    »Es wird vorübergehen, wie auch mit all den andern.«

    »Sie ist nicht wie die andern, Vater.«

    »Linardo, komm zur Vernunft! Das sind keine seriösen Angelegenheiten!«

    »Ich kann sie auch ohne deinen Segen zur Frau nehmen. Aber das ist, wie du selbst sagst, noch viel schlimmer. Im Übrigen – was verlange ich denn schon? Heiraten will ich und nicht irgendein Verbrechen begehen! Mir steht ja wohl auch eine Frau zu.«

    »Menschenskind, dir stehen viele zu. Aber wie dem auch sei ...«

    In Dapontes Kopf arbeitet es fieberhaft. Die Sache erscheint ihm ernst. Und weil schwierige Probleme kluge Lösungen brauchen:

    »Hast du das schon deiner Mutter gesagt?«

    »Ich wollte, dass du es zuerst erfährst.«

    »Sag es auch ihr.«

    Im Anschluss an eine unsägliche Unterhaltung mit ihrem Sohn legte sich Kyria Violanto mit Fieber ins Bett. Der Doktor empfahl Ruhe und keine Aufregung. »Ihre Nerven sind schwer angeschlagen«, erklärte er und schüttelte den Kopf.

    Sie treffen sich heimlich. Linardos Briefchen werden von Anesas Freundin Floresió zu ihr gebracht, Violanto Dapontes Schneiderin. Der Strand Paraporti, der Friedhof, die Stadtmauern – Abenddämmerungen, Mittagstunden und Morgendämmerungen werden Zeugen ihres geheimen Liebesgeplauders. 

    »Ein bisschen Geduld, bis meine Mutter wieder gesund ist«, flüstert er ihr zu. ›Zum Teufel‹, denkt er dabei, ›sie wird sich schon damit abfinden.‹

    Anesa senkt den Kopf, sie fügt sich in alles, was geschieht. Sie weiß, dass diese Liebe niemals den Segen seiner Eltern bekommen wird. Wann immer sie das zu denken wagt, sieht sie das saphirblaue Diadem der Kyria Violanto neben den Pluderhosen ihres Vaters Apostolis vor sich, sauber und gebügelt, ja – doch was hilft das? Und ihr kommen die Tränen.

    »Anesa, meine Liebste – ich nehme dich zur Frau, egal was passiert«, versichert er ihr, als läse er ihre Gedanken.

    Er hält sie fest an sich gedrückt. Sie spürt seine Zähne an ihrem Ohr, seine Hände auf ihren Brüsten. Ein sonderbares Zittern durchläuft sie. Er reibt sich an ihr wie ein Kater, und Anesas Fußsohlen brennen, als habe der Boden unter ihr Feuer gefangen. Was für ein Schrecken sitzt ihr im Hals? Wie flattert es in ihrer Brust ... Was macht er nur mit ihr? Sie stößt ihn von sich, er aber ist stark, und er ist auch so schön – lieber Gott, wie schön er ist! Anesa wird schwach, doch sie besinnt sich im selben Augenblick. Sie ist doch schließlich keine von der Straße! Sie knöpft ihren Kragen wieder zu, sieht ihn wütend an und entzieht sich ihm.

    Mit jedem Tag, der vorübergeht, wird Linardos Entschluss fester. Er sagt nichts. Er wartet auf die Genesung seiner Mutter, um ihren heißersehnten Segen zu bekommen.

    Kyria Violanto, nun fieberfrei, aber noch erschöpft, denkt, dass sich vermutlich inzwischen alles erledigt hat, zumal ihr Sohn dieses Bettelmädchen nicht mehr erwähnt. Doch Linardo träumt Tag und Nacht von Anesa. Er zerbricht sich den Kopf darüber, wo er einen geheimen Platz finden könnte, abgeschirmt, an dem sie sich sorgloser treffen können, um nicht bei jedem Knacken eines Asts, jedem Kollern eines Steins und jedem Schnauben eines Tiers zusammenzufahren. Bis er eines Morgens, als er aus dem Haus tritt, den Aufseher des Landguts die Pforte des Heiligen Andreas streichen sieht. Ja – wieso hat er nicht schon längst daran gedacht? Die kleine Kapelle ist die am besten versteckte Ecke in den Nachmittagsstunden, wenn alle ihren Mittagschlaf halten.

    Am andern Tag würde ein großes Tuch den Jesus Christus hinter dem Altar bedecken, damit er das sträfliche Opfer nicht sähe, das in seinem Heiligtum dem Gott der Liebe dargebracht würde.  

    2

    Es knarrten die rostigen Scharniere, das Portal öffnete sich weit, die Leute strömten in den Garten. Er war bald von Süßigkeiten überschwemmt. Walnussgebäck, Nussplätzchen, kandierte Mandeln. Der Raki floss in Strömen, er brannte in den Kehlen, sein Aroma verbreitete sich über den Blumenbeeten, aus den Gläsern quoll der Duft von Anis. Es schäumte die Mandelmilch, es stießen die langstieligen Kristallgläser gegeneinander, ihr Klingen übertönte das Stimmengewirr ringsum. Kyr Linardo Daponte streckten sich feingliedrige Hände entgegen, mit gepflegten Fingernägeln, aber auch solche, von denen eben erst die Erde abgewaschen worden war. Blicke aus Augen, die ihn aus der Nähe sahen, wurden schwach, Arme, die mit ihm in Berührung kamen, erschauerten. Linardo trank seinen Brusco ungekühlt, nicht eiskalt, wie sein Vater ihn liebte, und er nahm mit Stolz die Wünsche entgegen: »Lang lebe deine Tochter!«

    Von dem Tag an, als Anesas Bauch zu schwellen begann, träumte er von einem Mädchen, denn er liebt die Frauen. Ihn berauscht ihr Duft, ihre Gegenwart umhüllt ihn mit Wohlbehagen, die Brise ihrer wehenden Kleider erfrischt ihn. Neun Monate lang träumte Linardo von einer Tochter, mit gelöstem Haar und meerblauem Blick. Er sah sie im Garten umherrennen, sich im Erdreich wälzen, sich schmutzig machen, sprudelnd lachen, und dann, mit lauter wippenden Locken über der Stirn einen reifen Pfirsich essen, der Saft würde über ihr Kinn laufen, er würde es zärtlich mit einem weißen, sauberen Taschentuch abwischen und sie auf die Wange küssen, und sie würde ihn liebevoll umarmen und »Papa« sagen. 

    Die Stunde war gekommen, die erträumte Tochter wurde geboren: Ein roter, kahlköpfiger Säugling mit geschwollenen, geschlossenen Augen, mit fest zusammengepressten kleinen Fäusten voll der Geheimnisse. Kyr Andreas nahm sie in seine Arme, streichelte sie und beglückwünschte Linardo mit »und danach auch einen Sohn!«. Der erwiderte nichts, denn er will keinen Sohn. Er fühlte und fühlt sich glücklich über die Ankunft seiner Tochter. Und was er noch mehr feiert, ist die Art und Weise, wie sie zur Welt gekommen ist, auch wenn seine Frau darüber untröstlich ist. Vielleicht ist ihm deshalb auch festlicher zumute. 

    Die Sonne steht kurz vor dem Untergang, die meisten Leute machen sich allmählich auf den Heimweg. Es bleiben nur die Freunde für das Feiern am Abend.

    Durch die Ritzen der Jalousien in ihrem Zimmer verfolgt Anesa, die ihre vierzig Tage nach der Geburt noch nicht vollendet hat, das Geschehen draußen. Noch immer würgt sie die Scham darüber, dass es ihr, einer Dame, passiert war, wie ein Fischweib zu gebären. Sollen ihre hirnlosen Schwestern doch in der Hölle schmoren.

    »Komm, Anesa, lass uns den 1. Mai feiern gehen, damit du auch ein bisschen an die Luft kommst.«

    »Mit dem Bauch?«

    »Was ist denn mit deinem Bauch?«

    »Mensch, wenn mir die Wehen draußen in den Gärten kommen und ich nicht weiß, was ich machen soll? Und zum Gespött der Leute werde!«

    »Ach was, keine Angst, dein Gang sieht noch nicht nach Gebären aus.«

    Die Wehen überraschten sie nicht in den Gärten. Sie überraschten sie im Sand, als sie sich gerade zu einem Imbiss unter die Tamarisken gesetzt hatten. 

    Alle drei halfen ihr beim Gebären. Louisa hielt sie fest, Athiná wischte ihr den Schweiß von der Stirn, und Katina, verheiratet und erfahren, nahm ihr das Kind ab und wusch es im Meer – »Mein armes Mäuschen, im kalten und salzigen Wasser« –, sie schnitt die Nabelschnur mit dem Brotmesser durch und wickelte das Baby in ein Handtuch. Und als ob das alles noch nicht gereicht hätte, zitterte Anesa davor, dass ihr Mann sie womöglich vom Dorfplatz aus sehen könnte, wo er saß, und am Ende noch herbeieilen und ihr beistehen würde – »Würde er etwa lange überlegen, dieser Gedankenlose?« – und damit das Gerede auf der Insel lostreten, dass Linardo Daponte am Paraporti-Strand ohne Hilfe seine Frau entbunden hat, als ob sie keine Häuser und Betten mit Daunenkissen und keine gut bezahlten Hebammen hätten.

    Auf dem Dorfplatz jedoch waren die Männer in heiße Diskussionen vertieft, so sehr, dass keiner von ihnen zu dem Zeitpunkt auch nur einen Blick zum Strand hinüber geworfen hätte.

    »Was meint ihr – was für ein Kaliber ist wohl der neue Ministerpräsident?«, fragte Triantafyllos Depastas, und die Unterhaltung nahm sogleich Fahrt auf.

    Nikolas Kouirinis fing sofort Feuer:

    »Die Trikoupi’schen haben sich mal wieder dünn gemacht wie die Gespenster und dachten sich, den Theotokis einzusetzen, um ihnen aus der Klemme zu helfen. Ein toller Hecht!«

    »Natürlich ist er kein Trikoupis, aber er hat es doch geschafft, an die Macht zu kommen«, warf Anargyros Drosinos ein.

    »Ach, hör doch auf, Mann – Trikoupis und immer wieder Trikoupis! Seit er tot ist, habt ihr ihn ja zum Gott gemacht«, rief jemand von den hinteren Tischen herüber.

    »Mit Verlaub, nicht erst seit er tot ist. Ich habe immer schon mein Glas auf Trikoupis’ Namen erhoben«, widersprach Drosinos. »Letztlich ist nur er allein in die Tiefe gesprungen und hat Griechenland vom Grund des Brunnens herauf geholt. Stimmt’s etwa nicht?«

    »Jedenfalls heißt es, dass dieser Theotokis gut sein soll«, kehrte Depastas zum Thema zurück.

    Zwei, drei Köpfe nickten zustimmend, und Kouirinis wurde wütend.

    »Was für ein Vertrauen soll man denn zu so einem von den Ionischen Inseln da oben haben, Mann? Für mich sind das keine Griechen. Das sind Fremde!«

    Linardos bedachte ihn mit einem schrägen Blick. ›Und wer ist denn der Kouirinis, der meint, nach seinem Gutdünken die griechische Nationalität zuteilen zu können?‹ Er sagte nichts. Nikolas war ein Verwandter, er wollte nicht vor den andern mit ihm in Streit geraten. 

    »Gerade deshalb, er ist genau das, was wir brauchen. Man sagt auch, dass er deinen König liebt, mein lieber Nikolas«, neckte Michalis Goudelis ihn. 

    »Er ist nicht m e i n König, Kyr Goudelis, er ist u n s e r König«, sagte der andere mit finsterem Gesicht. »Und was hätte er denn auch tun sollen? Dem Willen des Königs und der Prinzen Paroli bieten?« 

    »Jawohl, wieso nicht? Werden sie ihm vielleicht den Kopf abreißen?«, lachte Antonis Kapakis.

    »Ja, wirklich, Mann, Antonis«, erhob Kouirinis seine Stimme. »Dass du nur ja nicht irgendein gutes Wort über das Königshaus hörst. Ich möchte mal wissen: Sind diese Könige denn derart schlimm?«

    »Nur schlimm? Zecken und Blutegel sind das, mein lieber Nikolas, und es gereicht uns zur Ehre, dass wir sie tolerieren.«

    »Das sind keine wohlbedachten Worte, Antonis, und sei auf der Hut! Du bringst dich noch um Kopf und Kragen eines Tages und wirst an mich denken. Du weißt doch, wie es voriges Jahr um diese Zeit den Hitzköpfen ergangen ist, die dem König Georg ans Leder wollten? Mehr sage ich nicht, sei auf der Hut.«

    Der Speichel spritzte aus Kouirinis Mund, und seine Glatze wurde rot wie ein Osterei.

    »Wovor soll ich denn auf der Hut sein? Leben wir etwa nicht in einer Demokratie? Wollen sie nicht alle Naselang meine Stimme? Warum also sollte ich meine Meinung nicht sagen können?«

    »Von dir haben die Königstreuen ja schon viele Stimmen bekommen!«, spottete Nikolas.

    »Warum sollten sie sie bekommen? Füttern oder tränken sie mich etwa?«

    Die Übrigen waren verstummt und folgten dem Disput der beiden Kombattanten, die sich ansahen wie zwei Kampfhähne. Die meisten waren mit Kouirinis einer Meinung, zwei oder drei dachten eher wie Kapakis. Doch sie ließen sich nichts anmerken, um sich nicht plötzlich den Ruf eines Königsgegners und damit Scherereien einzuhandeln. 

    Irgendwann erhob sich Linardo abrupt von seinem Stuhl, klopfte seine Hose ab, um die Schalen der Kürbiskerne abzuschütteln, die er die ganze Zeit über geknabbert hatte, und ging mit weitausholenden Schritten davon, ohne sich von jemandem zu verabschieden.

    »Hat ihn eine Wespe gestochen?«, fragte Kouirinis sich, dem trotz all seiner Aufregung Linardos Aufbruch nicht entgangen war.

    »Na, der hat doch einen Knall hoch drei!«, murmelte Drosinos, der neben ihm saß.

    Für den Augenblick waren Theotokis, König und Prinzen vergessen, und die Unterhaltung wandte sich den Dapontes zu. 

    Während dieser ganzen Zeit war Anesa bemüht, ihre Ruhe zu bewahren, eingeengt von der zwangsläufig provisorischen, aber dennoch effektiven Versorgung ihrer Schwestern. Sie nahm nicht einmal richtig die Ankunft des Kindes wahr.

    Wie sie nach Hause gekommen und von dem Wagen herabgestiegen war, der sie dorthin gebracht hatte, wie sie ins Bett gelangt war – nichts von all dem hatte sie mitbekommen. Ihre Schwestern nahmen das Kind, wuschen es in Süßwasser, wickelten es, flößten ihm Anis mit Zucker ein und brachten es ihr dann. Als sie es neben sie legten, beruhigte sich ihr Herz ein wenig. Wenn sie jedoch an das Gelächter ihres Mannes dachte und noch an seine diebische Freude, wenn er all die Einzelheiten erführe, verdüsterte sich ihr Blick.

    Die Balkontür steht offen, und die Geigen gehen ihr auf die Nerven. Sie steht auf, schließt die Tür und zieht die Gardinen vor. Ein Tropfen der Bitterkeit rinnt aus ihrem Auge, kullert über die Wange und lässt sich im Grübchen ihres Halses nieder, feucht und warm wie eine Träne. Die Kleine beginnt zu weinen. Es weinen auch die Geigen im Garten, die Stimmen und das Lachen pochen gegen die geschlossene Glastür und steigern ihre Gereiztheit.

    Linardo hätte doch warten können, bis sie ihre vierzig Tage vollendet hätte, um erst dann die Feier zu veranstalten. Doch er hatte es nicht abwarten können, alle Welt schon jetzt zusammenzutrommeln, wo sie noch niemanden sehen und niemand sie sehen soll. Jetzt, wo sie nicht das grüne Taftkleid anziehen kann, das noch in der Taille zwickt, wo sie nicht auf die Veranda treten und die Leute begrüßen kann, wo sie nicht ein paar Schlangen, die es insgeheim nach ihrem Mann gelüstet, den Wind aus den Segeln nehmen und sie daran erinnern kann, dass er mit ihr sein Bett teilt, und um stolz ihre Smaragdohrringe zu zeigen, am Arm von Andreas Daponte, sie, jetzt nur noch sie allein, an der Stelle der Kyria Violanto. 

    All das hat Linardo also zunichte gemacht. Er feiert ohne sie, als hätte Anesa kein Recht, die Glückwünsche für das Kind entgegenzunehmen, das sie zur Welt gebracht hat, als hätte er es allein gefunden, irgendwo beim Buddeln in der Erde. Ihr kommen die Tränen. Wann immer sie an den Moment der Geburt zurückdenkt, reist ihre Erinnerung zu schweren Zeiten zurück. Zwei Kammern aus Ziegelwänden, eine winzige Küche, abgezählte Teller – sechs alles in allem –, betrunkene Reden, Flüche über eine Irene, die durchbrannte und fünf Leben zerstörte, von Nadeln zerstochene Finger und ein am Hals zweifach geflicktes Kleid, mit einem Spitzenkragen bedeckt, um die Stelle zu vertuschen.

    Zu diesem Kleid hätte die Geburt neben der Meereswelle gepasst, zu dieser Frau, das Neugeborene in ein Brottuch zu wickeln. Auf Trägerinnen von Organza- und Seidenkleidern aber warten Betttücher aus Leinen, Betten aus Walnussholz mit samtenen Himmeln und drei Hebammen um sie herum. Alles hatte Anesa bereitgehalten, während sie Tag um Tag auf den kleinen Prinzen wartete. Tatsächlich hatte sie sich nach einem Jungen gesehnt: Das erste Weinen – geschenkt die Schmerzen, die sie mit Angst erwartet hatte –, die Hebamme, die in den Zimmern hin- und her geht und den andern Befehle erteilt, das kochende Wasser, dampfend in den Becken, flauschige, duftende Tücher für ihre schweißnasse Stirn, versprühtes Parfüm im Zimmer, das gewaschene Kind, in Seide und Spitzen gewickelt und friedlich neben ihr schlafend – und sie voller Stolz, einen neuen Daponte zur Welt gebracht zu haben.  

    Und dann: »Hab keine Sorge«, kommen ihr da die Schwestern an, braten sollen sie, und verderben alles! Mensch, sie hat ganz recht, dass sie sie nicht im Haus haben will und ihnen ständig aus dem Weg geht – wenn sie ihren Besuch anmelden, schiebt sie immer wieder Unpässlichkeit vor. Wenn sie kommen, bricht die Hölle los von ihrem Geschrei. Was Athiná betrifft, die ist ja wie ein Kleinkind, Herrgottnochmal: Ein gestandenes Mädchen, fünfzehn mittlerweile, und rennt in den Garten und lacht wie eine Idiotin, als hätte sie noch nie in ihrem Leben eine Blume gesehen! Wo sollte das arme Ding allerdings auch sowas zu sehen bekommen? Auf dem Pflaster der hinteren Straße? Zwei Basilikumpflänzchen stehen da gerade mal auf dem Fensterbrett und die auch noch mit schütteren Wurzeln, schwindsüchtig. Sie kommt her und pflückt ganz Arme voll Rosen, in ihrer Hast sticht sie sich dabei und rennt zu Linardo, dass er ihr das Blut abwischt. Anesa schwillt der Kamm bei dem Getue ihrer Schwestern, und am liebsten würde sie sie mit Tritten hinauswerfen. Aber sie mögen nun mal ihren Mann so gern, vor allem Athiná, die »Kleine«, wie er sie nennt, die sich noch fast wie ein Kind gibt mit ihren Söckchen und ihren blonden Zöpfen – die einzige Blonde in der Familie, sie sieht ihrer Mutter ähnlich. 

    Das Gekreisch und Gekicher macht Anesa ganz krank, sie hält diesen Trubel nicht aus, sie will Ruhe. Es kommt ja auch regelmäßig die Orsa Anagnostou zum Tee, die die Schwestern mit ihrer herablassenden Miene von oben bis unten mustert, und dann ist Anesas Laune dahin. Sie will weder Louisa mit ihrem kindischen Geplapper um sich herum haben noch die neunmalkluge Katina, die immer alles weiß: angefangen bei den nächsten Regenfällen bis hin zu der Medizin, die gegen Rückenschmerzen hilft, und die immer auf der Umrandung der Veranda sitzt – als hätten sich sämtliche Stühle in Luft aufgelöst – mit weit gespreizten Beinen! Unzählige Male hat sie ihnen schon gesagt: »Wenn ihr hierher kommt, dann möchte ich, dass ihr euch wie Damen benehmt!« Aber sie scheinen taub zu sein! Es ist ja auch so, dass Linardo sie noch ermuntert. Er verhätschelt sie und schenkt ihnen süße Lokum und Minzbonbons. Anesa flüchtet sich in ihr Zimmer, um nicht zu platzen vor Ärger über all diese Albernheiten. Wenn sie gehen, schreien sie vom Hof her: »Tschüss, Anesa! Wir kommen nächste Woche wieder.« –»Dass ihr es bloß nicht vergesst«, murmelt sie mit saurem Gesicht, und am Abend macht sie ihrem Mann eine Szene.

    »Aber die Mädchen haben doch gar nichts Schlimmes getan, Liebste. Und schließlich sind es deine Schwestern. Die armen Dinger wissen ja gar nicht, was sie zuerst tun sollen, um dir eine Freude zu machen.«

    »Sie sind ungehobelt, ungezogen und blamieren mich die ganze Zeit!«

    Und sie ist so wütend, dass sie in dem Moment nicht Linardos Blick bemerkt, finster, trübe und voll der Enttäuschung zu Boden gesenkt.

    Die Kleine hat Hunger. Man hört es an ihrem Schreien, das zunehmend drängender wird. Anesa nimmt sie auf den Arm und öffnet ihr Mieder. Das Kind greift nach der Brust und saugt gierig. Es erinnert sie an Linardo, so, wie es sich an ihren Leib drückt. Dasselbe Gefühl an der Brustwarze – ein süßer und scharfer Schmerz –, dasselbe Erschauern.

    Die Kleine schläft an ihrer Brust hängend ein. Sie versucht sie zu wecken, damit sie zu Ende trinkt, denn sonst wird sie schon bald wieder hungrig sein. Sie zupft sie an der Nase, an den Ohren – doch das Kind reist unbekümmert durch seine Babyträume. Wie kann es bloß schlafen bei diesem Lärm, der vom Garten hereindringt? Anesas Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Wollen die Geigen denn immer noch nicht Feierabend machen? Doch sie weiß, warum Linardo das alles tut. Es macht ihm Spaß, sie zu ärgern, sie regelrecht zum Kochen zu bringen, bis sie nicht mehr weiß, was sie sagt, um ihr dann schließlich den schon bekannten Satz an den Kopf zu werfen: »Ich kenne dich nicht mehr wieder.« Es macht ihm Spaß, sie zu verletzen, er will sie endlich einmal weinen sehen, doch das wird ihm nicht gelingen. Sie hat noch nie vor ihm geweint, mag sie auch für sich allein in ihrem Zimmer vor Kummer schluchzen. Sie bewahrt ihre Haltung, so wie es auch die Kyria Violanto getan hätte. In solchen Stunden hasst sie ihn, sie möchte ihn am liebsten schlagen. Denn er hat sie betrogen, bestrickt, er hat ihr ein wolkenloses Leben versprochen, ohne es ihr bieten zu können. Es gibt aber auch Stunden, in denen sie unendliche Zärtlichkeit für ihren Mann empfindet. Sie sehnt sich danach, das Lachen in seinen Augen wiederzusehen, sie sehnt sich nach seiner früheren Unbeschwertheit zurück. Ja, so unbekümmert war er am 1. Mai gewesen.

    »Nun geh doch, wo deine Schwestern dich so darum bitten. Zeig ihnen auch mal, dass du sie lieb hast.«

    Wer sagt denn, dass sie sie nicht lieb hat? Es ist nur so, dass sie sie anders will, aber wie soll sie ihm das verständlich machen? Mehr um ihm einen Gefallen zu tun, hat sie sich dann überreden lassen, mit zu den Gärten zu gehen. Linardo selbst fuhr sie mit dem Wagen hinaus, und sie vereinbarten, dass er sie am Nachmittag wieder abholen würde. Doch dazwischen kam dann das Kind, so, wie es eben kam, und so war sie vor der Zeit nach Hause zurückgekehrt. 

    Die Kleine ist endlich wieder aufgewacht und trinkt heißhungrig. Zwei Milchrinnsale sickern aus ihrem Mund, nässen das Kinn und verlieren sich am zarten Hals. Anesa wischt sie sauber, richtet sie auf und lehnt sie gegen ihre Schulter, damit sie aufstößt. 

    Sie fühlt sich müde. Im Garten scheinen die Geigen endlich verstummt zu sein, und auch das Stimmengewirr und das Gelächter lassen nach. Sie legt das Kind in die Wiege und setzt sich in den Sessel zurück. 

    Ihr Blick, auf das Fenster gerichtet, versinkt in der zunehmenden Dunkelheit. Aus dem Licht des Öllämpchens springt eine Gestalt mit einem spöttischen Lächeln, wie aus dem Nichts heraus, und nach ein, zwei Runden durchs Zimmer schlüpft sie durch eine Ritze des Bodens und verschwindet.

    3

    Während sie auf Marioga Grimani wartet, eine Cousine ersten Grades ihres Schwiegervaters, die die Taufpatin der Kleine wird, näht sie die Spitzen an den Saum. Ihr Schwiegervater hätte das zweite Taufkleid gern in Athen bestellt, doch sie bestand darauf, es selbst zu nähen.

    Die Taufpatin lässt auf sich warten, und Anesa ist voller Ungeduld. Ihre Hand zittert, sie sticht sich und rennt, um sich die Finger zu waschen, um den weißen Organza nicht zu beflecken. Heute wird sie ihr den Namen sagen. Eine Freundlichkeit von der guten Frau, sie könnte auch bis zum Tag der Taufe damit warten. Anesa befürchtet, dass Marioga sich mit ihrem Cousin auf den Namen der Großmutter des Kindes, Violanto, geeinigt hat, die nicht mehr lebt. Nicht etwa, dass sie den Namen dieser Patrizierin für

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