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Ninas Geschichte
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eBook255 Seiten3 Stunden

Ninas Geschichte

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Über dieses E-Book

Nina ist jung, erfolgreich und zynisch. Ans Leben hat sie keine gro­ßen Erwartungen mehr, und die Liebe ist für sie romantischer Quatsch. Bei ihrer sterbenden Mutter zu wachen, ist mehr lästige Pflicht als eine Chance, sich zu verabschieden und über das Leben nachzudenken - sie hat sich Arbeit mitgenommen. Doch in der Stille der Nacht kommt alles anders, als sie sich in einer Mischung aus Grübeleien und Erinnerungen an ihre eigene Geschichte verliert und dabei ihren Vorfahrinnen aus vier Generationen begegnet...Am Ende sitzt sie da, allein, neben ihrer sterbenden Mutter, und muss sich die schmerzhafte Frage stellen: Wer bin ich und was wird aus mir werden?Frida Aslaug Sigurdardottir (1940-2010) war eine isländische Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin. Für ihren Roman "Ninas Geschichte" wurde sie mit dem Isländischen Literaturpreis und dem Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet. Sigurdardottir war zudem ab 1994 Trägerin des Falkenordens, einem isländischen Ritterorden. Ihre Werke und ihre Arbeit spiegeln ihr gro­ßes Interesse an der isländischen Geschichte und ihre Liebe für die wilde Schönheit ihrer Heimat wieder.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum11. Apr. 2018
ISBN9788711586310
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    Buchvorschau

    Ninas Geschichte - Fríða Á. Sigurðardóttir

    Erste Nacht

    Auf dem Nachttisch stehen die Freesien. Die ich wegwerfen wollte. Aufdringlich und fremd füllt ihr Duft das Zimmer. Sie passen nicht hierher.

    »Freyslilien«, sagte Eirikur. »Die Lieblingsblumen deiner Mutter.« Und verbeugte sich ein wenig, schlug die Hacken zusammen. »Ich würde mich freuen, wenn du sie ihr bringen könntest.«

    Er tauchte wie ein Schatten zwischen den Bäumen auf, als ich mich auf den Weg machte, und rief mir hinterher, ein gealterter Pan in einer braunen Hausjacke mit wattiertem Revers, einen bunten Seidenschal sorgfältig um den Hals geschlungen, die Hose mit Bügelfalten; ein Lord beim Abendspaziergang durch sein Reich, Pan. Nur die Blumen störten das Bild. Die Lieblingsblumen meiner Mutter. Das hatte ich noch nie gehört. Wußte nicht einmal, daß sie Lieblingsblumen hatte. Ich wußte nicht einmal, daß sich die beiden kannten.

    »Ich habe deine Mutter gelegentlich besucht«, sagte Eirikur, als ahne er meinen Gedanken und meine Skepsis, ein Flackern in den Augenwinkeln, ein Lächeln.

    Ich versuchte, mir die beiden im Wohnzimmer bei uns daheim vorzustellen: Eirikur, den Aristokraten von der ersten Etage, der mit Königen und Dichtern verkehrte, wie er dort auf dem alten, dunkelgrünen Sofa sitzt, bei meiner Mutter, der Putzfrau; einer Bauersfrau von den Westfjorden, verwurzelt in den mageren Grasbuckeln des Daseins. Es ging einfach nicht. Beim besten Willen nicht.

    »Eine bemerkenswerte Frau, die Thordis, und begabt, ungewöhnlich begabt«, fuhr er fort, als spreche er mit sich selbst, und überraschte mich noch mehr, denn Eirikur ist niemand, der die Leute mit Lob überschüttet, ganz im Gegenteil; und schon gar nicht die einfachen Leute, denen er immer mißtraut hat. Die Kleine-Leute-Mentalität, wie er es nennt, war diesem alten Diplomaten von jeher ein Dorn im Auge.

    »Kultur«, sagt er, »hat bei den kleinen Leuten noch nie gedeihen können. Nur Unkultur.«

    Er lädt manchmal zu einem Glas Sherry und einem Schwätzchen ein, wenn er dazu aufgelegt ist. Und ich nehme die Einladung meistens an, weil er mich amüsiert, weil ich seine Boshaftigkeit und Wortgewandtheit mag, ganz abgesehen davon, daß er klug, gebildet und weitgereist ist. Dann sitzen wir in dem kleineren Wohnzimmer mit den hellen Brokatmöbeln und dem chinesischen Porzellan, das er sammelt, und ich fühle mich in eine andere Zeit versetzt, aus der Gegenwart zurück in längst vergangene Jahre, die ich nur aus dem Kino und aus Büchern kenne; jene Jahre, als die Zeit noch langsam verstrich und alles in festen Bahnen verlief, nach zivilisierten Regeln vor sich ging, selbst Korruption und Kriege. Und während er redet, läßt er uns von seinem Freund Larus bedienen, schickt ihn nach Kissen, Zigarren und Pralinen, läßt ihn Fenster öffnen und schließen, kleine Kuchen und Zigaretten holen. Und Larus springt, wie er es in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren getan hat, leichtfüßig und immer gleich adrett, ein alter, freundlich blickender Mann, dem die Dienstfertigkeit der Freundschaft aufgebürdet ist, und die der Armut; vielleicht sogar die der Liebe. So wird zumindest getuschelt. Und es könnte wahr sein. Das Muster stimmt auf alle Fälle.

    Als junger Mann machte Eirikur mit den kleinen Leuten Erfahrungen, die er nie vergaß. Er verdingte sich einen Sommer zum Straßenbau, als er Geld brauchte; sein Vater war gerade gestorben, und er wollte hinaus in die Welt, begierig nach Bildung, Ruhm und Ehre. »Als Dichter«, sagte er, »Dichter in spe«, fügte er hinzu, und ein leises ironisches Lächeln huschte über sein Gesicht. Ich fühlte, wie sich dieses Lächeln in meinem Gesicht widerspiegelte, denn beide haben wir ungedruckte Jugendträume im Gepäck; einer von seinen wurde tatsächlich gedruckt, aber keiner von uns verliert je ein Wort darüber. »Als Dichter in spe litt ich unter der irrigen Vorstellung, in der mich meine gute Mutter bestärkte, ich müsse das Volk aus eigener Erfahrung kennenlernen, in den Alltag eintkuchen, um so mit der Volksseele in Berührung zu kommen. Daher entschloß ich mich, in diesem Sommer ins Westland zu gehen.« Er schwieg, schloß die Augen und faltete die Hände, als wolle er beten. »Nicht einmal bei Dante«, fuhr er fort, »nein, nicht einmal dort habe ich etwas gefunden, das mit den elf Tagen vergleichbar wäre, die ich durchzustehen hatte. Der Gestank, Gott stehe mir bei, war so penetrant, daß mir Tag und Nacht übel war. Strümpfe wurden nie gewaschen. Oder die Unterwäsche gewechselt. Schon gar nicht die Zelte gelüftet. Die Mahlzeiten waren ein unbeschreiblicher Alptraum. Keiner dieser Männer schien je etwas von Tischsitten gehört zu haben. Sie schleckten die Messer ab, schmatzten und schlürften und gaben Naturlaute von sich, an die ich mich nur ungern erinnere. An die Nächte darf ich noch heute nicht denken. Oder die Gespräche! Das waren Tiere. Kreaturen, die nie an etwas Höheres dachten, als an Bäuche und Geschl …« und er bekam einen Hustenanfall, als diese alten Peiniger ihn wieder mit ihren Krallen packten und zu sich in den Dreck ziehen wollten.

    Diese Erfahrungen mit den kleinen Leuten vergaß er nie und vergab er nie, sein ganzes Leben war Opposition gegen das, wofür sie standen.

    »Pöbel und Kultur«, sagte er, »waren schon immer zwei entgegengesetzte Pole.«

    Und als ich versuchte, dagegen zu protestieren, denn ich fühlte trotz allem eine gewisse Blutsverwandtschaft, da bat er mich, ihn um Gottes willen mit Proletarierromantik zu verschonen, »diesen sentimentalen Ammenmärchen des geistigen Abschaums, die gefährlicher sind für die Menschheit als alle Kernwaffen.« Und fing dann an, über die Dekadenz in der französischen Lyrik Baudelaires und Rimbauds zu sprechen.

    Und das verschmitzte Lächeln, das sich auf Larus’ Gesicht gezeigt hatte, verschwand.

    Ich merkte mir Eirikurs Worte und erzählte meiner Mutter Thordis diese Leidensgeschichte vom Straßenbau. Sie lachte, gab mir zu verstehen, was sie von Eirikur und »seinesgleichen« hielt und sagte, sie wolle daran denken, das Messer abzulecken, falls ihr irgendwann einmal die Ehre zuteil würde, mit einer so vornehmen Person zu Tisch zu sitzen.

    Zwar war sie nicht sicher, ob sie auch die Naturlaute zustande bringen würde. »Aber ein oder zwei Rülpser müßte ich jederzeit aus mir herauspressen können.« Brach unversehens in Lachen aus und hatte die Geschichte bereits einmal gehört. Ihr Bruder Nikulas war einer von Eirikurs Zeltgenossen in jenen Leidenstagen vor beinahe sechzig Jahren. »Und du weißt ja, wie Lasi war, bevor er bekehrt wurde, nichts als Hänseln und Necken. Und sie quälten und peinigten ihn auf jede erdenkliche Weise, den armen Jungen. Und nannten ihn immer nur ›das Mädchen‹. Und schenkten ihm eine Decke zum Aussticken, als er abreiste.« Und sie setzte eine empörte Miene auf, die keine von uns beiden täuschte. Ich kannte den Humor meiner Mutter, und ihr Temperament.

    Es war mir nicht möglich zu sehen, was die beiden gemeinsam haben konnten, er und meine Mutter, die ständig irgendwelche Leute eben der Art um sich versammelte, die Eirikur kulturlose Kleinbauern nennt. Und ich konnte mich gut daran erinnern, wie laut meine Mutter über die Straßenbaugeschichte gelacht hatte.

    Wir standen da, zu beiden Seiten des Gartentors. Der Abendwind bewegte das Laub der Bäume, das gelb zu werden begann, und die Luft war schon herbstlich frisch. Zwischen den Häusern sah man den beleuchteten Springbrunnen im Stadtteich mit seinem Regenbogenschleier unter dem dunklen Himmel. Spätsommerabend.

    Er hielt mir wieder den großen Freesienstrauß entgegen, der in der Dämmerung leuchtete. Starkfarbige Blumen, die dufteten, und die Blätter feucht, wie mit Tau benetzt. Nicht die Blumen meiner Mutter. Auf keinen Fall ihre Blumen.

    »Rucharas«, sagte ich. »Wo bekomme ich Ruchgras?«

    »Ruchgras«, wiederholte er verwundert. »Was willst du damit?«

    Das eine Mal, als ich durch die öden Buchten reiste, aus denen ich stamme, bat mich meine Mutter, Ruchgras mitzubringen. Sagte, es wachse unten am Hang westlich des Hauses. Sie wollte es in den Schrank und in die Kommodenschubladen legen, »wie man es zu Hause getan hat.« Aber die Natur überwältigte mich. Diese von steilen Felsen umschlossenen, stummen Buchten jagten mir Angst ein, schienen so fern allem Menschenleben, meinem Leben, daß ich an nichts anderes denken konnte, als von dort wegzukommen. Außerdem war das Haus längst in sich zusammengefallen, und wenngleich der Hang auch noch an seinem Platze war, kannte ich doch kein Ruchgras, keiner von uns kannte Ruchgras.

    Eirikur räusperte sich, hielt mir wieder diese Blumen hin und sagte:

    »Du stellst sie ihr auf den Nachttisch. Mit Grüßen. Freundlichen Grüßen.«

    Ich wollte sie annehmen, natürlich, aber mit einem Mal kam etwas über mich, gegen das ich nichts tun konnte, das ich nicht verstand, von dem ich wußte, daß es absurd war, und dem ich dennoch ausgeliefert war.

    »Sie ist bewußtlos«, sagte ich und steckte meine Hände tief in die Manteltaschen. »Sie weiß nicht, was um sie herum vor sich geht.«

    Wir standen dort wie in einem gerissenen Film, Eirikur mit dem erhobenen Blumenstrauß und ich mit den geballten Fäusten tief in den Taschen.

    »Bewußtlos«, sagte er schließlich, und eine tiefe Röte überzog sein Gesicht.

    Ich schwieg.

    Am Fenster des kleineren Wohnzimmers sah man undeutlich die Konturen eines Menschen hinter einer hellen Tüllgardine, und eine weiße, magere Hand brachte Unruhe in die blaßblauen Veloursvorhänge. Ein in Leder gekleidetes Wesen mit rosa und grünen Haarspitzen kam aus dem Haus gegenüber und schaute neugierig zu uns herüber. Schlenderte dann die Straße hinunter, im Takt mit einer heiseren Stimme, die in die Abendstille brüllte: I don’ t wanna be a hero, I don’ t wanna be a –

    Eirikur blickte mich scharf an. Dunkle, fast schwarze, schrägstehende Augen, die in der Dämmerung schimmerten.

    »Weiß nicht, was um sie herum geschieht«, wiederholte er.

    Ich schwieg.

    Und dann plötzlich richtete er sich auf, schaute über meinen Kopf hinweg, als sähe er dort etwas, das anderen verborgen war.

    »Der Wind weht, wo er will«, sagte er und warf mir einen raschen Blick zu, und die Hörner auf seiner Stirn glühten. »Der Wind weht, wo er will, und du hörst sein Brausen, aber du weißt nicht, woher er kommt oder wohin er geht.«

    Und er schien zu wachsen, die kraftvollen Worte schienen diesem arroganten alten Mann eine Würde zu geben, die ich nicht kannte. Er verwirrte mich, machte mich unruhig, fast ängstlich, obgleich ich wußte, daß es dumm von mir war. Eirikur hat immer Zitate parat.

    »Nimm die Blumen, Nina«, fuhr er fort. »Nimm die Blumen und bestell den Gruß. Wer weiß, wo sie jetzt ist. Oder was sie hört.« Das sagte er, und ich glaubte ein Grinsen über sein Gesicht huschen zu sehen, als wisse er, wie ich mich fühlte. Was er natürlich tat.

    Der alte Fuchs!

    Und jetzt sitze ich hier, und die Freesien duften. Die Freyslilien. Die ich wegwerfen wollte. Und es doch nicht über mich brachte. Aus irgendwelchen Gründen.

    Vielleicht aus denselben, aus denen ich jetzt hier sitze. Ganz gegen meinen Willen. Ein Blick von meiner Schwester Marta und vom Arzt, als das Schweigen zu lang wurde, erstickte meinen Widerspruch im Keim. Und was hätte ich sagen sollen? Daß ich keinen Sinn darin sah. Daß es Fachkräfte dafür gab. Daß dies ein längst veralteter Brauch war. Unzeitgemäß. Oder daß ich keine Zeit habe. Ich wußte, welche Antwort ich bekommen würde. Habe sie schon früher bekommen. Die spitzzüngige Marta pflegt nicht locker zu lassen, wenn es ihr darauf ankommt.

    »Meinst du etwa, daß du nicht am Bett deiner sterbenden Mutter wachen willst?« hätte sie mit großem Nachdruck gesagt und mich in den Treibsand hinausgezogen.

    »Du bist die einzige, die sich ihre Zeit frei einteilen kann«, sagte sie, meine Schwester Marta, und meinte damit, daß es nichts Besonderes sei, was ich mache, bei ihr sei das etwas ganz anderes, Hausfrau mit einer großen Familie und berufstätig. Ihre Geringschätzung ärgert mich heute noch genauso wie als Kind.

    »Du hattest es Mutter versprochen«, sagt sie.

    Und triumphiert.

    Denn mein Wort muß ich einlösen. Auch wenn ich mich nicht daran erinnern kann, es je gegeben zu haben. Weiß, daß es ihre Erfindung ist. Ihre Erfindung sein muß. Ich habe das niemals versprochen. Das habe ich nicht getan. Das ist undenkbar. Aber in den Augen Martas gibt es keine Gnade. Nur unbeugsame, alte Wut. Die ich kenne. Dich will sie, sagen ihre Augen, dich. Die immer im Stich gelassen hat. Alles im Stich gelassen hat. Und ich weiß, daß ich hier in diesem Zimmer sitzen werde, das mich in jeder Hinsicht beengt, bis es vorüber ist.

    In meiner Tasche wartet Arbeit, die ich heute nacht erledigen wollte. Der Entwurf einer Broschüre für ein Hotel hier in der Stadt und die Planung einer Werbekampagne für eine ungenießbare Limonade. Vielleicht nichts Besonderes, aber bei dieser Arbeit springt doch erheblich mehr heraus als bei Martas Hausarbeit. Und ihrem Gewerkschaftsgetue.

    Aber ich kann mich nicht konzentrieren. Alles ist so still. Ich bin diese Stille nicht gewohnt. Hinter ihr ein Geräusch, das ich zu kennen glaube, doch ich komme nicht darauf, was es ist. Die Meeresbrandung? Das Rauschen eines Flusses?

    Ich hätte ein Buch mitnehmen sollen, oder Zeitungen, etwas, um die Zeit totzuschlagen.

    Ich strecke meine Hand nach der Mappe in meiner Tasche aus, berühre mit den Fingern etwas Weiches. Das Schultertuch. Ich hatte es vergessen. Dieses alte Schultertuch, das ich aus irgendeiner Sentimentalität heraus einsteckte, als ich ging. Ein Geschenk von Mutter. Ich hole es heraus, wickle es aus dem alten, bräunlichen Papier. Die Farben schon ausgeblichen, die Fransen verschlissen, einen Geruch verströmend, den ich nicht kenne, frisch aber herb. Das Tuch fühlt sich steif an, obwohl es weich ist. Ich hebe es unbewußt an meine Schultern. Halte aber mitten in der Bewegung inne. Lege es zusammen. Stecke es wieder in die Tasche.

    Vor mir das Bett.

    Alles so still.

    Hüllt mich ein, diese Stille. Vermischt mit einer Unruhe. Die immer näher kommt. Macht mich nervös. Ich schaue auf die Uhr. Zwölf. Die Zeit steht still. Rührt sich nicht vom Fleck.

    Etwas, um die Zeit totzuschlagen – ein seltsamer Ausdruck, den wir da verwenden – die Zeit totschlagen – seinen Feind – totschlagen –

    Ich habe den Gruß nicht ausgerichtet.

    Werde es auch nicht tun.

    Die Wirklichkeit ist kompliziert genug, auch wenn man sie nicht in allerhand Aberglauben und Mystik verwickelt.

    Stille in der Zeit – stehengebliebene Zeit.

    Vor mir das Bett.

    Wer weiß, wo sie jetzt ist –

    Und die Bucht taucht auf, die drohenden Bergriesen, darüber aufragend, das flüsternde Wuchergras, Marias Stimme, leises Reden in der endlosen Stille, die Geschichten von Sunneva, von Katrin, all diese Geschichten – und wir drei, Nina, Arnar und Helgi auf einer Tour durch diese Berge, auf einer Wanderung durch die Öde –

    In der Ferne hört man einsames Vogelgeschrei – –

    Das ist die Stunde des Vogels. Und des Felsens. Die Stunde der Betriebsamkeit und des Abenteuers in einer stillen Bucht im hohen Norden.

    An regnerischen Tagen steht man früh auf und schüttelt sich den Schlaf unsanft aus den Gliedern. Dann geht man los. Man geht schräg über die grasigen Bergterrassen hinauf, höher und höher, um zum Felsen zu gelangen. Eine Gruppe von Menschen mit Kiepen auf dem Rücken und voller Spannung, denn niemand weiß, was der Tag bringt.

    Ganz oben auf dem Felsen wartet das Seil, aufgerollt wie ein Lindwurm aus alten Erzählungen. Das ist der Wurm, der Gold gibt. Wenn Gott will. Alles geht nach Gottes unergründlichem Willen.

    Die Leute trocknen sich die triefenden Nasen. Der Morgen ist kühl und man geht zügig voran. Die Rücken krümmen sich beim letzten Stück, und die Muskeln spannen sich. Wieder will man alles wagen und den Felsen besiegen.

    Kalt starrt der Felsen seine Besucher an. Er sieht keinen Unterschied zwischen Mensch und Vogel. Die schwarzen Felswände wimmeln von Leben, alles wimmelt hier von Leben, bis ganz hinunter in den Abgrund, wo die weiße Gischt der Brandung harmlos gegen die tangbewachsenen Steine spült. Lautes, geschäftiges Leben. Aber auch Tod. Ein Stein fliegt mit lautem Sausen vorüber, und die Bewohner eines Felsenabsatzes sind ausgelöscht, verschwunden; übrig nur noch ein paar Fetzen, die dem fallenden Gestein folgen, blutgetränkte Fetzen. Ein paar Federn schweben leicht in den Frühlingsmorgen hinaus. Hinab in diese seltsame, kreischende Welt soll es jetzt gehen, diese gefahrvolle Welt der Fruchtbarkeit und der Vernichtung, wo die Pranke des Todes lauert, um jeden wegzureißen, der es wagt, dem Felsen die Stirn zu bieten.

    Die Stunde des Felsens. Die Stunde der Lebensgefahr. Aber auch die Zeit, zu der fremde Schiffe am Horizont auftauchen. Mit weißen Segeln suchen sie diese Buchten im Norden auf und werfen Anker. Spiegeln sich erhaben in der blanken Oberfläche der Bucht, während die Segel eingeholt werden. Diese geheimnisvollen Märchenschiffe, die den unbekannten Duft ferner Länder mit sich führen, der ganz anders ist als der schwere, herbe Geruch des Felsens. Und in der Morgensonne legt ein Boot vom Schiff ab und nähert sich dem Ufer.

    Im Haus singt die alte Sina mit ihrer rauhen Greisinnenstimme beim Stricken vor sich hin:

    Es gehen die Mädchen

    nach Süden am Strand,

    mit ihren langen Schürzen

    und blauer Leinewand.

    Soll es so sein,

    eine davon will ich frei’n.

    Dann verstummt sie und untersucht die graue Socke, denn da ist etwas nicht so, wie es sein soll, und schau her, hatte sie es doch geahnt, hier hat sie eine Masche fallen lassen und müht sich ab, die verflixte Masche wieder auf die Nadel zu holen, ohne aufziehen zu müssen, was ihr schließlich auch gelingt, auch wenn es zuerst Schwierigkeiten macht; und wieder singt sie den Vers von den Mädchen am Strand.

    »Eine davon will ich frei’n«, singt sie mit neuer Kraft, verstummt dann und schaut still vor sich hin, wobei sie ein wenig hin und her schaukelt. »Ach ja, lange ist es

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