Märchen aus einer Nacht
Von Sandra Paretti
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Buchvorschau
Märchen aus einer Nacht - Sandra Paretti
Sandra Paretti
Märchen aus einer Nacht
Saga
Märchen aus einer Nacht
Copyright © 2022 by Helmut and Anka Schneeberger, represented bei AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1985 by Heyne Verlag, München
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 0, 2022 Sandra Paretti und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728469484
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Der Herrenclub von Nowgorod
Die Männer hatten das Abendessen beendet und machten es sich bequem. Ein Diener, ein schweigsamer Türke, servierte den Mokka, schenkte Likör ein und bot Zigarren an; er kannte die Gewohnheiten und Vorlieben der Gäste auswendig. Sie kamen jeden zweiten Abend hierher, und jeder hatte seinen angestammten Platz in dem kleinen Salon im ersten Stock von Timafs Teestube. Für einen Moment war das Gespräch verstummt, Zigarrenrauch kräuselte sich um die satten Gesichter der Männer, der Samowar summte auf der Anrichte. Aus der Tiefe des Hauses stieg noch ein anderes dunkleres Summen auf, wie von einem riesigen Bienenstock: das waren die Geräusche der großen Gaststube.
Unten, in der großen Gaststube, ging es immer laut zu; an den runden Tischen saßen Pelztierjäger, Schiffer, kleine Beamte, Handwerker, aufgedonnerte Flittchen und ausländische Kaufleute einträchtig nebeneinander, und wenn draußen eine goldverzierte Kutsche vorfuhr und Kavaliere vom Zarenhof absetzte, dann rückten die Pelztierjäger, die Schiffer und die Flittchen einfach enger zusammen, aber ein Aufhebens machte niemand davon, nicht einmal, wenn es der Zar persönlich gewesen wäre.
Nowgorod, die alte Zaren- und Handelsstadt an der Mündung von Oka und Wolga, war nicht die größte Stadt Rußlands, aber es war die bunteste, die weltoffenste, die reichste und die abenteuerlichste. Nowgorod war ein Babylon der Sprachen, der Rassen – und der Frauen. Es war so, wie Timaf, der Teestubenbesitzer, Ausländern, die zum erstenmal zu ihm kamen, gerne sagte: man kannte Rußland nur, wenn man Nowgorod kannte, und man kannte Nowgorod nur, wenn man Timafs Teestube kannte.
So laut es unten zuging, so intim war der Salon, den Timaf im ersten Stock für spezielle Gäste, die unter sich sein wollten, eingerichtet hatte.
Der Raum war klein und angefüllt mit schönen Dingen. Indische Seidenteppiche bedeckten den Boden; die Wände erinnerten an das Innere eines türkischen Serails. Reiche Ornamente in Gold, Perlmutt und Türkis gaben dem Raum eine geheimnisvolle Transparenz. Den Wänden entlang zogen sich üppig gepolsterte Diwans, auf denen sich Berge golddurchwirkter Kissen türmten. Von der Decke hingen an goldenen Ketten goldene arabische Laternen.
Inmitten dieser orientalischen Pracht saßen die sechs Männer, die man in Nowgorod den Herrenclub nannte. Man tat es mit Neid und mit Bewunderung. Die sechs waren die reichsten Kaufleute von Nowgorod, und das wollte etwas heißen, denn unter den 300 000 Einwohnern Nowgorods waren viele reiche Kaufleute, und während der Zeit der Großen Messe, die jährlich von August bis Oktober abgehalten wurde, kamen noch einmal 400 000 Händler aus aller Welt nach Nowgorod. Der Reichtum der sechs Männer war das eine, ihre Freundschaft mit dem Zaren das andere. Sie gingen im Kreml ein und aus. Sie spielten mit dem Zaren Billard, sie gingen mit ihm auf die Jagd, sie nahmen ihn mit auf nächtliche Streifzüge durch den Bezirk Nowgorods, der Frauenstadt hieß, weil dort die käuflichen Frauen lebten. Und sie fehlten auf keinem der großen Bälle des Zarenhofs, egal ob in Nowgorod, Petersburg oder Moskau.
Aber wie das so ist, die eigentliche Berühmtheit verdankten sie ihrer Kleidung. In einer Stadt wie Nowgorod, in der ein buntes Völkergemisch von Russen, Tataren, Chinesen und Türken lebte und jeder in der Nationaltracht herumlief, trugen diese sechs Männer englische Maßanzüge und am Abend englische Ausgehkleidung: schwarzer Rock, graue Hose, weiße Weste, weiße Krawatte und Lackstiefel.
Wer waren nun diese sechs Männer eigentlich und womit verdienten sie das viele Geld?
Beginnen wir mit dem jüngsten, mit dem Chinesen Xu Kung: er war knapp dreißig Jahre alt, hochgewachsen und arrogant; er handelte mit Seidenstoffen und machte pro Messe einen Umsatz von 20 Millionen Rubel. Die Geschäfte der anderen fünf bewegten sich ebenfalls in den Millionen. Der Pelzhändler Onnenkow war der typische Kalmücke, mit gedrungener Statur, breiten Schultern und einem Mongolengesicht. Der Kaviarhändler Paulsen, ein rundlicher Mann mit grauer Künstlermähne, stammte aus Hamburg, war aber schon als Kind nach Rußland gekommen. Der Japaner Kenkishi handelte mit Perlen und Korallen; er hatte die feine Haut und das helle Lachen eines Mädchens. Mit Stolz sagte er von sich, daß er unter tausend Perlen die eine, die vollkommen war, mit einem Blick herausfände. Der Südrusse Gregorowitsch machte sein Geld mit Tee. Er war ein Bär von einem Mann, ein Schürzenjäger und immer hungrig.
Die Geschäfte des Levantiners Falangha waren komplizierterer Natur. Auf seinem Geschäftspapier stand Häuserverwalter. Das stimmte. Falangha verwaltete Häuser, genauer gesagt, er verwaltete einen ganzen Stadtteil von Nowgorod, den Bezirk, den man Frauenstadt nannte. In diesem Bezirk lebten die achttausend Frauen, die während der Messe nach Nowgorod kamen, um ihre Liebesdienste zu verkaufen. Die Häuser dieser Frauenstadt gehörten alle Falangha, und als gewissenhafter Hausverwalter hielt er es für das beste, seine Mieterinnen selber auszuwählen. Kurz und gut: er war Mädchenhändler, Falangha war ein Mann um die Fünfzig, der typische Levantiner mit den schweren Augenlidern und der schlaffen Unterlippe eines Kamels. In Nowgorod kursierte das Gerücht, daß er und seine Freunde jede neue Frau ausprobierten, was eine maßlose Übertreibung war. Aber eines stimmte: Zwischen Timafs Teestube und der Frauenstadt lag nur ein Haus, und auch dieses Haus gehörte Falangha. Da die Dachterrassen der Häuser mit einer kleinen eisernen Brücke verbunden waren, konnten die Herren des Herrenclubs in die Frauenstadt spazieren, ohne den Fuß auf die Straße zu setzen.
Falangha saß in der Ecke des Diwans, auf dem Knie ein blaßrotes Seidenkissen, das er mit seinen geschmeidigen Händen knetete und streichelte, als wollte er eine Frau daraus formen. Mit halbgeschlossenen Lidern folgte er der Diskussion seiner Freunde über das amerikanische Projekt einer Eisenbahnstrecke quer durch Rußland. Die Nowgoroder Zeitung, der Merkur Bote, hatte dem Thema eine ganze Seite gewidmet.
Der Teehändler Gregorowitsch las vor: »Von Moskau über den Amur zum Stillen Ozean . . . Stellt euch vor, man steigt am Montag in Moskau in den Zug und ist Mittwoch nacht am Stillen Ozean. Heute braucht man drei Wochen, wenn man Glück hat.«
Falangha seufzte gedankenvoll. »Was nützt eine Bahnlinie zum Stillen Ozean. Wir sitzen in Nowgorod. Wir sollten unseren Einfluß geltend machen, daß man eine Bahnstrecke von Moskau nach Nowgorod baut.« Er betrachtete sorgenvoll die manikürten Fingernägel. »Mein Problem ist es seit Jahren, wie bringe ich europäische Frauen nach Nowgorod. Die Reise ist eine Strapaze, die Straßen sind schlecht, die Kutschen sind schlecht, die Schiffe sind überfüllt, und es gibt keine Kajüten. Für eine verwöhnte Frau ist die Reise eine Zumutung – selbst auf der Lotsman, dem besten Schiff, das wir haben.«
Etwas in Falanghas Stimme machte die anderen Männer hellhörig. Sie wechselten bedeutungsvolle Blicke, und Xu Kung meinte mit arrogantem Lächeln: »Zum Glück sind die Frauen, die nach Nowgorod kommen, nicht allzu verwöhnt.«
Falangha überhörte die Bemerkung und sagte: »Das Gute an der Lotsman ist Kapitän Joblinski. Bei ihm bin ich wenigstens sicher, daß die Frauen, die auf seinem Schiff reisen, nicht von Tataren geraubt werden. Joblinski und seine Männer sind bis an die Zähne bewaffnet. Obendrein sind sie pünktlich.«
Der Schürzenjäger Gregorowitsch schnalzte mit der Zunge. »Willst du damit andeuten, Joblinski hat Frauen an Bord?«
Falangha zog die Uhr aus der Westentasche. »Joblinski hat mir sein Wort gegeben, daß die Lotsman morgen früh Punkt neun am Sibirischen Kai anlegt...« Er steckte die Uhr ein und räusperte sich. »Auf Joblinski ist Verlaß, wir sollten also auch Punkt neun am Sibirischen Kai sein... um die Damen in Empfang zu nehmen.«
Damen. Hatte er Damen gesagt. Das Wort genügte, und alle Eisenbahnen der Zukunft waren vergessen. Erwartungsvoll hingen die Blicke an Falangha, der seine Freunde befriedigt über die Wirkung seiner Worte anlächelte.
»Ihr habt richtig gehört, ich habe Damen gesagt.«
Sie wollten ihn mit Fragen bestürmen, doch Timaf, der Teestubenbesitzer, betrat den Raum und brachte die Lichter, wie jeden Abend kurz vor zehn Uhr. Es war eine alte Sitte in Nowgorod, daß Punkt zehn Uhr abends alle Bewohner ins Freie traten und ein Licht anzündeten, eine Kerze, eine Fackel, ein Schwefelholz, was man eben hatte. Es war jeden Abend ein großer Moment, den niemand versäumen wollte, wenn auf einen Schlag 300 000 Lichter aufflammten und Nowgorod sich in ein Lichtermeer verwandelte. Timaf öffnete die Tür zu der Dachterrasse und ging voraus, die Männer folgten ihm. Es war eine klare windstille Augustnacht, und die Lichter brannten mit ruhiger Flamme. Falangha trat auf die kleine Brücke, die zur Dachterrasse des Nachbarhauses führte. Das Haus gehörte ihm, dort würde er die Damen, die morgen früh in Nowgorod eintrafen, unterbringen. Alles war vorbereitet für ihre Ankunft; er hatte die Räume luxuriös ausgestattet, er hatte Personal engagiert. In seiner Vorfreude war er versucht, die Freunde schon jetzt einzuweihen und mit ihnen einen Rundgang durch das Haus zu machen und ihnen die Boudoirs der Damen zu zeigen. Doch er bezwang sich. Ruhig bleiben, nichts überstürzen, sagte er sich. Alles der Reihe nach.