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Maria Canossa
Maria Canossa
Maria Canossa
eBook370 Seiten5 Stunden

Maria Canossa

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Über dieses E-Book

Italien, 1943. Das Leben der jungen Römerin Maria Canossa ist im Umbruch. Nach einer gescheiterten Ehe will sie nichts anderes, als in ihre Heimat zurückzukehren, doch die Hauptstadt ist ebenso zerrissen wie Marias Inneres. Widerstandsgruppen und alliierte Gegner kämpfen gegen das faschistische Regime in Italien. Wird Maria in diesen Trümmern glücklich werden können? Wird sie jemals mit ihrer Vergangenheit abschließen?-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum5. Dez. 2022
ISBN9788728469392
Maria Canossa

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    Buchvorschau

    Maria Canossa - Sandra Paretti

    Sandra Paretti

    Maria Canossa

    Roman

    Saga

    Maria Canossa

    Copyright © 2022 by Helmut and Anka Schneeberger, represented bei AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

    Originally published 1979 by Droemer Knaur Verlag, München

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 1979, 2022 Sandra Paretti und SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788728469392

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    www.sagaegmont.com

    Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

    Wo bist du, geliebtes Morgen?

    Wir alle, jung und alt, stark und schwach,

    Reich und arm,

    Wir alle, in Freud und Leid,

    Suchen dein süßes Lächeln.

    Bis wir an deinem Platz das finden,

    Vor dem wir geflohen sind – das Heute.

    Shelley

    Dieser Roman schildert Ereignisse, die sich im Sommer des Jahres 1943 in Rom zugetragen haben.

    Die Namen wurden aus Rücksicht auf noch lebende Personen geändert.

    Fünfzig Kilometer nordöstlich von Rom, in den Tiburtiner Bergen, liegt der Ort Saracinesco. Die wenigen Häuser und die Kirche wachsen unmittelbar aus dem hellen Lavagestein. Unten, in der Ebene, fließen der Aniene und der Fiumicino und machen die Erde fruchtbar. In Saracinesco gibt es nur den Stein, die weite Sicht ins Land, den Wind, der selten schläft und den Himmel, der sehr nahe ist. Um ihre Toten zu begraben, haben die Bewohner weder den Platz noch die Erde. Der Friedhof befindet sich unterhalb des Ortes, an der Straße, die sich den Berg hinaufwindet und eigentlich nur ein Saumpfad ist. Ein paar verkrüppelte Olivenbäume und ausgewachsene Weinstökke geben Schatten. In der obersten Reihe steht ein Tuffstein. Er trägt, schon verwittert, die Inschrift MARCO VARELLI, NATUS 1900 – OBIIT 1943.

    Fast immer liegen frische Blumen dort. Nur wenige wissen, daß das Grab in der weißen Erde leer ist.

    Erster Teil

    1

    Aufzeichnungen des Dott. Lennart Larsson

    Rom, Villa Kristina, 22. April 1943

    Der Tag geht zu Ende. Noch ist es hell genug, um ohne Licht zu schreiben. Nur die Luft färbt sich allmählich blau. Ich sitze in meinem Sprechzimmer am Schreibtisch. Die Tür zur Terrasse ist offen, und ich warte auf den Abend. Ein leichter Wind geht; bei Sonnenuntergang wird er sich legen. Hin und wieder wehen die Verdunklungsvorhänge auf, ein warmer Duft dringt ins Zimmer und verdrängt den Geruch von Anästhetika; Mimosen und Oleander blühen auf der Terrasse.

    Einen Frühling wie diesen habe ich in den vierzig Jahren, die ich in Rom bin, nicht erlebt. Es ist, als wolle die Natur die Römer für ihre Leiden entschädigen. Ich brauche mich nicht zu erheben, um alles zu sehen; die Stadt liegt zu meinen Füßen: im Osten San Carlo al Corso, im Süden das Denkmal Vittorio Emanuele II und dazwischen das Pantheon und San Andrea della Valle mit ihren Kuppeln.

    Roma eterna, voller Sonne, es hat doch wieder triumphiert, geübt in Untergang und Auferstehung – das gehört zu dieser Stadt.

    Dennoch warnen mich die Freunde. Siege machen die Sieger milde. Aber wie werden sie reagieren, wenn die Niederlagen kommen? Der schwedische Chargé d’affaires hat mich heute aufgesucht – Teresa, die nie genug Lebensmittelvorräte anhäufen kann, schätzt seine Besuche wegen des Kaffees, den er regelmäßig mitbringt – und mich erneut bedrängt, das Land zu verlassen. Die Kapitulation in Nordafrika ist für ihn eine feststehende Tatsache, nur eine Frage von Tagen. Dann ist der Weg nach Italien für die Alliierten frei. Ob Rom verschont bleibt? Die Römer sind davon überzeugt, daß die Gegenwart des Papstes sie schützen wird ...

    Ich habe mir geduldig angehört, was er zu sagen hatte, aber ich weiß, ich bin zu alt, um hier wegzugehen. Meine Bibliothek hier, meine Ausgrabungen; ohne meine Patienten könnte ich leben, aber nicht ohne Italien. Hier ist meine Heimat. Ich werde bleiben und hinnehmen, was kommt. Und dann ist da noch etwas; ich halte es geheim, sogar vor mir selber – Maria. Ein Frühling für einen alten Mann? Eine Illusion? Was immer es ist, es gibt mir das Gefühl, jung zu sein, ein letztes Mal jung und ein letztes Mal glücklich ... Es war immer meine Theorie: Illusionen sind Anodyna, schmerzlindernde Mittel.

    Später

    Vor drei Wochen war ich bei Dr. Hartmann, wegen meiner Augen. Er ist das, was ich einmal war und wohl auch noch bin, ein Modearzt. Sein Wartezimmer in der Via Po war überfüllt, die gleichen Damen der römischen Gesellschaft, die früher zu mir kamen und die ich nach und nach abgeschüttelt habe. Hartmann empfing mich sofort. Sein Anzug aus naturfarbener Seide erinnerte mich daran, daß ich früher zum Hausbesuch bei gewissen Patienten eine weiße Nelke ins Knopfloch steckte ...

    Hartmann nahm sich viel Zeit. Die Verschlechterung auf beiden Augen ist eindeutig, vor allem auf dem rechten. Dennoch: Augendruck normal, keine Anzeichen für grünen Star, nichts, was zu operieren wäre. Der Defekt liegt nicht am Auge, sondern irgendwo im Nervensystem. »Ein Fall für einen Wunderheiler, Herr Kollege, nicht für mich!«

    Sein Rat: Schonung. Möglichst wenig lesen, und das nur bei Tageslicht; noch besser, jemanden finden, der mir vorliest. Zum Schreiben eine Maschine benützen. Im übrigen fand er meine körperliche Verfassung für einen Mann von vierundsechzig Jahren »beneidenswert«. Ich glaubte, mich selber zu hören!

    Noch am selben Tag holte ich meine alte schwedische Schreibmaschine hervor. Am Anfang mußte ich jeden Buchstaben suchen; inzwischen geht es etwas flüssiger. Und dann – ich habe Maria zum Vorlesen; jeden Abend, mit Ausnahme der Wochenenden, kommt sie zu mir, zwei, drei Stunden. Ich warte jetzt auf sie.

    Noch später

    Warum kommt sie nicht? Es ist ihre Stunde.

    Ich schreibe nieder, was mir durch den Sinn geht. Ich mache lange Pausen, lasse den Blick über die Dinge gehen, die auf dem Schreibtisch liegen: den Totenkopf, das Stethoskop, den Rezeptblock. Ich weiß nicht, warum ich diese Dinge aufschreibe. Mein ganzes Leben habe ich nicht viel geschrieben. Die Zettel zum Bezeichnen meiner archäologischen Sammlung, die Notizen für die Shelley-Ausgabe – und Rezepte natürlich. Und jetzt sitze ich hier und versuche Ordnung in meine Gedanken zu bringen, Worte zu finden. Was soll daraus werden? Meine Geschichte? Die Geschichte von Maria Canossa?

    Illusion ist ein Anodynum. Darum? Schreibe ich nach Tausenden und aber Tausenden von Rezepten für andere nun eines für mich? Ein Rezept gegen Einsamkeit, gegen Erinnerungen, die weit zurückliegen und trotzdem immer noch weh tun? Also eine Therapie. Zeitvertreib und Therapie für einen Mann, der zu alt ist für ... Warum muß ich mich zwingen, es hinzuschreiben: zu alt für die Liebe.

    Gift und Gegengift. Absurd, daß Ärzte sich selber nie helfen können!

    Wie auch immer, ich werde weiterschreiben. Fingerübungen eines alten Mannes, der nichts zu tun hat und der nachts nicht schlafen kann.

    Insomnia. Davon haben Dr. Hartmann und ich nicht gesprochen. Nicht, daß ich mir einbilde, er wüßte nicht Bescheid. Ein guter Arzt sieht das einfach. Schlaflosigkeit. Ich hatte viele Patienten, die daran litten, und ich habe sie noch. Insomnia ist sehr verbreitet unter meinen deutschen Patienten. Sie ist kein Leiden, an dem man stirbt. Aber sie kann einen Menschen aushöhlen, bis zum Selbstmord. Am Tag ist der Kopf leer, unfähig zur Konzentration. Nachts beginnt er zu arbeiten, rastlos, türmt Gebirge von Gedanken auf. Die Diagnose ist klar. Aber die Therapie?

    Maria. Sie wird bald kommen. Ich werde ihre Schritte schon von draußen hören, wenn sie die Steinstufen der Rampa Mignanelli heraufsteigt. Die Glocke wird anschlagen, Teresa wird die Haustür öffnen. Dann wird Maria in die Bibliothek gehen, die unter meinem Sprechzimmer liegt. Für Augenblicke wird es still werden, wenn sie überlegt, welches der Bücher, die ich bereitgelegt habe, sie zum Vorlesen wählen soll.

    Ich werde ihre Stimme hören. Ich werde die Augen schließen und ihr zuhören, ohne auf die Worte zu achten ...

    Der Wind hat sich gelegt. Die Vorhänge bewegen sich nicht mehr. Bald wird die Sonne in der Stadt versinken.

    Teresa geht durchs Haus. Sie zieht die Verdunklungsrollos herunter. Die Geräusche verraten, daß sie es mit Widerwillen tut: oft vergißt sie auch ein Fenster, und irgendwann kommt von außen der Schrei: »Licht aus!«

    Teresa stammt aus den Abruzzen, wo man von Verdunklung nicht viel hält. Außerdem ist sie eine fromme Seele und glaubt fest, das il papa alles Unheil von Rom fernhalten wird, also auch Flugzeuge und Bomben. Teresa hat für alle Probleme einen himmlischen Helfer. Für meine Augen zum Beispiel ist nach Teresas Ansicht die heilige Lucia zuständig. Seit sie bei mir ist, versucht sie, den ungläubigen Schweden, wie sie mich hinter meinem Rücken nennt, zu bekehren. Vergeblich. So stiftet sie eben jede Woche eine Kerze, damit die heilige Lucia dem svedese, che non crede niente, hilft. Das heißt, sie schickt dem Pfarrer von Santa Lucia degli Abruzzi das Geld für die Kerzen. Man sollte meinen, daß es unter Roms mehr als vierhundert Kirchen eine gibt, wo man der heiligen Lucia ebenso Kerzen stiften kann, aber Teresa wird schon wissen, was man tun muß, wenn man von einem Heiligen ein Wunder will. Als Arzt habe ich mir ein Leben lang verboten, auf Wunder zu hoffen.

    Hoffe ich jetzt auf ein Wunder?

    Es ist ein so schöner Tag. Ja, mit den Tagen werde ich fertig. Maria.

    Laß mich nicht allein im Dunkeln! Laß mich deine Stimme hören! Komm, und bleib noch eine kleine Weile bei mir!

    2

    Die Junkers-Maschine der Lufthansa hatte nur sieben Passagiere an Bord, sechs Männer und eine Frau. Die Männer saßen vorne, fünf in Uniform, einer in Zivil. Hin und wieder erschien der Copilot und versicherte, daß es mit der Landung in Rom keine Probleme geben würde, was die Passagiere mit skeptischem Schweigen anhörten. Sie hatten weite Umwege gemacht, mehrmals den geplanten Kurs geändert, um feindlichen Jägern auszuweichen.

    Im Flugzeug war es dunkel bis auf den schwachen Lichtschein aus der Pilotenkanzel. Es ging auf elf Uhr nachts; der Flug Berlin – Rom dauerte nun schon neun Stunden, wenn man die Zwischenlandung in Venedig mitrechnete. Drei Passagiere hatten dort die Maschine verlassen. Niemand war hinzugekommen.

    Die Frau saß ganz hinten im Flugzeug, in der letzten Reihe. Sie hatte in Tempelhof instinktiv diesen Platz gewählt und sich erst später daran erinnert, daß sie damit einen Rat Giannis befolgt hatte: In der großen, schweren Ju 52 überlebte man einen Abschuß am ehesten im Heck.

    Es war ein kleines Wunder, daß die Lufthansa jetzt, im April 1943, immer noch regelmäßig Rom anflog. Als sie von der Klinik aus das Lufthansa-Büro angerufen hatte, war das ein blinder Versuch gewesen. Ein Ertrinkender, der die Hand ausstreckt ... Ein Flug nach Rom? Einfach? Für den 15. April? Geht in Ordnung.

    Das und Giannis Telegramm waren wie ein Fingerzeig gewesen. Rom. Ein Fluchtpunkt. Ein erster Hoffnungsschimmer. Sie war blond. Bis Venedig hatte sie ein schräg sitzendes Hütchen mit Schleier und Feder getragen. Die Fülle blonden Haars, die darunter zum Vorschein gekommen war, als sie es abnahm, hatte die Männer an Bord überrascht. Blondes Haar mit einem Stich Kupfer – sanguigno hätten die Italiener gesagt. Ihr Teint, obwohl blaß, ja fast kränklich, erweckte unwillkürlich die Vorstellung, daß er in der Sonne schnell einen Goldton annehmen würde. Die Augen unter unrasierten Brauen waren dunkel, auffallend groß, auffallend ernst. Ihr Mund war schön, vielleicht das Schönste an ihr, gemacht zum Sprechen, zum Lächeln, aber jetzt lagen die Lippen fest aufeinander, angespannt.

    Das graue, gestreifte Schneiderkostüm und der Silberfuchs, den sie um die Schultern trug, betonten die angespannte Haltung, mit der sie dort saß. Hat sie sich je in ihrem Sitz bewegt, fragte sich der Copilot. Je die Beine übereinandergeschlagen? Je die Hände in den grauen Wildlederhandschuhen vom Schoß genommen?

    Auf dem Sitz neben ihr lagen ein Popelinemantel – in Berlin hatte es geregnet und gestürmt – und eine graue Handtasche. Unter ihrem Sitz stand eine Reisetasche. Sonst war kein Gepäck von ihr an Bord.

    Nach dem Namen auf der Passagierliste war sie eine Deutsche. Aber das hatte den Copiloten nicht irregeführt. In Venedig, während der Zwischenlandung, hatte er sie zu einem Kaffee eingeladen – eine Vergünstigung für Piloten. Sie lehnte ab, auf italienisch.

    Auch den Ersatzkaffee aus Gerste, den man den Passagieren anbot, wollte sie nicht, keine belegten Brote. Sie wanderte nur unruhig auf und ab. Verschwand im Waschraum, kehrte frisch frisiert und gepudert zurück, nahm ihre Wanderung wieder auf. Ging zum Informationsschalter: Wann würde der Flug fortgesetzt? Wann würden sie in Rom eintreffen? Würde man die Abholenden von der Verspätung der Maschine unterrichten? Si, signora! Außerdem, jedermann vergewissere sich, bevor er sich auf den Weg zum Flughafen mache. Eine Maschine, die nach Flugplan landet, damit rechne niemand mehr in diesen Zeiten ...

    Könnten Sie eine Nachricht ans Stadtbüro der Lufthansa in Rom durchgeben? Für wen bitte? Gianni Canossa, C-a-n-o-ss-a? Ja.

    Der Copilot hatte seine Einladung wiederholt, vergeblich. Sie wanderte in der Halle auf und ab; Information, Glasfront zum Flugfeld, nervös, angespannt, den Hut in der Hand. Als sie endlich abflogen, saß sie wieder auf ihrem Platz im Heck ... »Alles klar in Rom! Wir sind in einer Viertelstunde unten. Das Wetter dort ist ausgezeichnet. Die Mittagstemperatur war zweiundzwanzig Grad.« Das Gesicht des Copiloten in der offenen Tür der Kanzel war gezeichnet von Müdigkeit. »Nur zweieinhalb Stunden Verspätung. Zeit genug für eine ausgiebige römische Nacht, meine Herren ...« Der Scherz verfing nicht, vielleicht, weil seine Stimme zu erschöpft klang, zu heiser von den vielen Gesprächen mit der Bodenstation.

    Das Flugzeug schwenkte nach rechts, flog einen weiten Bogen, ging tiefer. Die Frau veränderte zum erstenmal ihre Haltung. Sie beugte sich vor, soweit es der Gurt zuließ, und blickte aus dem Fenster. Außer den Umrissen der Tragflächen konnte sie in der Dunkelheit nichts erkennen. Sie wußte, jetzt mußten sie über dem Meer sein. Während der ersten Stunden des Flugs hatte sie sich immer wieder diesen Moment vorgestellt: die auffunkelnde Wasserfläche des Mare Tirreno. Blendende Helligkeit – eine heiße Welle Licht, die sie überflutete, alles auslöschte, die Kälte, die Angst, alles, wovor sie auf der Flucht war. Aber da war kein Meer. Ein schimmernder Metallflügel. Trimmklappen, die spielten. Sonst nur Dunkelheit. Ja, für einen Augenblick war sie nicht einmal sicher, ob Rom, die Stadt, wirklich existierte.

    Roma. Roma cara.

    Erinnerungen rührten sich, ein Gedanke: Ich war einmal glücklich dort! Sie wollte den Gedanken festhalten. Er entglitt ihr. Nur Berlin. Das existierte. Die Nacht vor vier Tagen. Der Krankenwagen, der mit ihr in die Klinik raste trotz Fliegeralarm und der ersten Bomben. Sie, von Schmerzen gepeinigt, die Kehle ein brennendes Feuer, von der Jodtinktur, die sie getrunken hat. Was kümmern sie die Bomben! Sie wünscht nur, man möge sie sterben lassen. Die Klinik. Hände, die sie halten. Der glatte rote Schlauch, der sich ihrem Mund nähert ... Und später, mit ausgepumptem Magen auf eine Bahre geschnallt, in einem zugigen Kellergang bei flackernder Luftschutzbeleuchtung, während draußen die Bomben explodieren ...

    Aber ich war einmal glücklich. Sie versuchte, den Gedanken neu zu beschwören. Das Glück, jung zu sein, alles noch vor sich zu haben. Das Mädchen, das sie damals war – was war damit geschehen? Gab es sie überhaupt noch, begraben unter den Trümmern einer Ehe, die neun Jahre gedauert hatte. Hatte diese überstürzte Flucht noch einen Sinn? Oder war es nur die Asche, die sie nach Rom zurückbrachte ...

    Einmal noch glücklich sein, nur einen einzigen Augenblick! Ihre Hand griff nach dem Medaillon, das sie an einer feinen Goldkette um den Hals trug. Maria in Aracoeli, morgen besuche ich dich. Ich stifte dir eine Kerze, zehn Kerzen, hundert, nein, für jeden restlichen Tag dieses Jahres eine Kerze ... zweihundertsechzig würden das sein. Nicht viel für ein Wunder ...

    Durch eine harte Bewegung der Maschine glitt ihr das Medaillon aus der Hand. Lichter tauchten auf – die Landebahn? – und verlöschten sofort wieder, als die Räder den Boden berührten. Das Schaukeln wurde stärker, als es in der Luft war. Es preßte sie in ihren Sitz zurück, als die Maschine die Schräglage einnahm.

    Sie verharrte reglos, öffnete nicht einmal den Sicherheitsgurt. Sie hatte eben der Muttergottes ein Versprechen gemacht, aber sie konnte sich jetzt schon nicht mehr daran erinnern, überwältigt von der Tatsache, daß sie wirklich in Rom gelandet waren.

    Die Maschine stoppte mit einem Ruck. Licht flackerte auf. Die Motoren verstummten. Ein Moment Stille und dann die Stimmen der Männer, laut, plötzlich fröhlich nach all dem aufgestauten Schweigen. Sie holten das Handgepäck hervor, schwere Aktentaschen, die Hüte, die Mäntel, verließen die Maschine.

    Die Frau saß noch immer auf ihrem Platz, als die Piloten aus der Kanzel kamen. Der Copilot stutzte, kam zu ihr. »Es war hoffentlich nicht zu schlimm?« Er hatte seine Jacke angezogen, einen Seidenschal umgeschlungen. Der fliegende Vogel auf seiner Mütze glänzte. Auf seinem Gesicht lagen die Schatten eines dunklen Barts. »Ich helfe Ihnen.« Er holte ihre Reisetasche unter dem Sitz hervor. »Ein Osterausflug?«

    Sie sah ihn an, als müsse sie über die Frage nachdenken. Ein schwaches Lächeln trat auf ihr Gesicht, machte es schön trotz der Blässe und der Spannung. »Ich bin in Rom zu Hause.« Er hatte versucht; ihr Alter zu schätzen. Jetzt, da sie lächelte, dachte er, Anfang Dreißig.

    Sie nahm den Popelinemantel über den Arm. Er deutete auf den Hut, der noch auf dem Sitz lag. Sie schüttelte den Kopf, und das Lächeln kehrte zurück. »Ich habe schon lange vor, ihn einmal irgendwo liegenzulassen.«

    Sein Blick ging zu ihrer rechten Hand. Durch den Handschuh konnte er nicht sehen, ob sie einen Ehering trug. Er hatte eine Schwäche für blonde Italienerinnen, und ein Ehering störte ihn nicht. Im Gegenteil. Mit verheirateten Frauen war vieles unkomplizierter. »Sie werden abgeholt?« Er hatte von Anfang an italienisch mit ihr gesprochen.

    »Ja.«

    »Schade.« Sie gingen auf das langgestreckte Flughafengebäude zu. Die Nacht war klar und mild. Sie blickte zum Himmel und sah den Mond, eine riesige blaßrote Mohnblüte, durchsichtig, schwerelos. Es war lange her, daß sie so einen Mond gesehen hatte ...

    Dann erst bemerkte sie den Panzer, die Posten unter Gewehr, die Flugzeuge unter Tarnnetzen und weit weg die Silhouetten von Flakgeschützen mit ihren langen Rohren.

    »Vorsicht!« Der Copilot nahm für einen Moment ihren Arm, als sie das Flughafengebäude betraten. Draußen war es heller gewesen als hier. Die dunkelgrün abgeschirmten Lampen gaben kaum Licht. Die Fenster waren mit schwarzem Papier zugeklebt.

    Sie betraten den Raum der Paß- und Zollkontrolle; die Helligkeit dort blendete im ersten Moment. Die Passagiere der Lufthansa-Maschine waren bereits abgefertigt, nur der Zivilist stritt sich noch mit dem italienischen Zöllner.

    Der Copilot stellte die Reisetasche auf den Boden, tippte mit der Hand kurz an seine Mütze. »Vielleicht ein andermal, tanti auguri!«

    Sie legte ihren Mantel auf die Tasche und holte das Lederetui mit dem Paß aus ihrer Handtasche. Der Beamte nahm den Paß mit einem wohlwollenden Nicken, aber als er ihn aufschlug, verfinsterte sich seine Miene. Er blätterte vor und zurück. »Ich sehe kein Visum.«

    »Aber es muß ein Visum dasein.«

    »Ein abgelaufenes. Seit einem Jahr abgelaufen.« Der Mann von der Zollkontrolle war mit dem Zivilisten fertig. Er trat zu seinem Kollegen. Sie betrachteten gemeinsam das Dokument. Der Zollbeamte deutete auf eine Stelle, dann richtete er den Blick auf die Frau.

    »Canossa?« Sie nickte, ohne zu verstehen, was ihr Mädchenname mit der Sache zu tun hatte.

    »Kein allzu häufiger Name.« Der Zöllner forschte in ihrem Gesicht. »Enrico Canossa, der Flieger – sind Sie vielleicht verwandt mit ihm?«

    »Er war mein Vater.« In dem Lederetui, in dem der Paß steckte, gab es auch ein Fach mit einer vergilbten Fotografie: das Flugfeld von La Spezia. Ein Doppeldecker. Ein großer Mann im Fliegeroverall mit langem Schal, in den Händen die Lederkappe und die große Brille. Ein Mädchen, nicht älter als zehn, steht neben ihm, blickt zu ihm auf – sie selber.

    »Ihr Vater, der große Enrico Canossa!«

    Sie hätte dem Mann eine Freude gemacht, wenn sie ihm das alte Foto gezeigt hätte, aber sie nickte nur. »Ja.«

    »Il comandante! Ich habe ihn noch fliegen sehen. September 1920, Venedig ... Warten Sie ... Er flog die SIAI-Savoia S 12 ... vierteilige Schraube. Wendemarke zwei Ballone. Er gewann das Rennen ...« Er unterbrach sich und flüsterte seinem Kollegen etwas zu. Sie sah, wie der Paßbeamte das Lederetui zuklappte. Dann gab er es ihr zurück. »Sie müssen sich ein Visum besorgen.«

    Sie steckte den Paß zurück und wollte den Verschluß der Reisetasche öffnen. Der Zöllner winkte ab. Sie war erleichtert. Die Tasche enthielt nicht viel Wertvolles, außer dem Schmuck vielleicht, den sie geerbt hatte. Der Inhalt war typisch; jeder in Berlin hatte so eine Tasche bereit, die man sofort ergreifen konnte, wenn die Alarmsirenen aufheulten und man in den Keller lief: die Papiere, die Lebensmittelkarten, Geld, Schmuck, Dinge, an denen man hing. In ihrem Fall war das ein Bündel Briefe ihres Bruders Gianni, die Kuverts mit einem Band zusammengehalten, die Briefe auf grauem Feldpostpapier, zerknittert und brüchig vom vielen Lesen. Das waren ihre gesamten Andenken an Berlin. An neun Jahre Leben.

    Ihr Mann hatte noch ein Nachthemd hineingestopft, den Kulturbeutel – was für ein schreckliches deutsches Wort! –, ein Paar Hausschuhe. Ihr war erst am zweiten Tag in der Klinik aufgefallen, daß er den Männern vom Roten Kreuz die Tasche mitgegeben hatte. Er selbst war nicht mitgefahren, natürlich nicht. Er hatte auch nicht in der Klinik angerufen. Jedenfalls erwähnte es niemand.

    Die Tasche – sie hatte ihr plötzlich die Chance zur Flucht eröffnet, der lange geplanten, immer wieder vereitelten Flucht. Die Tasche und Giannis Anruf. Sie war nicht mehr in das Haus in Spandau zurückgekehrt ... Sie würde sich neue Kleider anschaffen müssen ...

    Der Zollbeamte hatte seinen Hymnus auf den großen Flieger Enrico Canossa wieder aufgenommen. Geschwindigkeitsrekorde, Fernflüge, Flugzeugtypen. Er begleitete sie zur Schwingtür. Die Halle lag ausgestorben da. Er streckte ihr die Hand hin. »War mir eine Ehre, die Tochter des comandante Canossa kennenzulernen.«

    Die Reisetasche in der linken Hand, über dem rechten Arm den Mantel, stand sie da und blickte sich suchend um. Sie sah niemand. Die Schalter der Lufthansa und der beiden italienischen Linien, der ALI und der LATI, waren geschlossen. Über dem Informationsschalter brannte ein trübes Licht, das jetzt auch erlosch. Ein grauhaariger Mann kam hinter der Theke hervor und strebte dem Ausgang zu.

    Sie rief ihm nach. Er blieb stehen, ein Mann, der seinen Dienst beendet hatte und heimwollte. »Was gibt’s?«

    »Hat hier niemand gewartet?«

    Ein Kopfschütteln. »Ich muß den Bus erreichen.«

    »Ich sollte abgeholt werden.«

    »Hier war niemand.«

    »Kommt noch ein Flug?«

    »Sicher nicht!«

    »Hat jemand eine Nachricht hinterlassen? Eine Nachricht für ...« sie zögerte »... für Maria Canossa.«

    »Ich weiß von keiner Nachricht.« Sein Blick ging zu der Wanduhr. Sie zeigte halb zwölf. »Sie wollen in die Stadt? Das ist der letzte Bus.«

    »Aber es muß eine Nachricht dasein.«

    »Tut mir leid ...«

    »Kann ich telefonieren?«

    »Signora, der Bus wartet nicht! Wenn er weg ist, sitze ich hier die ganze Nacht fest. Und Sie auch.«

    »Kann ich hier ein Taxi bekommen?« Er schüttelte den Kopf und eilte davon.

    Sie zögerte. Dann folgte sie ihm. Die Reisetasche erschien ihr plötzlich sehr schwer. Der Mantel glitt ihr vom Arm, fiel zu Boden. Sie bückte sich danach. Als sie sich aufrichtete, zitterten ihr die Beine. Sie hatte die ganzen neun Stunden nichts gegessen außer etwas Schokolade, nichts getrunken außer einem Schluck Wasser. Ihr Mund war ausgetrocknet; sie fühlte sich fiebrig. Sie öffnete ihre Kostümjacke. Der Geruch ihres eigenen Körpers störte sie plötzlich.

    Es wurde noch schlimmer, als sie ins Freie trat. In der milden Luft wurde der Geruch noch unerträglicher. Es war ihr eigenes Eau de Cologne. Im Gürtelband steckte das Taschentuch, das damit getränkt war. Seit Jahren benützte sie dieses Eau de Cologne; es hatte immer zu ihr gepaßt. Jetzt zog sie das Taschentuch aus dem Rockbund und warf es fort. Ich muß mir etwas Neues zulegen, dachte sie, gleich morgen. Es war ein überraschender Gedanke. Morgen. Ein neuer Duft. Der Gedanke tat ihr gut.

    3

    Der graugrüne Bus hatte die Türen schon geschlossen. Sie begann zu laufen. Sie konnte niemand im Innern erkennen, nur dunkle, glänzende Scheiben. Das klobige Fahrzeug setzte sich in Bewegung – Maria blieb stehen, winkte, gab Zeichen – und stoppte wieder. Weißer Qualm entströmte dem Holzvergaser. Eine Hand streckte sich ihr entgegen, als die vordere Tür aufging. Sie blickte in das lächelnde Gesicht des Copiloten. Er wirkte frisch und ausgeruht. Er mußte Zeit gefunden haben, sich in einem der Waschräume des Flughafens zu rasieren.

    »Nett, Sie wiederzusehen!«

    »Vielen Dank.«

    Sie suchte in ihrer Handtasche nach Kleingeld für das Billett, aber er war schneller. »Stazione aerea Roma?« Sie nickte, und er bezahlte den Fahrer. Erst in diesem Moment dachte sie daran, daß sie überhaupt kein italienisches Kleingeld bei sich hatte, nur die großen Noten, in einem Seitenfach der Handtasche.

    Der Bus war so leer wie vorher das Flugzeug. Nur die zwei Lufthansa-Piloten, der eine Passagier aus Berlin in Zivil, der grauhaarige Mann vom Informationsschalter und zwei Frauen. Die Zöllner und Paßbeamten lebten vermutlich draußen am Flughafen.

    Sie hatte den Platz hinter dem Fahrer gewählt und mit der Reisetasche und dem Mantel den Sitz neben sich belegt. Der Copilot hatte den Wink verstanden. Er saß in der anderen Reihe, so daß der Gang zwischen ihnen war. Sie fühlte, wie er sie beobachtete, aber sie reagierte nicht.

    Es war warm im Bus, eine andere Wärme als im Flugzeug. Vielleicht lag es an der Sonne, in der er tagsüber gestanden hatte. In Berlin war es naßkalt gewesen; auf dem Flugplatz hatte es gestürmt. Sie hatte ihr Hütchen festhalten müssen und war durchfroren in die Maschine gestiegen. Dazu die Angst, daß im letzten Augenblick etwas dazwischenkommen könnte ...

    Der Fahrer vor ihr summte eine Melodie. Es war eine einfache, schwermütige Tonfolge, die sich immer wiederholte. Sie weckte eine Erinnerung: ihr Vater – im Frack noch größer als sonst – und sie im weißen Rüscheinkleid in der Loge, über deren Brüstung sie kaum hinwegsehen konnte. Er liebte die Oper, Verdi vor allem ... Was der Fahrer summte, war aus einer Verdi-Oper. »Othello.« Ihr fielen auch die Worte ein: Egli era nato per la sua gloria, io per amar. Er war geboren zu seinem Ruhme, ich, ihn zu lieben ...

    Sie beugte sich zum Fenster, schirmte

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