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Der Saboteur: Was passiert, wenn Geschichte sich wiederholt?
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eBook315 Seiten4 Stunden

Der Saboteur: Was passiert, wenn Geschichte sich wiederholt?

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Über dieses E-Book

Was passiert, wenn Geschichte sich wiederholt?
Überschwemmungen, Missernten und Kämpfe um fruchtbaren Boden. In höchstet Not sind in den letzten Jahrzehnten tausende Menschen nach Schweden geflohen, vor allem Deutsche. Bald darauf erlangt ein totalitäres Regime die Macht über einen Teil von Schweden, führt Krieg um neuen Lebensraum zu erobern und deportiert Deutsche, sowie andere Staatsfeinde in sogenannte Arbeitsanstalten.
In dieser Zukunft lebt der 19-jährige Alexander. Er kann erreichen, nicht ins Militär eingezogen zu werden, aber im Gegenzug muss er in einer dieser Arbeitsanstalten als Aufseher arbeiten.
Dort lernt er einen der Insassen genauer kennen. Nach dieser Begegnung verändert sich für ihn alles...

Eine Erzählung die ihren Fokus nicht auf dystopische Zukunftsweltbilder legt, sondern von der Beziehung zwischen einem Gefangenen und seinem Wächter erzählt, seinem Helden beim moralischen Wachsen begleitet und sich die Frage stellt, was ein Funken Gutes an einem Ort des Schreckens schaffen kann.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum1. Apr. 2022
ISBN9783347510395
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    Buchvorschau

    Der Saboteur - Leander Bauer

    Die sydlänische Republikspost am 01. 01. 01: »Aufbruch in ein neues Zeitalter

    Nyastad. Unter tosendem Jubel der sydlänischen Bevölkerung läutete der Präsident Nicholas Gustafsson den Beginn eines neuen Zeitalters ein.

    Das neu ernannte Oberhaupt des Volkes von Sydlan trat in der gestrigen Silvesternacht, unmittelbar nach seiner Amtseinführung, auf den Balkon des Parlaments, um seine Ernennung zu feiern. Mit Gesängen, Fackeln und sogar Feuerwerk wurde der neue Herrscher von Tausenden begrüßt. Millionen verfolgten das Jahrtausender-eignis im Internet. In seiner Rede an die Nation versprach unser künftiger Anführer, die sydlänische Republik zu beschützen, wörtlich, sie »bis aufs Blut zu verteidigen, vor den Kriminellen, die sekündlich ver-suchen, die Mauern an der Ostsee zu passieren«.

    Gustafsson sprach von einem Sieg. Einem Sieg nicht nur für Sydlan, sondern für alle Staaten des ehemaligen Schwedens, von einem Sieg für die gesamte skandina-vische Gattung.

    Unter seiner Regentschaft versprach der neue, erste Mann, könne die Gesamtheit der nordischen Völker wieder zu alter Stärke und altem Glanz zurück-finden. Diese Ära des Glanzes, so Gustafsson weiter, werde noch heute Nacht mit dem Beginn des neuen Jahres eingeläutet. So werde ab Neujahr eine neue Zeitrech-nung gelten. Demnach ist am ersten Januar der erste Tag, des ersten Monates, des ersten Jahres einer neuen Ära.

    »Heute, am 31. Dezember hat Sydlan sein Schicksal erfahren«, sprach der neue Präsident, »Wir holen uns unser Land zurück!« Seine Rede beendete der ambitionierte Anführer mit den Worten »Es lebe Sydlan!«, woraufhin die Uhren auf 0 Uhr sprangen und lautstark gefeiert wurde.

    I.

    Da ist dieses Funkeln und ich habe Angst davor.

    Wieder kneift er die Augen zusammen, seine Pupillen verengen sich und sie gleichen einem tiefschwarzen See, aus dem in jedem Moment ein Ungeheuer springen könnte.

    Da ist wieder dieses Funkeln, spiegelt sich im schwarzen Wasser wie ein einschlagender Blitz. Und gleich wird wieder der Donner kommen.

    »Feststeht, dass ich mir nicht weiter ansehen kann, nein, dass ich mir nicht weiter ansehen werde, wie mein Sohn hier herumschlurft, Papier beschmiert und verfault!« »Erik, er verfault nicht…«

    Ich drehe meinen Kopf etwas zur Seite, um meine Mutter durch das Schlüsselloch sehen zu können.

    »…Er hilft mir im Haus«, ergänzt sie mit dünner Stimme.

    »Er hilft im Haus… Er ist doch kein Weib! Deinetwegen habe ich mich dafür eingesetzt, dass er nicht eingezogen wird. Weißt Du, in wie viele Ärsche ich dafür kriechen musste?! Weißt Du das?! Ich wusste von Anfang an, das ist Schwachsinn. Jeder junge Mann dient seinem Vaterland und mein Sohn nicht?!«

    Der schwarze See wird wieder größer, wie eine Springflut, welche die braune Erde um sich herum frisst.

    »Mein Sohn nicht?!«, wiederholt er und sein Ton wird bedrohlicher. Stille. Dann der ehrfürchtige Blick von Mutter zu Vater.

    »Bitte schick’ ihn nicht an die Front«, fleht sie, aber ihre Augen, die nur noch den Boden anstarren, verraten, dass sie schon aufgegeben hat. Wieder Stille. Eine ewige, bedrückende Stille, die das Blut in meinen Adern gefrieren lässt. Beinahe wünsche ich mir, dass Vater wieder anfängt zu schreien, nur damit ich diese Stille nicht mehr ertragen muss. Aber er muss nicht schreien, er müsste nicht einmal flüstern, denn ich weiß, was er denkt, als er sich auf den Küchentisch stützt, die graugrünen Hemdsärmel hochgekrempelt, und seine Frau anstarrt, mit gerunzelter Stirn und eisigem Blick. Der See ist zugefroren. Ich kann seine Gedanken sehen und Mutter kann es auch.

    Erst einmal in meinem Leben habe ich ein Gewehr in der Hand gehalten. Vater hatte es mir in die Arme gedrückt, als 11-jähriger Junge. Wahnsinnig stolz wäre er sicher gewesen, wenn ich es in der Hand gehalten hätte, aber kaum berührt, hatte ich es schon in einem Anfall von Panik auf den Schreibtisch geworfen, ein Schuss hatte sich gelöst und einen Blumentopf zerschellen lassen, was mein Verhältnis zu Gewehren nicht gerade verbesserte.

    Ich weiß nicht, was so schrecklich daran war, das Teil zu halten, vielleicht einfach die Gefahr, die davon ausging und die damit verbundene Macht, die ich besaß, mir aber gar nicht zutraute. Wie wird es sein, wenn ich Tag für Tag ein Gewehr in der Hand halten muss und sogar schießen, auf Menschen schießen muss? Oder werde ich nicht mal einen Tag überleben und direkt Kanonenfutter der Russen werden?

    »Es gibt da noch etwas anderes…« Vater hat seinen Blick gelöst und schreitet nun durch den Raum.

    »Du kennst doch noch Herrn Smit«

    »Der Kerl, der an deinem Geburtstag diese komische Rede gehalten hat?«

    »Ja, genau. Smit leitet eine Arbeitsanstalt, 20 Kilometer von hier. Er und seine Männer verrichten wichtige Arbeit, verstehst Du?«

    »In der Anstalt kümmern sie sich um die ganzen Deutschen, oder?«

    »Genau, ich könnt’ ihn fragen, ob Alexander dort arbeiten kann, dann tut er was für’s Land und muss nicht an die Front«

    »Das klingt doch gut«, sagt Mutter, aber ihre Sorgen-falten verschwinden nicht.

    Abschlusspapier der Nyastader Konferenz

    PP-Oberoffizier Arvid Hellström

    Ministerium für Republiksicherheit

    Senator Malte Blom

    Ministerium für Inneres

    Generalsekretärin Linda Olofsson

    Parteikanzlei

    PP-Oberoffizier Sven Toprak

    Parteipolizei

    PP-Unteroffizier Elliot Jakobsson

    Parteipolizei

    PP-Unteroffizier Tarik Lindberg

    Parteipolizei

    Republiksekretär Benjamin Fabre

    Gattungs- und Siedlungsamt

    Dr. August Johanson

    Vorsitzender der Polizei Sydlan Unter dem Vorsitz von PP-Oberoffizier Malte Blom fand am 10. Januar 01 eine Besprechung mit weiteren Beamten des Ministeriums für Republiksicherheit sowie hochrangigen Mitglieder der Parteipolizei (kurz: PP) über die einstweilige Lösung der »Ausländer-frage« statt.

    Zu Beginn der Sitzung teilt Senator Hellström mit, dass er beauftragt worden sei, die Lösung der »Ausländerfrage« vorzubereiten. In dieser Besprechung gehe es ihm darum, sämtliche Grundsätze diesbezüglich zu klären. Als Ziel der Lösung benennt der Senator, den sydlän-ischen Lebensraum, sowie den gesamten skandinavisch- en Kontinent auf legale Weise von Voll- und Teil-Migranten (im folgenden nur »Deutsche« genannt) zu säubern. Grundlage dafür sind die Köpinger Gesetze.

    Als Teilziele werden in Absprache mit allen Anwesen-den folgende festgelegt:

    a. Die Zurückdrängung der Deutschen aus den einzelnen Lebensgebieten des sydlänischen Volkes.

    b. Die massenhafte Auswanderung von Deutschen.

    Einstimmig wird festgehalten, dass die Kosten sämtlich-er Maßnahmen, die zur Erreichung der Ziele getroffen werden, von den Verursachern, also den Deutschen, finanziert werden müssen.

    Anstelle der Auswanderung ist, nach vorheriger Ge-nehmigung des Ministeriums für Republiksicherheit, aber auch eine Evakuierung von Deutschen möglich. Unter entsprechender Leitung sollen diese Evakuierten in geeigneter Weise zum Arbeitseinsatz kommen. In großen Arbeitskolonnen, unter Trennung der Geschlech-ter, werden arbeitsfähige Deutsche in sogenannten Arbeitsanstalten nach Karlsfelder Vorbild unterge-bracht, in welchen verschiedene Arbeiten zu verrichten sind. Zweifellos wird dabei ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen.

    Der Aufbau solcher Anstaltstrukturen soll unter Führung der Parteipolizei (PP) mit Unterstützung des Ministeri-ums für Republiksicherheit und der sydlänischen Polizei geschehen.

    Mit dem Beschluss, dass die PP dafür eine eigene Abteilung gründen wird, wird die Konferenz beendet.

    gezeichnet Theo Hjalmar, Protokollant

    II.

    Zwei Wochen später finde ich mich vor einem großen Eisentor wieder. Es markiert den wohl einzigen Eingang einer Betonfestung, umrahmt von einer locker sechs Meter hohen Mauer, geziert mit Stacheldraht und ebenfalls aus grauem Beton. Der Oktober stiehlt sich mit eisigen Windstößen unter meine dünne Jacke.

    Möglicherweise ist er der Vorbote des kalten Winters, den die Wetterforscher vorhersagen. Aus Langeweile wühle ich in meiner Hosentasche und krame eine Münze hervor. Zwei Benz. Das ist genug, um ein Brötchen im Supermarkt zu kaufen. Nein. Das war genug, um ein Brötchen zu kaufen, denn seit ziemlich genau drei Jahren kauft keiner mehr Brötchen. Die Ernährung wird seitdem zentral organisiert. Aufgrund der Nahrungs-mittelknappheit wird alles genauestens rationiert, jeder Bürger soll gleich viel Nahrung bekommen. Jeden Montag fahren blaue Transporter durch die Stadt und verteilen das wöchentliche Nahrungspaket.

    Nur deutsche Haushalte werden dabei ausgelassen, die bekommen ihr Brot vom Schwarzmarkt.

    Im Zuge der ganzen Nahrungsverteilung hat die Partei auch gleich das Bargeld abgeschafft, ich könnte mir von meiner Münze also nicht einmal mehr ein Bahnticket kaufen. Dafür müsste man dann zusätzlich noch CO2-Punkte bezahlen. 500 Punkte bekommt jeder, jeden Monat, und muss sie sparsam einsetzen. Bahn fahren ist vergleichsweise billig, das kostet einen halben Punkt pro 50 Kilometer, aber Leute, die ein Auto haben oder vergleichsweise viele Verbrauchsprodukte kaufen, müssen damit rechnen, dass das Budget zum Monats-ende knapp wird. Darum muss ich mir aber gerade keine Sorgen machen. Meine reichen noch so gut aus, dass ich nicht mal aus dem Kopf heraus sagen könnte, wie viele es noch sind.

    Obwohl sie mir nichts bringt, drehe ich die dünne, silberfarbene Münze zwischen meinen Fingern hin und her und erinnere mich an die Kupferschale dieser einen Eisdiele, in die ich als Kind so viele silberfarbene Münzen fallen gelassen habe. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Jetzt erinnere ich mich schon selbst an meine Mutter, die bei jeder Gelegenheit einen blau bedruckten Zwanzig-Kronen-Schein aus ihrem Geld-beutel herausholt und sagt:

    »Vor 20 Jahren konnte man damit noch alles kaufen!«. Daraufhin fängt sie sich meistens einen bösen Blick von Vater ein, der dann erwidert:

    »Sei froh, dass Du in einem Staat lebst, dem Gerechtig-keit noch etwas bedeutet. Jeder bekommt das Gleiche und zahlt das Gleiche. Das ist doch nur gerecht, oder?«

    Eigentlich stimmt das. Die Nahrungsverteilung ist fair, auch wenn sich am Ende der Woche meistens Hunger breit macht und ich Hirse langsam nicht mehr sehen kann.

    Vielleicht ist das, was fair ist, aber meistens auch unbequem. Generell haben wir trotz all der Umstände Glück mit unserer Regierung. Immerhin ist sie die erste, die sich wirklich ernsthaft um den Klimaschutz kümmert und darum, dass es nicht zu viele werden, die sich um das bisschen Nahrung streiten.

    Ich wühle weiter und stoße auf einen kleinen Zylinder. Etwas unbeholfen hole ich ihn heraus und fahre mit meinem Daumen die Mantelfläche entlang. Daraufhin entrollt sich der Zylinder zu einem rechteckigen Bildschirm und öffnet den Startbildschirm.

    »Kamera«, befehle ich dem Gerät gelangweilt. Die Innenkamera poppt auf und ich betrachte meine Haare. Mutter hat mir irgendeine Paste reingeschmiert, weil sie meint, ich sehe damit besser aus. Offenbar findet sie Igel attraktiv, denn meine braunen Haare stehen, wie Borsten, in alle Richtungen ab. Als ich versuche das Chaos auf meinem Kopf ein wenig zu beseitigen, ertönt plötzlich ein schriller Ton und das Tor öffnet sich quietschend. Dahinter erstreckt sich der zweistöckige Betonbau, welcher mit seinen Mauern eine lange Kiesauffahrt umrahmt. Eine Frau, Anfang vierzig, schreitet diese schnellen Schrittes entlang und kommt direkt auf mich zu. Sie trägt eine ähnliche Uniform wie mein Vater, wenn er arbeiten geht. Zwei Meter vor mir bleibt sie stehen und nickt ruckartig mit dem Kopf, ich nicke zurück.

    »Sie sind Alexander Berger?«, fragt sie. Wieder nicke ich.

    »Wunderbar. Ich bin Katharina Lund, für Sie Frau Lund, wenn das in Ordnung ist. Folgen Sie mir« Sie dreht sich um und ich tapse hinter ihr die Auffahrt hoch, in Richtung des Betonkomplexes. Auf dem Weg passieren wir einen weiteren, deutlich kleineren Bau mit Flachdach, aus dem Metallkisten auf einen kleinen Transporter verladen werden. »Gar nicht beachten«, ruft die grau-grün uniformierte Frau, als ich meinen Schritt verlangsame, um die Schrift auf den Kisten zu entziffern. Hastig setze ich mich wieder in Bewegung und glaube ›schmuck‹ auf einem Etikett gelesen zu haben. Frau Lund führt mich durch eine Brandschutztür herein in den großen Betonbau. Wir stehen in einer Art Foyer, das weiß verputzt ist, kleine, vergitterte Fenster und einen schmalen Tresen hat. Hinter diesem nimmt die Dame Platz und presst ihren Daumen auf eine Schalt-fläche. Daraufhin höre ich draußen das Tor quietschen. Während sich das Tor schließt, blättert sie in einem schwarzen Aktenordner, kritzelt hier und da etwas auf bedrucktes Papier.

    Verdutzt stehe ich da und warte darauf, dass irgendetwas passiert.

    »Orangensaft. Wo haben Sie den denn her?«, bemerke ich überrascht und deute auf eine halb gefüllte Glasflasche, die neben Frau Lund steht. Sie blickt vom Ordner hoch und lächelt steif.

    »Bekommen wir jeden Morgen geliefert. Ich bin süchtig nach dem Zeug. Noch besser wäre natürlich frisch gepresster Saft, aber echte Orangen habe ich seit Ewig-keiten nicht mehr gesehen«

    Ich finde, sie sollte sich nicht beschweren. Uns hat der blaue Transporter seit zwei Jahren nichts anderes als Wasser zum Trinken gebracht.

    Frau Lund schlägt den Ordner zu und schaut dann zu mir hoch.

    »Sie müssten mir bitte noch ihr Handy geben, hier drinnen sind keine technischen Geräte erlaubt, deshalb arbeiten wir hier auch alle mit Papier« Sie deutet auf den geschlossenen Aktenordner.

    »Ähm, okay«, entgegne ich etwas verunsichert, greife in die Hosentasche und drücke ihr mein Handy in die Hand.

    »Gut, Herr Berger, dann gehen Sie bitte den Flur entlang und die Treppe hoch. Oben, hinter der zweiten Tür rechts, werden Sie Herrn Smit antreffen«, erklärt sie, während sie mein Handy in einer Schublade verstaut.

    »In Ordnung«, sage ich und setze mich in Bewegung.

    Kurz darauf klopfe ich an eine Holztür, auf der in goldenen Lettern ›gruppenoffizier‹ geschrieben steht. Ohne die Hilfe eines jungen Mannes in Uniform, dem ich an der Treppe begegnet bin, hätte ich sie nicht gefunden.

    »Ja!«, ruft eine tiefe gedämpfte Stimme und ich drücke die Klinke herunter. Der Raum, in den ich eintrete, ist bizarr eingerichtet. Es ist ein großes, irgendwie düster wirkendes Büro, was vielleicht daran liegt, dass der Großteil der Wände mit schwarzen Regalen bedeckt ist, die bis zum Rand mit Ordnern und Büchern vollgestellt sind. Bizarr sind auch die Möbel, die das Büro schmücken. In den beiden Ecken nahe der Tür befindet sich jeweils eine Couch, überzogen mit gelblichem Leder. Die unterschiedlichsten Symbole sind auf ihr abgebildet: Anker, Herzen, Kunstvolle Schriftzüge und so weiter. Vor diesen Sofas stehen unförmige Kaffee-tische aus dunklem Holz. Aus demselben Holz gefertigt ist wahrscheinlich auch der antike Schreibtisch, auf dem Soldaten mit Pferden abgebildet sind. Dahinter steht ein Mann mit Glatze.

    »Guten Tag, Alexander!«, sagt er, nickt zur Begrüßung und öffnet eine Schublade. Ich trete näher an ihn heran. »Setz’ dich ruhig« Ich folge der Aufforderung und lasse mich auf den Stuhl gegenüber seines Schreibtisches fallen.

    »Bist Du gut hergekommen?«, fragt Smit freundlich. »Ja. Mein Vater hat mich gefahren«

    »Ach ja, der gute Erik, grüß’ ihn auf jeden Fall von mir. Tja, Alternativen zum guten, alten Auto gibt’s für den Weg hierher wirklich kaum, aber hier, am Waldrand, wohnt ja auch fast keiner« Ich lächele unsicher.

    »Gut, Alexander, was soll ich groß sagen..« Er legt eine Art Mappe aus Pappe auf den Tisch,

    »Was denkst Du, was wir hier machen und was vermutest Du, werden hier in Zukunft deine Aufgaben sein?« Ich räuspere mich.

    »Naja, das hier ist eine Arbeitsanstalt, in der Deutsche und andere, ja ähm…, arbeiten«

    »Ja, ja, im Großen und Ganzen ist es das«, entgegnet Smit. »Deine Aufgabe als Aufseher ist es lediglich dafür zu sorgen, dass die Arbeiter das tun, was Sie tun sollen. Das heißt dafür Sorge zu tragen, dass alle arbeiten, so wie es der Ablaufplan vorgibt. Der wird jeden Morgen auf dem Protokollplatz verlesen. Näheres wird dir gleich… Wie heißt er nochmal?«, er kneift seine Augen zusammen und tippt auf dem Tisch herum.

    »Ach ja, Aaron Engström. Also, Engström wird gleich mit dir übers Gelände gehen und dir alles hier erklären. Er wartet unten an der Treppe auf dich und wird dir deinen Spind zeigen. Jetzt brauche ich hier noch eine Unterschrift von dir und dann kannst Du loslegen« Smit schiebt die Mappe, welche einen Arbeitsvertrag beinhal-tet, zu mir herüber und drückt mir einen Kugelschreiber in die Hand.

    »Soll ich den jetzt schon unterschreiben?«, frage ich überrascht.

    »Nur zu«, ermutigt mich Smit und lächelt breit. Ich überfliege den Vertrag und unterschreibe ihn dann. »Sehr gut, das war’s dann. Wie gesagt, Ekström wartet unten an der Treppe auf dich«

    »Heißt er nicht Engström?«, hake ich nach.

    »Mein’ ich doch!«, erwidert Smit. Ich stehe auf und gehe zu Tür.

    »Ach eins noch, Berger…«

    »Ja?«

    »Ich habe Sie direkt in den Rang eines Aufsehers erhoben, den Volontär können wir ruhig überspringen, ich weiß ja welches Blut in ihren Adern fließt«, ergänzt Smit und zwinkert.

    »Wow, was sagt man dazu«, entgegne ich und versuche so etwas wie Freude vorzuspielen.

    »Am besten Dankeschön« Smit lächelt.

    Unten an der Treppe wartet tatsächlich jemand auf mich. Es ist der Mann, der mir bereits den Weg in Smits Büro erklärt hat. Er ist etwa 1,80 Meter groß und hat lockige, schwarze Haare. Überraschenderweise sieht er ziemlich jung aus, er ist kaum älter als ich, vielleicht 21, was eigentlich bedeuten müsste, dass er sich gerade in irgendeinem U-Boot oder Schützengraben im Osten befinden müsste.

    »Du bist Alexander Berger?«

    »Und Sie Herr Engström?«, entgegne ich schüchtern. »Aaron und Du reicht völlig. Komm’ mit, wir gehen zu deinem Spind«

    Als wir den kaltweiß beleuchteten Flur entlanggehen, fällt mir auf, dass Aaron an der rechten Hand zwei Finger fehlen. Sein Daumen und Zeigefinger sind ampu-tiert worden, was wohl auch zu seiner Ausmusterung geführt hat. Wir bleiben stehen und gehen dann durch eine Tür, auf der ›aufseher (spinde)‹ steht.

    »Deiner ist die 59«, erklärt Aaron und wartet an der Tür. Am anderen Ende des Raumes finde ich meinen Spind, er scannt mein Gesicht, verlangt danach meinen Fingerabdruck und öffnet sich dann.

    »Woher hat der meinen Fingerabdruck?«, frage ich verblüfft.

    »Keine Ahnung. Wahrscheinlich aus der Datenbank, ist doch auch egal«, ruft Aaron aus dem Flur. Im Spind befindet sich eine graugrüne Uniform mit Schulterklap-pen, einer Mütze in derselben Farbe und einer schwarzen Armbinde, auf welche die gelbe Sonne der Partei gedruckt ist. Ich ziehe alles an, die Uniform ist ein wenig zu groß, und kehre zu Aaron zurück. Der starrt mich mit seinen haselnussbraunen Augen an und runzelt leicht die Stirn.

    »Das ist ‘ne Aufseher-Uniform« Ich schaue an mir herunter. Aaron kommt näher und tippt auf meine Schulterklappe.

    »Die hat zwei Goldstriche - Hat Smit dich direkt zum Aufseher ernannt?«, fragt er skeptisch.

    »Ja, ich glaub’ schon« Ich zucke die Achseln und sehe ihm dann in die Augen. Sie sind weit aufgerissen, als ob sie sicherstellen wollen, dass sie alles auch richtig sehen. Außerdem sind sie leer, leer vor Fassungslosigkeit. Die hält aber nur kurz an, denn im nächsten Moment verengen sich Lid und Pupille und ein leichtes Funkeln tritt in seine Augen.

    »Gut«, bemerkt er dann deutlich kühler, »dann laufen wir mal übers Gelände«

    Wir gehen zurück in den Flur, dann durch eine weitere Brandschutztür und ein Tor, das Aaron mit einer Schlüsselkarte öffnet.

    »Deine bekommst Du morgen von Frau Lund«, erklärt er mir und hält die Plastikkarte ein Stück in die Luft. Durch die Tür schreiten wir nach draußen. Die Sonne blendet mich heftig, sodass ich meine Hand vor die Augen halten muss.

    Es ist, als wären wir durch die Tür geradewegs in ein vergangenes Jahrhundert spaziert, wie mit einer Zeitma-schine. Vor uns liegt ein großer Platz, der durch seine enorme Länge einem minimal mit Gras bewachsenem Korridor ähnelt. In Zweierreihen erstrecken sich etliche Backsteinhütten über den gesamten Platz. Ein beißender Geruch steigt mir in die Nase, man hat das Gefühl in das Becken einer Kläranlage eingetaucht zu sein.

    »Wir sind hier im Männerblock, der umfasst die Unter-künfte B1 bis B22«, erklärt Aaron und läuft mit mir den Flur zwischen den Hütten entlang. Die länglichen Behausungen sehen ziemlich unförmig aus, einige wirken etwas windschief und vereinzelte Backsteine stehen ein wenig zu weit aus dem Rest des Gefüges heraus. Zwischen den Steinbaracken sind immer wieder Blechbehältnisse angebracht, ähnlich einer Tiertränke, die bis zur Hälfte mit tiefbraunem Wasser gefüllt sind. Plötzlich schießt ein kleines Wesen hinter einem der Blechbehälter hervor. Es ist eine Katze mit schneeweiß-em Fell und eisblauen Augen, die mit ihren Pfoten im verdorrten Gras herumwühlt.

    »Das ist Elisa. Die ist ganz praktisch, wir haben hier sauviele Ratten«, erklärt Aaron, während er mit mir vor den Hütten entlangläuft,

    »Die meisten Arbeiter sind am Tag in den Volvo-Werken für die Kriegsproduktion. Manche arbeiten aber auch im Steinbruch, da hinten auf’m Hügel. Außerdem haben wir hier in der Anstalt noch ein Recyclingwerk und ein paar kleine Werkstätten und Fabriken«, fährt Aaron fort und steigt die Holzstufe zur Tür der Behausung B7 hinauf. Dann zückt er einen Schlüssel und dreht ihn durch das Türschloss der schweren Metalltür. Dass die Schlüsselkarte auch bei diesen improvisierten Hütten funktioniert, hätte ich auch nicht erwartet.

    »Hier drinnen kommen jeweils 48 Arbeiter unter, die Hütten werden über Nacht abgeschlossen, ab sieben Uhr abends herrscht Bettruhe« Die Tür springt auf. Ein beißender Geruch dringt mir in die Nase. Es riecht nach Mensch. Schweiß. Urin. Kot. In langen Reihen sind Etagenbetten aufgestellt, die schlicht aus vier Balken und zwei Holzplatten bestehen, welche spärlich mit Stroh gepolstert sind, sie ähneln eher langen Regalreihen als einem Platz zum Schlafen.

    »Das Holz für den Boden und die Betten kommt von kranken Bäumen, die sowieso gefällt werden mussten. Und auch die Steine für die Hütten sind alt, kommen aus alten Landhäusern«, versichert mir Aaron.

    Ganz am Ende des Raumes meine ich direkt an der Wand eine Erhebung zu erkennen, in die mehrere Löcher eingearbeitet sind. Wahrscheinlich kommt der Geruch von dort, die Erhebung scheint eine erbärmliche Toilette zu sein.

    Der Spaziergang durch die eigentliche Anstalt bereitet mir ein unwohles Gefühl in der Magengegend.

    »Ist ja wie bei den Nazis

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