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Urlaub von der Liebe
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eBook302 Seiten4 Stunden

Urlaub von der Liebe

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Über dieses E-Book

Heinrich Gundermann ist im Ersten Weltkrieg auf den Schlachtfeldern Galiziens gefallen. Die Eltern erhalten mit der Todesnachricht auch die Mitteilung, dass Heinrich drei Jahre vorher in aller Heimlichkeit geheiratet hat: die attraktive Sängerin und Schauspielerin Konstanze. Die junge Witwe kommt nach Berlin und lebt zunächst bei den Eltern Heinrichs, die sie freundlich aufnehmen. Sie verschweigt ihr Verhältnis zu dem Regisseur Gerhard Stein, dessen Geliebte sie, obwohl mit Heinrich verheiratet, weiterhin geblieben ist. Fritz, Heinrichs Bruder, kann ihren Reizen nicht widerstehen, und verliebt sich unglücklich in Konstanze, die mit Steins Hilfe eine Filmkarriere beginnt. Eines Tages erträgt Fritz, dem eine alte Freundin die Augen öffnet, Konstanzes falsches Spiel nicht mehr und möchte mit Gewalt eine Lösung erzwingen. Biografische Anmerkung Paul Felix Schlesinger (1878–1928), absolvierte zunächst eine Lehre als Textilkaufmann, entwickelte aber früh künstlerische Neigungen. Er befasste sich mit germanistischen, theater- und musikwissenschaftlichen Studien. Vor 1914 veröffentlichte er u.a. in "Licht und Schatten", in "Die Schaubühne" und im "Simplicissimus". 1911 bis 1912 arbeitete er als Ullstein-Korrespondent in Paris auf. Im Ersten Weltkrieg hielt er sich als Berichterstatter in der Schweiz auf und kehrte 1920 nach Berlin zurück. Als Feuilletonist schrieb er über den Alltag der Großstadt Berlin und war einer der bekanntesten Gerichtsreporter seiner Zeit.
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum25. Dez. 2015
ISBN9788711460733
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    Buchvorschau

    Urlaub von der Liebe - Paul Schlesinger

    Saga

    Die Nachricht von der Verheiratung ihres Sohnes Heinrich erhielten Gundermanns nicht vor jener anderen Meldung, die seinen Tod auf den Schlachtfeldern Galiziens verkündete. Der Verstorbene hatte die Wirkung der beiden Mitteilungen nicht gering eingeschätzt, vielmehr mit grosser Achtsamkeit Sorge dafür getragen, dass die Nachricht nicht zu unmittelbar vom Draht in die rote Tasche des Depeschenboten hüpfte und von dem nicht zu ungestüm auf flinkem Rade nach dem Olivaer Platz befördert wurde.

    Seit den ersten heissen Frühlingstagen hatte sich Heinrich die Eltern nicht anders als auf dem abendlichen Balkon vorstellen können. Und in seinem letzten Briefe hiess es noch:

    „Ich denke immer, es ist Abend, und Ihr sitzt in Eurem schmiedeeisernen Käfig bei elektrischer Beleuchtung. Es ist Abend, und Ihr seht nicht diese sonderbare Berliner, Charlottenburger, Wilmersdorfer Architektur, die — wenn Architektur gefrorene Musik — halbgefrorenes ‚Immer an der Wand lang‘ ist. Ihr seht nur die sonderbaren Spitzen und Profile sich in einen nicht gar so dunklen Nachthimmel schwarz einzeichnen, und dann seht Ihr die vielen anderen Tierchen in ihren elektrisch beleuchteten Käfigen. Wie sie Abendbrot essen, sich heiter oder sorgenvoll über die Zeitung hinweg unterhalten. Ihr seht die Pantomimen all dieser fremden Familien, und Mutter spintisiert sich Romane zurecht, aus dem Hinzutreten fremder Gestalten, aus dem plötzlichen Aufflammen der sonst toten Zimmerlichter. Ach ja, ich denke an die Tausende Berliner Käfige, und ich weiss erst, wie frei ich bin, obgleich es doch so lange her ist, dass ich entflog. Aber so frei wie jetzt war ich nie — wie jetzt, als der kaum sehr angesehene Gefreite eines Linien-Infanterieregiments, Kapellmeister a. D. des Kottbuser Stadttheaters — und immerhin gut genug, mitzumachen, mit Geist und Gliedern bereit — bereit für alles Mögliche —"

    Seit jenem Briefe sassen Gundermanns, auch wenn es die Kühle des Abends eigentlich nicht gestattete, auf dem Balkon, als könne der Gruss des Sohnes sie sonst verfehlen. Und genossen bei alledem die Beruhigungen der Generalstabsberichte. Der alte Herr mit den scharfen blauen Augen unter schwarzen dichten Brauen und hoher kahler Stirn wirbelte den kecken grauen Schnurrbart oder strich sich über die pralle, mit sorgfältig kurzgehaltenem Spitzbart bestandene Wange. Er war mit seinen Dreiundsechzig nicht in die Gefahr geraten, nachzudenken, ob er noch mittun sollte. Aber er spürte diese Dreiundsechzig weniger als sonst, mass dem mattbunten Krawattenfleck auf dem wohlgebügelten Grau unverminderten Wert bei und trennte sich nicht einmal von den weissen Gamaschen, die Mutter Mathilde entschieden zu jugendlich fand.

    Dachte Mutter Mathilde an die Romane fremder Familien? Ja, zuweilen, um Heinrichs Vorstellung zu genügen, und dann geriet sie allmählich an einen Punkt völliger Gedankenlosigkeit, aus der sie sich nur durch einen plötzlichen Zwang zu reissen vermochte. Sie wandte sich dann dem zweiten Sohne zu, der mit leidlich zerschossenem Arm unter der umgehängten Leutnantslitewka und einer tüchtigen Kugel im rechten Kniegelenk gesund und leibhaftig neben ihr sass, der aus Vaters leidenschaftlich blauen Augen in die Nacht hinausschaute. Die geraden, schmalen Lippen hielt er fest geschlossen. Für die Mutter hatte er sich ein Lächeln zurechtgelegt aus einer sehr fernen Empfindung. Und sie konnte dann auch noch dasselbe Lächeln hervorbringen, aus ihrer jungen Frauenschaft, als sie Fritz auf dem Schoss hatte. Es war ihr noch geblieben, als es hiess, mit Anmut zu ergrauen, und war in allen Schrecken auf ihren und auf Fritzens Lippen erstorben, um nur noch fern und erinnerungshaft manchmal wieder zu erscheinen. Wenn Mutter Mathilde aus ihrer Versunkenheit erwachte, stellte sich immer heraus, dass sie irgendeine Kleinigkeit vergessen, um die Fritz sie gebeten hatte. Nun wurde es in aller Hast und Bestürzung nachgeholt.

    Herr Robert Gundermann sah dann mit missbilligenden Augen seiner Frau nach und sagte in einem Ton, als wäre er der Sohn und nicht der Mann dieser Frau: „Mutter wird alt."

    Einmal erwiderte Fritz: „Sie denkt an Heinrich —"

    Und der Alte wurde unwirsch. „An gar nichts denkt sie. Sie bekommt es fertig, geradeaus zu schauen, vor sich hin und dabei zu schlafen."

    „Dann musst du sie aber auch lassen."

    Herrn Robert Gundermann ging so etwas nicht in den Kopf. Mathilde war doch sechs Jahre jünger und er durchaus noch kein Greis, gewiss nicht. Man hatte sein Geschäft, man sass fest im Sattel und betrieb es doch, trotz der Schwierigkeiten im Kriege, mit einer sorgsamen Ausnutzung aller plötzlich entstandenen Möglichkeiten. Und wenn er beim Geschäft war, konnte er dem Fritz gegenüber alles loswerden, was er auf dem Herzen hatte. Der hörte so genau zu und war im Urteil noch einige Grade vorsichtiger als der Vater selbst.

    „Die Aschbecher mit dem Eisernen Kreuz gehen rasend — es ist erstaunlich. Mir sind ein paar neue Stanzmaschinen angeboten worden."

    „Nimm sie nicht, Vater. Liefere ruhig ein paar Tausend weniger. Nur jetzt nicht erweitern, bevor man klar sieht."

    „Was soll man sehen —"

    „Die Konjunktur —"

    Der Alte pafft darauf los.

    „Wir haben die Konjunktur und erleben’s mal wieder, dass die Menschen sich nicht aus der Gewohnheit bringen lassen. Man ist hoffnungsvoll gestimmt, man hat vermehrte Gelegenheit, sich Geschenke zu machen."

    „Der Markt ist bis zum Platzen gefüllt, Vater. Je weniger wir den Leuten liefern, desto weniger bleiben sie uns schuldig. Die neue Konjunktur wird ganz anders aussehen. Und ich sage dir: Beim Wiederaufbau Ostpreussens wird das Kunstgewerbe —"

    „Aber ich bitte dich, Fritz, rede doch nur nicht davon! Das Kunstgewerbe ist dein Steckenpferd seit sieben Jahren."

    „Warum hast du mich was lernen lassen?"

    Der Alte wird immer unruhiger.

    „Nun, Fritz, ich habe dir den Gefallen ja auch mehr als einmal getan und habe alle möglichen Professoren für uns arbeiten lassen. Und der Erfolg? Zwei goldene Medaillen und dreissigtausend Mark draufgezahlt. Du nennst geschmacklos, was wir fabrizieren. Aber ich als Fabrikant habe nicht die Aufgabe, das Publikum zu erziehen. Das sollen die Schulmeister machen. Wir können nur anbieten, und was am meisten verlangt wird, das schmeissen wir auf den Markt."

    Fritz bleibt hartnäckig.

    „Ich rede nicht dafür, dass wir die Fabrik von heut auf morgen auf eine andere Tonart stimmen. Aber vorbereitet müssen wir sein auf eine Zeit, wo Fragen des Geschmackes nationale Angelegenheit sein werden. Sie sind es längst, und die Brüsseler Ausstellung war der erste Sieg dieses Krieges — ein Sieg nicht nur nach aussen. Auch nach innen. Das ganze alte Deutschland lag auf der Nase, und die Regierung hat einen Begriff davon, was sein könnte, was sein wird."

    Die beiden Gundermanns lieben diese Streitereien, die auf dem Boden innerer Ruhe erwachsen. Frau Mathilde hat nun getan, was sie versäumt. Sie sitzt mit einer Handarbeit dabei. Die Drei vergessen nicht, an Heinrich zu denken. Aber sie haben es sich abgewöhnt, das Schreckliche auszumalen. Sie reden vom Geschäft, auch weil Heinrich nicht dabei ist, und weil der Kapellmeister vom Kottbuser Stadttheater keinen Anteil an diesen Dingen hat.

    Heinrich Gundermann hat die Nachricht von seinem Tode auf einem Umweg geschickt. Das zusammengefaltete Papier mit der blauen Depeschenmarke liegt schon seit zwei Stunden in dem Briefkasten einer Junggesellenwohnung, die sich zwischen vierzig Kleinbürger-Quartieren einer Steglitzer Mietskaserne eng und scheu eingenistet hat. Ihr Inhaber, Herr Oskar Gundermann, sitzt noch hinter der grossen Scheibe eines Kaffeehauses und spielt die letzten Trümpfe dieses Nachmittagsskats aus. Dann endlich trennt er sich und geht wehmütig nach Hause, an den ratternden Strassenbahnen vorbei, vorbei an heftig, mitleidlos lärmenden Kindern, an grell beklebten Vorstadtgeschäften, die den Einwohnern verkünden: Ihr braucht nicht in die Stadt zu fahren, um Mäntel, Hüte, Hemden und Regenschirme zu kaufen. Kauft bei uns! Unterstützt den Nachbarn! Den Steglitzer Gewerbetreibenden!

    Und an den schiefgestellten Spiegelscheiben der Auslagen begegnet Oskar Gundermann seinem eigenen Bild. Nein, es ist nicht erfreulich, wiewohl eine gewisse, längst abgenutzte Fröhlichkeit um die Augenwinkel an den frischen, ewig jungen, grossen Bruder Robert erinnert. Aber die Augen selbst sind weniger blau und weniger hart, der Schnurrbart lässt sich immer trüber zu den Mundwinkeln herab, und die Haut der Wange ist nicht prall und gerötet, sondern hängt lasch und faltig an den Knochen. Oskar Gundermann denkt auch heute an seinen Anzug. Er sieht genau jene feinen Merkmale, die schiefgeschnittenen Jackentaschen, die schwarzen Einfassungsborten, mit denen sich auch dieser Anzug in der Blüte seiner Entstehung von anderen Anzügen zu unterscheiden versuchte. Aber die Mode ist mit Riesenschritten vorwärtsgeschritten, und zurück blieb eine abgegriffene, verschollene Geckenhaftigkeit.

    Und dann das Bäuchlein. Wie kam es und woher? Hatte man so reichlich zu essen, musste man sich nicht mit einem sehr gewissen Taschengeld begnügen, das in aller Oeffentlichkeit die Firma Robert Gundermann und Sohn mittels Postanweisung nach Steglitz sandte? Postanweisung für was? Ja, war man nicht Onkel, hatte man nicht das Talent gehabt, die schnurrigsten Geschichten zu erzählen? Hatte man nicht Bonbons in den Taschen für die Kinder und eine Zärtlichkeit auf den Lippen für die Frauen?

    Oskar Gundermann schreitet die Fenster eines Warenhauses ab. Da ist eines in seiner ganzen Höhe und Breite gefüllt mit Aschbechern, Zigarrenabschneidern, Lesezeichen — alle von demselben Muster mit dem Eisernen Kreuz. Onkel Oskar schiebt die Unterlippe in die Höhe — Gundermann, Gundermann; wahrscheinlich lauter echte Gundermanns. Aber, lieber Gott, ist das wirklich das Ziel eines wohlgefälligeren Lebens als das meine? Ich will meinen Bruder bei Ihnen nicht anschwärzen, er ist vortrefflich, unterstützt mich, und ich verkenne die Wohltat keinen Augenblick. Er arbeitet, er hat eine überlegene Intelligenz, einen scharfen Blick, er meistert sein Schiff — aber dieser Aschbecher, ist er das Erzeugnis eines Geistes, der es sich erlauben darf, mir mit einer noch so freundlichen Herablassung zu begegnen? Es ist wahr, es lässt sich nicht leugnen: auch ich lebe von diesen Aschbechern, von dieser überlegenen Intelligenz, von dieser Augenschärfe! Aber — bin ich schon talentlos — würde ich nicht vielleicht besser leben, wenn Seine brüderliche Gnaden es noch ein bisschen weiter gebracht hätten? Ist eine Mietswohnung mit acht Zimmern das höchste der Ziele, selbst am Kurfürstendamm, selbst mit Zentralheizung? Oder wie, hätte sich nicht mein eigenes schwaches Daseinchen ganz anders entwickeln können, wenn des hohen Bruders Kraft und Zielbewusstsein sich auf etwas höherliegende Dinge gerichtet hätten? Ich will ihn nicht anschwärzen, lieber Gott. Aber man kann nicht wissen, und die Talentlosigkeit für Aschbecher beweist noch gar nichts ...

    Als Onkel Oskar mit dem bescheidenen Abendbrot im Arm seine Wohnung betritt, findet er das Telegramm. Erst begreift er nicht und dann immer noch nicht. Es ist schon fast dunkel im Zimmer. Aber Onkel Oskar ist es noch zu hell. Er lässt die Rolläden herunterschnarren.

    Nach einer halben Stunde macht er sich zum Ausgehen fertig. Unter dem grossen Bestande alter Kleidungsstücke hat er eines gewählt, das ernst genug ist und doch nicht auf einmal alles sagt. Dann aber nimmt er aus dem verschwiegensten Schubfach seines Schreibtisches die kleine verstaubte Nachbildung seines Eisernen Kreuzes von 70. Nein, er hat den Orden nicht getragen, auch nicht, wie so manche alten Herren, als der Krieg ausbrach. Aber heute soll er das Sprechen erleichtern. Und aus demselben Schubfach nimmt er einen weissen Brief, der Heinrichs Handschrift trägt.

    Und wie er so zur Strassenbahn hinschlendert, geht ihm durch den Kopf: Sehen Sie, lieber Gott, es ist doch ganz gut, wenn einer in der Familie ist, dem man eine solche Nachricht ohne Vorbereitung vorsetzen kann, einer, der den Schlag verträgt! Ein Onkel sozusagen. Die Postanweisung macht sich schliesslich doch noch bezahlt.

    Als Onkel Oskar auf den Balkon tritt, begegnet ihm ein kaltes Lächeln.

    „Na, Oskar, du auch mal wieder?"

    „Steglitz ist so weit."

    Und dann gibt’s ein Reden hin und her von gleichgültigen Dingen. Herr Robert Gundermann legt kaum die Zeitung aus der Hand. Aber Mathilde ist sofort aufgesprungen, dem Schwager noch ein Nachtmahl aufzutragen. Der hat es nicht hindern können und isst mit mechanischen Kaubewegungen ein paar Bissen, um schliesslich zu danken. Die elektrische Lampe bescheint nur einen engen Kreis, und das Eiserne Kreuz ist ausserhalb des Scheins geblieben. Das Essen wird hinausgetragen. Robert streckt dem Bruder die Zigarrenkiste hin, und Oskar greift zu.

    „Du zitterst ja, Oskar."

    „Man wird nicht jünger, Robert."

    „Na ja, aber ich hatte das bei dir nie bemerkt."

    Fritz reicht dem Onkel das brennende Streichholz, und das Licht flammt bei dem kurzen heftigen Zuge hell auf.

    „Du trägst ja dein Kreuz, Onkel?"

    „Ach so, ja. Eigentlich eine kleine Bosheit von mir. Ich kam heute an einem Warenhausfenster vorbei. Da waren lauter Aschbecher mit dem Kreuz. Du kannst natürlich nicht dafür, Robert, dass du damals nicht im Felde warst. Aber warum soll ich so gänzlich schmucklos bleiben?"

    Herr Gundermann schliesst ein bisschen die scharfen Augen, kneift die Lippen fester zusammen, um eine kräftigere Antwort zurückzuhalten. Dann sagt er:

    „Und du fragst gar nicht nach Heinrich?"

    Onkel Oskar bemüht sich, ein ganz harmloses Gesicht zu machen. Aber wann soll er denn eigentlich anfangen?

    „Heinrich — nun ja — Heinrich — man wagt ja gar nicht so recht an da draussen zu denken."

    „Wieso? Robert sitzt ganz aufrecht im Lehnstuhl und hat die Zeitung endgültig aus den Händen gelegt. „Es geht doch vorwärts, gewaltig vorwärts.

    „Nun ja — Robert — es geht vorwärts, aber es kostet auch was."

    „Was — ja, was meinst du denn eigentlich?" Mathilde sitzt auch steif aufgerichtet da, und Fritz meint für sich, dass die Mutter noch gar nicht die alte Frau sei. Sie ist wie sprungbereit. Die grauen Augen, die für alle Tage so verloren blicken, sind plötzlich mit Licht gefüllt. Der sanft gekrümmte Nacken, die Wange — Fritz sieht plötzlich unter dem grauen Schleier des Alters die junge Mutter. Dann sagt er:

    „Weisst du, Onkel, man sollte den Eltern so etwas gar nicht vor die Augen halten. Die Dinge sind schlimm, und man bessert sie nicht, wenn man sie sich vorstellt."

    „Nein, Fritz, sagt Mathilde, „der Onkel hat recht. Ich habe an dich gedacht, wie du draussen warst, und ich denke an Heinrich. Aber es ist in unseren Gefühlen immer etwas, was sich beruhigen will, sich zufriedengeben. Und es kommen Briefe und Karten, und man wird wirklich ruhig und sitzt auf dem Balkon, als ob nichts wäre.

    Mutter Mathilde steht auf. Sie hat ihr Taschentuch in der zitternden Hand und geht mit unsicheren Schritten in das dunkle Wohnzimmer. Die drei Männer bleiben schweigend zurück, bis sie ein Schluchzen hören.

    „Du hättest ihr das alles nicht sagen sollen, Oskar."

    „Ich habe ja doch nicht viel gesagt, Robert —"

    „Nein, nicht viel, aber sie weint."

    „Frauen denken, wenn sie weinen."

    Robert sieht missbilligend auf den Bruder, steht auf, folgt seiner Frau ins Dunkle. Dann erhebt sich auch Fritz. Er tastet sich zurecht, stolpert fast über die Füsse des Vaters, der lang ausgestreckt im Lehnstuhl liegt — und findet endlich die Mutter, die auf dem Sofa sitzt und den Kopf mit beiden Händen auf den Tisch stützt. Endlich trottet Oskar hinterdrein, sucht sich aber ein bescheidenes Stühlchen nahe der Balkontür. Als sich die Augen gewöhnt haben, sehen sie ganz gut die verschwommenen Umrisse von Mutter und Sohn, ein bleiches Leuchten auf Robert Gundermanns kahlem Schädel, vor der Glastür aber den warmen Lichtschein, der das giftige Grün des wilden Weins und die roten Pelargonien so jäh aus dem Schlaf weckt.

    Nach einem kurzen Schweigen geht Oskar einen Schritt weiter.

    „Ich habe es nicht so gemeint, dass man sich das Schreckliche vorstellen soll. Das am allerwenigsten. Aber man soll sich wohl zu den Menschen, für die man fürchtet, ins rechte Verhältnis setzen."

    Robert wird durch das Geschwätz des Bruders nervös.

    „Meinst du etwa, ich stünde zu Heinrich nicht richtig?"

    „Du stehst gut zu ihm, Robert, aber richtig? Du stehst ja auch zu mir gut, Robert. Und ich zweifle doch an der Richtigkeit."

    Oskar bekommt keine Antwort, und er fährt fort:

    „Bis zu einem gewissen Punkte hat natürlich alles seine Richtigkeit. Man ist jung, kriegt Kinder, die wachsen heran, entwickeln sich so oder so, und man kämpft mit ihnen. Das muss so sein. Jedes kleine Halsübel wird sehr sorgfältig nud sehr liebevoll behandelt und beseitigt. Aber wenn die kleinen Uebel des Herzens beginnen, sind Eltern machtlos. Was sollen sie denn tun? Gewähren lassen? Nein! Hat ein Vater nicht Erfahrung und Willen — eine Mutter nicht Gefühl und Wurzeln? Also man kämpft. Der Junge hat eine Begabung, der Vater hat sein Geschäft —"

    „Bist du hergekommen, mir Vorwürfe zu machen?"

    „Nein, lieber Robert, ganz im Gegenteil. Ich halte diesen Widerstand für sehr natürlich und notwendig. Die Jugend nascht gerne, auch von der Schönheit. Sie ist geneigt, jedem Gelüst nachzugehen. Und erst am Widerstand lässt sich prüfen, ob’s ernst war. Der Junge brennt von Zuhause durch. Sein leidliches Klavierspiel gibt ihm die Möglichkeit, durch Unterricht sein eigenes Studium durchzusetzen. Der Vater wird weich — aber der Sohn wird verstockt, und man braucht die Hilfe eines alten Onkels, damit der Sohn nur die kleine Unterstützung annimmt, die ihn von der Fronarbeit befreien, sein Studium behaglich machen soll."

    „Na ja, das wissen wir ja alle —"

    „Und wisst doch nicht das Eigentliche. Der Sohn arbeitet. Die Notenpapiere um ihn häufen sich. Kompositionen, Pläne, es gehen grosse Dinge vor. Er glaubt an sich, er kennt gar keinen Zweifel."

    „Und dann ist doch alles umsonst." Robert Gundermann sagt es mit schwerer Zunge.

    „Das ist ja das Merkwürdige, Robert, dass es nicht umsonst ist. Ganz und gar nicht. Die Kompositionen haben keinen Erfolg. Schwarz auf weiss steht es in den Zeitungen, und die Autoritäten sagen es in privaten Gutachten ohne Mitleid: Es reicht nicht. Ginge es um Nichtigkeiten. Aber nein, einer auf Stelzfüssen will den Kilimandscharo besteigen. Die Liebe zur Kunst macht noch nicht den Künstler. Dieser ist ein Dilettant, wie er in den Balkonwohnungen Berlins zu Dutzenden zu finden ist. Dilettant — einer der sich am Guten zu erwärmen vermag, aber selbst keine Flamme, nicht einmal ein Flämmchen. Zusammenbruch. Aber als Dirigent will er’s versuchen, ein Konzert —"

    „Erinnere doch nicht daran, Onkel!"

    „Jawohl, gerade daran erinnere ich. Gott sei Dank, dass die Philharmoniker auch ohne — und wenn es sein muss — auch gegen den Dirigenten zu spielen verstehen. Noch ein Zusammenbruch. Aber was dann?"

    „Schweig’ doch, Oskar, du siehst doch, wie erregt Mathilde ist."

    Aber die Mutter hat längst die Hand von den Augen genommen, und sie sagt ganz fest: „Lasst ihn sprechen! Ich ahne, wo er hinaus will."

    Oskar Gundermann saugt die letzten Züge seiner Zigarre heftig heraus und wirft den Stummel in weitem Bogen über den Balkon.

    „Zweiter Zusammenbruch. Heinrich flieht. Niemand weiss, wohin. Jawohl, dieser Zusammenbruch schmerzt. Uns allen ist es wie eine Schande. Der Name Gundermann hat seinen Klang in der Industrie. Aber in die Oeffentlichkeit ist er nicht gedrungen. Gundermanns sitzen Olivaer Platz Numero zwölf. Mehr verlangen sie nicht vom Leben, und Berühmtheit am wenigsten. Aber eines verlangen sie: dass der Name nicht zum Spott genannt wird. Soll man sich von Geschäftsfreunden fragen lassen: Ist das Ihr Sohn, Gundermann? Soll man sich von Onkels und Vettern fragen lassen: Was geschieht mit Heinrich? Und die Scham ist nicht das einzige, was treibt. Die Mutter schreit’s hinaus: Was geschieht meinem Kinde? Verflucht die Kunst, wenn sie einen Menschen zugrunde richtet!"

    „Du hast recht, Oskar, wie oft habe ich’s gedacht!"

    „Und der Onkel wird wieder mal auf die Suche geschickt und findet den Jungen in einem Tanzlokal am Klavier. Und sagt: ‚Junge, dein Vater ist reich. Hast du deine Liebhabereien, so sollst du sie pflegen dürfen. In allen Ehren, in Beschaulichkeit. Vielleicht wird es dann doch was.‘ Und der Junge steht kaum vom Klavier auf und sagt: ‚Ich danke, danke euch allen. Aber reden wir nicht mehr von der Kunst! Ich bin doch nicht wahnsinnig. Ich will jetzt gar nichts weiter, als meine bürgerliche Existenz mit dem durchsetzen, was ich immerhin — gelernt habe. Nicht, als ob’s mir auf diese Existenz selbst so unbedingt ankäme. In meinem Falle aber ist sie einfach der Gradmesser meiner sittlichen Kräfte. Und deshalb lieber zum Tanz aufspielen als auf bequeme Art.‘"

    Robert Gundermann holt tief Atem und sagt: „Es war am Ende Gundermannsch —"

    „Mit Verlaub — es war: Robert Gundermannsch — aber das war dir damals nicht so ganz klar. Du warst eben einfach von Herzen unglücklich und hast dich erst beruhigt, als der Weg langsam, langsam, vom Tanzklavier zum Tanzorchester, vom Dirigenten der Tingeltangel zu dem des Badeorchesters führte, bis endlich, endlich mit heissem Bemühen die nicht gerade weithin sichtbare Stelle des Kottbuser Stadttheater-Kapellmeisters errungen war und alles in allem schliesslich bewiesen wurde, dass einer mit schweren Kämpfen, mit härteren Leiden, mit brennenderen Nöten sein Pöstchen erobert hat."

    Und Fritz stimmt ein:

    „Und dass die Ehre grösser war als die des anderen Bruders, der sich einfach an den gutpolierten Schreibtisch des Vaters setzte —"

    „Jeder seiner Natur nach, Fritz. Du hast ja wohl die Hände nicht in den Schoss gelegt, wie — nun, wie ich. Aber die höhere Ehre, wir mögen sie ihm gönnen. Und wenn wir ihn richtig einschätzen, dann brauchen wir nicht an die Schrecken des Schlachtfeldes zu denken. Was sich dort abspielt, was dort Schicksal ist, das ist es Tausenden, die auch Mütter, Väter, Brüder haben. Aber das Besondere, das haben wir, nur wir mit ihm. In diesem Verhältnis müssen wir mit ihm sein, unbekümmert um das bisschen Gefahr."

    Die Mutter sagt mit tränenlosem Blick: „Dann ist es ja wohl in einem besonderen Sinne gleich, ob einer lebt oder nicht. Wenn wir nur mit ihm leben."

    „Ja, liebe Mathilde, und deshalb bin ich heute abend zu euch gekommen, um euch das zu sagen."

    Da steht die Mutter plötzlich auf. Sie sieht scharf zu Oskar hinüber, dessen bleiches Gesicht

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