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Als Moises Kaz seine Stadt vor Napoleon rettete: Meiner jüdischen Geschichte auf der Spur
Als Moises Kaz seine Stadt vor Napoleon rettete: Meiner jüdischen Geschichte auf der Spur
Als Moises Kaz seine Stadt vor Napoleon rettete: Meiner jüdischen Geschichte auf der Spur
eBook489 Seiten6 Stunden

Als Moises Kaz seine Stadt vor Napoleon rettete: Meiner jüdischen Geschichte auf der Spur

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Über dieses E-Book

Emily C. Rose, Amerikanerin jüdischer Abstammung, schildert jüdische Geschichte aus einer lang vergangenen Zeit: die Geschichte von einfachen Menschen in den Dörfern und Kleinstädten im ländlichen Württemberg zwischen 1730 und 1880. Und sie weiß, wovon sie spricht: Es ist die Geschichte ihrer Vorfahren, die sie nach intensiver Quellensuche lebendig werden lässt. Ein handgeschriebenes jüdisches Familienregister, das sie 1992 zufällig von einem Verwandten erhielt, brachte sie auf die Spur ihrer Ahnen, die in den Hungerjahren um die Mitte des letzten Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert waren,. Sie recherchierte in den Archiven zahlreicher Städte und Gemeinden – und nach fünf Jahren hielt Emily Rose das Material einer faszinierenden Familiengeschichte in den Händen. Im Verlauf ihrer Spurensuche erfuhr sie auch, dass einer ihrer Vorfahren sogar in die Geschichtsbücher eingegangen ist: Moises Kaz rettete 1799 die Reichsstadt Rottweil vor Napoleons Armeen. Zwar liegen die Schauplätze dieser in die allgemeinen Entwicklungen der Zeit eingebetteten Familiengeschichte in Süddeutschland, ihre Bedeutung reicht aber weit über diesen Raum hinaus. Sie spricht jeden an, der mehr über das Leben deutscher Landjuden vor dem 20. Jahrhundert erfahren möchte.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum13. März 2019
ISBN9783897350151
Als Moises Kaz seine Stadt vor Napoleon rettete: Meiner jüdischen Geschichte auf der Spur

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    Buchvorschau

    Als Moises Kaz seine Stadt vor Napoleon rettete - Emily C. Rose

    ZWEI PORTRÄTS

    Ölgemälde von Joseph David Berlizheimer (1761–1855), Maße: 36 x 45 cm

    Ölgemälde von Gustel Berlizheimer, geb. Kaz (1780–1861), Maße: 36 x 45 cm

    ÜBER DEM Kaminsims im Wohnzimmer meiner Großeltern in ihrer weitläufigen Wohnung in New York hingen zwei große, alte Ölporträts. Auf dem einen Bild hielt ein stattlicher, gut gekleideter Herr eine Schnupftabaksdose und blickte gebieterisch von der Leinwand herunter. Auf dem anderen trug eine ältere Frau eine Haube mit roten Schleifen, um ihren Hals hing eine dreifache Perlenkette. Sie schaute mich nicht an, ihre Augen blickten ins Leere.

    Ich hatte niemals Fragen über die Porträts gestellt, und niemand hatte mir ihre Geschichte erzählt. Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie einmal für mich bedeuten würden. 1992 begann ich, die Herkunft meiner Familie zu erforschen, und unter den Dokumenten, die ich zusammentrug, befanden sich einige handgeschriebene Seiten aus einem jüdischen Familienregister in deutscher Sprache. Mit fremder Hilfe konnte ich den Namen »Berlizheimer« lesen, den ich kannte, ferner »Gundelfinger,« einen Namen, den ich noch nie gehört hatte. Oben auf der Seite konnte ich den Namen des Ortes »Mühringen« entziffern. Man hatte mir keine Geschichten überliefert, und niemand hatte jemals Mühringen erwähnt.

    Bevor mein Mann und ich 1994 nach Deutschland reisten, steckte ich die Seiten aus dem Familienregister in meinen Koffer. Ich hatte angenommen, daß ich aufgrund der Verwüstungen im Zweiten Weltkrieg nicht in der Lage sein würde, Informationen über meine Familie zu finden. Trotzdem fuhr ich während der Zeit, in der mein Mann an Kursen in einer Sprachschule teilnahm, einige Stunden von Frankfurt am Main aus nach Süden, um das Dorf meiner Vorfahren zu finden.

    Ich reagierte auf Mühringen ganz anders, als ich erwartet hatte. Es war kein Ort mit engen, dunklen Straßen, sondern ein typisches deutsches Dorf, in dem die Fensterbänke vor hellroten Blumen überzuquellen schienen, welche den imposanten Häusern entlang den Sträßchen freundliche Farbkleckse gaben. Da alle aus meiner direkten Linie mütterlicherseits Mitte des 19. Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert waren, hatte meine Familie keine persönlichen Berührungspunkte mit der Vernichtung durch den Holocaust gehabt. Mit diesem Gefühl des Abstands konnte ich relativ unbelastet in die Zeit eintauchen, die Jahrhunderte vor dem tragischen Ende der Juden in Deutschland lag. An dem Tag, als ich durch dieses kleine Dorf ging und einige der Gräber der Berlizheimers auf dem abgelegenen jüdischen Friedhof am Hang fand, fühlte ich eine unmittelbare emotionale Verbundenheit mit meinem Urururgroßvater Berlizheimer. Der Friedhof lag im Mühringer Wald, wo hohe Laubbäume ihren Schatten über Grabsteine warfen, die im Laufe der Jahrhunderte ins Erdreich eingesunken waren. Bemerkenswerterweise stehen immer noch über 850 Steine in willkürlich angelegten Reihen. Der Friedhof liegt im Wald vor den Blicken versteckt und war der Schändung während des Holocaust entgangen. Direkt unter der Gemeindehalle und dem Kindergarten kennzeichnet eine Gedenktafel den Platz, an dem früher die Synagoge stand. Sie war am 9. November 1938 in der »Reichskristallnacht« beschädigt worden und diente dann im Krieg als Gewehrfabrik; später wurde sie abgerissen und machte einer neuen Schule Platz. Auf einigen alten Fotografien des Dorfes ist sie in ihrer schlichten Eleganz noch zu sehen. Ich fand eines der Häuser, in dem meine Vorfahren gelebt und gearbeitet hatten. Es stand neben der jüdischen Volksschule, wo auch der Rabbiner und der Lehrer ihre Wohnungen hatten. Im Keller sah ich die Mikweh, das rituelle Frauenbad, das immer noch mit Wasser aus einer unterirdischen Quelle gefüllt war. Als ich die Straße hinunterging, bemerkte ich an einigen der alten Gebäude flache Meißelspuren im Stein am rechten Türpfosten, die alle die traditionelle Form einer Mesusah hatten. So entdeckte ich in ganz kurzer Zeit unendlich viele Spuren meiner Vergangenheit.

    Von diesem Erfolg beflügelt, studierte ich das handschriftliche Familienregister und fand den Namen des Ortes, in dem meine Ururgroßmutter Gundelflnger gelebt hatte. Ich besuchte ihr Dorf, Michelbach an der Lücke, auch ein typisches deutsches Dorf, aber noch kleiner und ländlicher als Mühringen. Wieder empfand ich diese Verbundenheit, als ich die Gräber meiner Vorfahren im Schatten der Bäume auf dem jüdischen Friedhof direkt außerhalb des Ortes entdeckte. Der Friedhof war in der Nazizeit geschändet, aber nach dem Krieg wieder hergestellt worden. Ich konnte durch die Sträßchen gehen, in denen die Gundelfingers jahrhundertelang gelebt hatten. Hier war die Synagoge in der Pogromnacht von 1938 geplündert und während des Krieges als deutsches Munitionslager zweckentfremdet worden. In den achtziger Jahren wurde sie als Gedenkstätte restauriert und gilt heute als die älteste in Baden-Württemberg noch vorhandene Synagoge. Leicht konnte ich mir vorstellen, wie meine Verwandten damals für den Gottesdienst am Sabbat die Judengasse hinuntergegangen waren.

    Ich fühlte das Bedürfnis, alles über diese Menschen zu erfahren, aber ihr Leben war für mich in Dokumenten verborgen, die ich nicht lesen und verstehen konnte. Ich beschloß, die Unterlagen zu fotokopieren, die mir Aufschluß über ihr Leben geben könnten. Die Archive in diesen Dörfern und Städtchen haben den Zweiten Weltkrieg fast unversehrt überstanden, da sie nicht Ziel der Bombardements der Alliierten waren. Die Dokumente in den Regional- und Staatsarchiven waren während des Krieges an sichere Orte verbracht worden, und die meisten von ihnen sind noch vorhanden. Ich konnte offizielle Familienregister, Steuer- und Grundbesitzaufzeichnungen, Auswanderungsanträge, Regierungsdokumente über die jüdischen Gemeinden und Unterlagen über meine Familie fotokopieren. Die alte deutsche Schrift konnte ich nur so weit entziffern, um in den Stapeln von alten Registern und Dokumenten Familiennamen zu entdecken. Jedesmal, wenn ich die Unterschrift eines meiner Vorfahren in Deutsch oder Hebräisch auf einer brüchigen, vergilbten Seite entdeckte, fühlte ich, wie sich meine Geschichte mit Leben füllte. Ich war mit meinen Funden mehr als zufrieden und überwältigt von der Menge der Dokumente, die ich zusammengetragen hatte.

    In den vergangenen Jahren hatten christliche Historiker und Archivare viele lokale und regionale Geschichtsbücher über die Juden in Deutschland verfaßt. Zu meiner großen Überraschung erwähnten einige dieser Studien insbesondere auch meine Vorfahren und ihre Familien im 18. und 19. Jahrhundert. Als Teil meiner Nachforschungen suchte ich die Autoren der Werke auf, die Informationen über, wie ich sie nun in meinen Gedanken nannte, »meine Familien« enthielten. Sie haben zusammen mit zahlreichen anderen Fachleuten großzügig ihr Wissen mit mir geteilt.

    Kurz vor Ende meines Aufenthalts in Deutschland, als einer dieser Historiker einige Dokumente für mich übersetzte, las er: »Joseph David Berlizheimer übernahm in Rottweil das Haus, das früher Moises Kaz gehörte.« Der Name »Moises Kaz« sprang aus der Seite heraus! Es handelte sich um meinen Ururururgroßvater, der im handschriftlichen Familienregister aufgeführt war. Rottweil liegt nur 45 Minuten südlich von Mühringen entfernt, also machte ich mich sofort auf den Weg. Hier zeigte mir der Leiter des Stadtarchivs die großen Häuser, die Moises Kaz und seine Nachkommen im 19. Jahrhundert besessen hatten. Ich konnte mir vorstellen, wie die sehr kleine Gemeinde in der Synagoge gebetet hatte, die sich im oberen Stockwerk seines Hauses befunden hatte. Ich stellte fest, daß sich das Leben dieser Menschen von demjenigen der Juden aus Orten wie Michelbach und Mühringen unterschieden hatte.

    Zurück in Amerika, blickte ich auf den Stapel von Unterlagen. Ich wußte, daß sie meine Geschichte enthielten, aber ich konnte kein Wort lesen. Glücklicherweise konnten einige ältere Deutsche, die in meiner Nähe lebten, die Dokumente aus der sehr schwierigen alten deutschen Schrift übersetzen. Stückchen für Stückchen setzte ich das Leben meiner Vorfahren zusammen. Hier ein Wort, da ein Datum, der Name eines Ehepartners oder Kindes in einem Familienregister – dies alles lenkte meine Nachforschungen in viele Richtungen. Durch akribische Detektivarbeit und intensives Forschen nahm ihre Geschichte langsam Gestalt an.

    Allmählich erkannte ich, daß die Porträts meiner Vorfahren eine geschichtliche Bedeutung hatten. Ich erfuhr, daß wir nicht wissen, wie viele Ölporträts von Landjuden im frühen 19. Jahrhundert gemalt wurden, aber sicherlich waren diese unter den Juden seltener als bei den Christen. Doch egal, wie viele solche Bilder jüdische Wohnstätten im frühen 20. Jahrhundert geschmückt haben mögen – durch die Verschleppung und Zerstörung durch die Nationalsozialisten sind heute nur noch sehr wenige von ihnen erhalten.

    Zunächst hatte ich gedacht, daß die Informationen, die ich aus den Dokumenten zog, nur auf meine Familie zuträfen, da sie nicht zu meinen Vorstellungen über das Leben der Juden in Deutschland paßten. Doch als ich Geschichtsbücher über andere Regionen Süddeutschlands las, stellte ich fest, daß die Lebensgeschichte meiner Familie sogar typisch für diejenige der Landjuden war. Und dann begriff ich: Meine Vorstellungen vom Leben der Juden in Deutschland waren sehr einseitig und in vielerlei Hinsicht vollkommen falsch gewesen. Ich hatte ihre Geschichte entweder im Zusammenhang mit dem Leben der Hausierer oder der Talmudgelehrten in Osteuropa oder dem Leben der berühmten Bankiers gesehen, die vor dem 19. Jahrhundert in den großen deutschen städtischen Ghettos gelebt hatten. Meine Vorstellungen waren direkt von dem Schrecken, dem die Juden im Mittelalter ausgesetzt waren, zu ihrer mittelständischen, städtischen und integrierten Existenz des 20. Jahrhunderts gesprungen. Ich teilte die in Amerika sehr weit verbreitete Ansicht, daß die meisten Juden im 19. Jahrhundert aufgrund des unerträglichen Antisemitismus oder der Enttäuschungen nach der gescheiterten Revolution von 1848 zum Auswandern gezwungen worden waren oder daß sie das Land verlassen hatten, um dem Militärdienst zu entgehen. Durch Bücher und Filme hatte ich den Eindruck gewonnen, daß die Beziehungen zwischen Christen und Juden entweder nur gut oder nur schlecht gewesen waren: Entweder war es ihnen vor der Zeit des Dritten Reiches gut gegangen, oder sie waren jahrhundertelang durch offenen oder versteckt gewalttätigen, weit verbreiteten Antisemitismus eingeschränkt worden. Verglichen mit den Juden in Osteuropa, wurden die Juden in Deutschland in der Regel als nicht traditionell religiös und als intensiv, wenn nicht sogar verzweifelt um Anpassung bemüht dargestellt. Die meisten dieser und anderer Klischees und Allgemeinplätze über die Juden in Deutschland paßten überhaupt nicht zu den Dokumenten und anderen Quellen, die ich studierte.

    Meine »neue Familie«, die Verwandten, die ich bei meinen Nachforschungen »entdeckte«, wurden zu einem bedeutenden Wissensschatz und waren gleichzeitig Quelle der Inspiration und Ansporn. Obwohl diese Verwandten, die seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in Amerika lebten, nichts über das Leben ihrer Urgroßeltern oder über die historischen Vorgänge wußten, die sich im 19. Jahrhundert ereignet hatten, erzählten sie mir über ihren Alltag in Mühringen, Michelbach und Rottweil im frühen 20. Jahrhundert. Ich merkte, daß zwischen meinem Aufwachsen unter den Nachkommen deutscher Juden in Amerika und ihrem Leben als Landjuden in Deutschland Welten lagen, aber ich erkannte auch, daß uns in vielen bedeutenderen Dingen ein gemeinsames Band und Erbe gegeben war.

    Obwohl ich meine Forschungen zugegebenermaßen recht unprofessionell begonnen hatte, nutzte ich in den nun kommenden Jahren das Forschungsgeschick und die analytischen Fähigkeiten, die ich mir in meinem Geschichtsstudium angeeignet hatte. Im darauffolgenden Sommer kehrten mein Mann und ich nach Deutschland zurück, und dieses Mal war ich besser für ernsthafte Nachforschungen gerüstet. Da ich nun die alte deutsche Schrift besser entziffern konnte, konnte ich auch mehr Dokumente zuordnen. Das Ergebnis waren wieder Tausende von Seiten an Primärdokumenten.

    Bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts bestand Deutschland aus einer Vielzahl eigenständiger Staaten, und meine genealogischen und historischen Forschungen konzentrierten sich auf das Königreich Württemberg im Südwesten. Historische Daten, spezielle Gesetze und sogar Sitten und Gebräuche unterschieden sich von einem politischen und geographischen Bereich zum anderen, aber ich fand heraus, daß sich die Lebenserfahrungen der Juden in ganz Süddeutschland immer wiederholten. Allmählich weitete ich meine Studien von meinen direkten Vorfahren auf ihre weiter verzweigten Familien und andere Mitglieder ihrer Gemeinden aus. Fortan war es nicht mehr nur die Geschichte meiner Familie. Meine Vorfahren erzählten nun vielmehr die Geschichte der Landjuden in Süddeutschland. Durch die Unterlagen erstreckten sich meine Forschungen auch auf die Juden in ihren Gemeinden sowie auf die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Ereignisse, die sich direkt und nachhaltig auf ihr Leben auswirkten. In unzähligen Stapeln verstaubter Verträge suchte ich nach Informationen über Aussteuern und Erbschaften. In den Protokollen der Dorf- und Stadträte entdeckte ich alltägliche und ungewöhnliche Ereignisse aus dem Leben der Juden.

    Im Sommer 1996 fand ich im Württembergischen Hauptstaatsarchiv Stuttgart eine Petition aus dem Jahr 1827. Darin ging es um die frühen Anfänge der Emanzipation. Erstaunt sah ich, daß mein Vorfahr Berlizheimer einer der Unterzeichner war. Natürlich wollte ich mehr über seine Beteiligung und die Auswirkungen dieser globalen Ereignisse erfahren. Nachdem Hunderte von Seiten an Reden, Parlamentsdebatten und Streitschriften übersetzt waren, war meine frühere Sicht vom Leben der Landjuden durch die historischen Quellen erneut verändert worden. Ich war gezwungen, die Dokumente und persönlichen Erinnerungen, die ich bis dahin gesammelt hatte, vor dem weiter gefaßten Hintergrund der Geschichte zu untersuchen, und daher mußte ich meine Forschungen über die Grenzen von Mühringen, Michelbach und Rottweil hinaus ausdehnen.

    Als ich meine Nachforschungen 1997 weiterführte, spürte ich – nun mit noch mehr Erfahrung, die alte deutsche Schrift zu lesen – zusätzliche Details auf. Ich weitete meine Untersuchungen auf das Leben und die Nachfahren der Töchter und Ehefrauen aus, die durch die arrangierten Eheschließungen Verbindungen zu anderen Gemeinden in Württemberg und anderen deutschen Staaten geschaffen hatten. Ich konnte nun diese Heiratskreise sowie Familien- und Geschäftsnetze durch ganz Süddeutschland nachzeichnen.

    In den vergangenen Jahren habe ich die Geschichten über die süddeutschen ländlichen Gegenden von Berthold Auerbach, einem sehr beliebten Autor aus der Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland, gelesen. Ich empfand eine besondere Affinität zu seinen Erinnerungen an die Jugendzeit in einem Dorf in der Nähe von Mühringen, denn ich hatte herausgefunden, daß er durch Heirat mit meiner Familie verwandt war. Als ich die Bücher und Memoiren der deutschen Juden aus dem 20. Jahrhundert las, konnte ich mir vorstellen, wie meine Verwandten gebetet und ihre Religionsriten befolgt hatten. Da die Leser meines Buches unterschiedliche religiöse Hintergründe und Kenntnisse haben, habe ich einen Überblick über das traditionelle religiöse Leben im ländlichen Deutschland beigefügt.

    Eine letzte »Entdeckung« war die kürzlich erfolgte Dokumentation und Analyse eines kleinen Schatzes jahrhundertealter Schriften über das Dorfleben. Diese Sammlung heiliger Schriften, eine Genisa, war in der Dachstube der Michelbacher Synagoge aufbewahrt worden, bis sie zufällig bei Restaurierungsarbeiten entdeckt wurde. Die Arbeiter hatten keine Ahnung, was sie da gefunden hatten, und warfen die Papiere auf den Müll. Glücklicherweise konnte der Bürgermeister des Ortes einen kleinen Teil davon retten. Es war ein unglaubliches Erlebnis, die zerfallenden Gebetbücher, Seiten aus dem Talmud und Jahrbücher zu betrachten, die in Hebräisch, Deutsch oder Deutsch in hebräischer Schrift verfaßt waren. Ein kleines Gebetbuch eines frommen Hausierers war unversehrt erhalten. Vielleicht hatte es ein Gundelfinger bei seinen täglichen Gebeten in den Händen gehalten.

    Diese vergilbten Fragmente der Vergangenheit schlossen für mich den Kreis und verknüpften meine Vergangenheit mit der Gegenwart. Heute leben in Mühringen, Michelbach und Rottweil oder den anderen verstreuten ländlichen Gemeinden keine Juden mehr. Es bleiben nur wenige Überreste der Vergangenheit. Und so müssen die Porträts aus dem Wohnzimmer meiner Großeltern ein weiteres Symbol für und eine weitere Erinnerung an die abertausend deutschen Landjuden sein. Diese Geschichte über ihr Leben im 18. und 19. Jahrhundert ist mein Versuch, diesen stummen Andenken Gehör zu verschaffen.

    Die innerste Empfindung, welche die Persönlichkeit des Landjuden ausmachte, war ein einfaches, tiefes und aufrichtiges Gefühl der Ehrfurcht und der Liebe zu Gott… Der Begriff »Religiosität« gibt dieses Gefühl nicht präzise wieder. Der Jude auf den Dörfern versuchte nicht einmal, seine Haltung gegenüber der Religion zu definieren, geschweige denn, seine unbeschreibliche Verwunderung über das Rätsel des Lebens in Worte zu fassen, wenn man Gott am Morgen pries, aber er hatte diese Empfindungen, und sie waren in unerschütterlichem Glauben in der jüdischen Tradition verankert… Nie hätte er den Tag begonnen, ohne wie seine Vorfahren zu beten. Er wußte instinktiv, daß ihm nur der Minjan das Gefühl geben konnte, Gott öffentlich gehuldigt zu haben, denn beim Gottesdienst sind wir Angehörige des Reichs Gottes, genau, wie wir Bürger unserer Heimat sind, ob wir dies nun bekennen oder aussprechen oder nicht. ... [Diese] emotional-religiöse Haltung des Dorfjuden [war] etwas, was ihn stark und beständig machte … Man muß diese Frömmigkeit des Dorfjuden unterstreichen, denn ohne sie könnte man unmöglich seinen Charakter oder seine Persönlichkeit beschreiben …

    … Ich erinnere mich, wie sich die jüdischen Männer der Dorfgemeinde an einem Samstagabend vor der Synagoge versammelten. In gemütlicher Unterhaltung erwarteten sie das Auftauchen der Sterne, die Weltuhrzeit für den Ausgang des Sabbats. Danach traten sie in das Gotteshaus ein, um den Ruhetag mit den traditionellen Gebeten zu beschließen. Diese Handlung erschien mir symbolisch: Die Männer aus dieser ländlich-jüdischen Heimatgemeinde hoben ihre Augen zum Himmel, um aus ihm Kraft für die Arbeit der kommenden Woche zu schöpfen.

    Rabbi Emil Schorsch

    WURZELN SCHLAGEN

    JOSEPH David Berlizheimer und Gustel Kaz standen unter dem Hochzeitsbaldachin, Chuppah, im Hof der Synagoge. Er war sechsunddreißig Jahre alt und wahrscheinlich nicht ganz so stattlich, wie ihn das Porträt zeigt. Sie war siebzehn und noch nicht die blinde, ältere Frau, die mit leeren Augen von der Leinwand herunterblickte. Das Fest fand in einem kleinen Dorf am Fuße eines bewaldeten Hügels an den Ufern eines ruhig seinen Biegungen folgenden Flusses statt. Es war im Jahr 1797, kurz vor dem Eintritt in ein neues Jahrhundert und zu Beginn einer neuen Ära für die Juden in den deutschen Gebieten. Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Mühringen versammelten sich um das Brautpaar, als das rituelle Glas am Hochzeitsstein zerschmettert wurde.

    Wie kam es, daß David und Gustel in einem kleinen Dorf in Süddeutschland heirateten? Wir können es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber aller Wahrscheinlichkeit nach waren ihre Vorfahren in den Jahrhunderten nach 70 n. Chr. aus Palästina nach Südeuropa verbannt worden, wo sie ihr Leben als Juden in der Diaspora in Siedlungen fern dem Land Israel begannen. In der Endphase der Herrschaft der Römer wanderten einige ihrer Vorfahren aus Frankreich und Italien nach Norden in die Handelsstädte entlang der großen Flüsse. In den wenigen Orten und Städten, in denen sie sich niederlassen und in Ghettos leben durften, arbeiteten sie als Händler, Geldverleiher und Handwerker. In ihren Gemeinden blühte ein reges kulturelles und reügiöses Leben. Im frühen Mittelalter wuchs ihre Zahl in den deutschen Gebieten auf 20 000 bis 25 000 Menschen an. All jene, die in den deutschsprachigen Regionen Mitteleuropas lebten, wurden Aschkenasim (nach dem hebräischen Wort für »Deutsch«) genannt und somit von den Sephardim unterschieden, die im Orient, in Afrika und in Spanien lebten.

    Sie lebten in einer unsicheren Welt. Die allmächtige Papstkirche predigte, daß die Juden Jesus als Messias abgelehnt und dann seinen Tod am Kreuz verschuldet hätten. Als Strafe dafür, so die Kirche, waren sie verurteilt, auf Erden ein untergeordnetes Leben zu führen. Man stellte sie als blind dar, unfähig, das Licht zu sehen. Die Christen glaubten, die Juden hätten ihre Daseinsberechtigung nur als geduldete Fremde, um als sichtbarer Beweis für die Wahrheit des Christentums zu existieren. Von den Fresken an den Wänden großer Kathedralen bis hin zum Priester einer kleinen Gemeinde in seiner Predigt stellten alle sie als Teufel dar; damals begann das Wort »Jude« in jeder europäischen Sprache einen diabolischen Beigeschmack zu bekommen. Als Erzfeind der Christenheit waren die Juden in den Augen der Christen dazu verdammt, bis zum Tag des Jüngsten Gerichts durch die Welt zu ziehen; so entstand die Legende vom wandernden Ewigen Juden.

    Im Jahr 1096 wandte sich der Eifer der christlichen Kreuzritter, die Ungläubigen zu bekämpfen, auch gegen den Feind, den man im eigenen Land zu erkennen meinte, gegen die Juden, die in den Städten auf dem Weg ins Heilige Land lebten. Die Kreuzritter schlachteten mehr als 12000 Juden ab, und viele, die man vor die Wahl zwischen Taufe und Tod stellte, wählten den Märtyrertod. Ab dieser Zeit war es den Juden untersagt, den Ständen beizutreten, sie konnten lediglich als Pfandleiher oder Geldverleiher arbeiten, also in Berufen, die den Christen durch das Kirchenrecht verboten waren. Papst Innozenz III. verfügte beim Vierten Laterankonzil von 1215, daß die Juden ein gelbes Abzeichen oder spitze »Judenhüte« tragen müßten, damit jegliche irrtümliche sexuelle Beziehung zwischen einem jüdischen Mann und einer christlichen Frau vermieden würde; damit stigmatisierte er die Juden noch mehr. Juden durften Eide nach ihrer Religion schwören. An manchen Gerichtshöfen allerdings wurden sie gezwungen, gegen ihre rituellen Ernährungsgesetze zu handeln, indem sie den Eid ablegten, während sie auf der Haut eines frisch geschlachteten Schweins stehen mußten.

    Seit dem 12. Jahrhundert fanden die falschen Beschuldigungen des Ritualmords und der Entweihung der Hostie einen fruchtbaren Nährboden. In gezielt an die Öffentlichkeit gebrachten Fällen beschuldigte man Juden des Mordes an Christenkindern. Es hieß, daß sie in der Zeit des Pessach, des jüdischen Osterfests, bei jüdischen Ritualen Christenblut tränken, und man bezichtigte sie des Diebstahls und der Entweihung der Hostie und deren ritueller Schändung. Damit, so hieß es, inszenierten die Juden ihre Ermordung Christi erneut. Wenn ein Christenkind – vor allem in der Zeit des Pessach und in der Osterzeit – verschwand oder unter mysteriösen Umständen verstarb, kam es zu Spannungen, und manchmal nahmen Christen die Gerechtigkeit selbst in die Hand und massakrierten den fälschlich Beschuldigten. Schwierige politische Umstände und eine angebliche Entweihung der Hostie führten in einigen deutschen Städten zu judenfeindlichen Aufständen, bei denen 5000 bis 6000 Juden ermordet wurden.

    Die Juden lebten weiterhin in der Angst vor Verfolgung, Einschränkungen und maßlos hohen Steuern. Dennoch bauten sie ihre Gemeinden wieder auf und gründeten neue, und manche von ihnen waren Ende des 13. Jahrhunderts zu Wohlstand gelangt. Ein halbes Jahrhundert später kam es erneut zu wirtschaftlichen und politischen Spannungen, als Hunger, Armut und eine große Pestepidemie Europa verwüsteten. Der Schwarze Tod, der von 1346 bis 1351 schätzungsweise 25 Millionen Menschen – ein Drittel der Bevölkerung Europas – dahinraffte, verschonte auch die Juden nicht, da vor allem die dicht bevölkerten Städte entlang den Handelsstraßen davon heimgesucht wurden. Für die Massen war es einfach, sich der verleumderischen Klage anzuschließen, die Inkarnation des Teufels habe – wie in früheren Zeiten – die Brunnen vergiftet, um die Christen zu vernichten. Mit diesem Hetzschrei ermordete der Pöbel diejenigen Juden, die die Pest überlebt hatten, und es wurden mindestens 300 jüdische Gemeinden zerstört.

    Die wenigen überlebenden Juden durften nicht in ihre Heimatorte zurückkehren. Wo immer dies möglich war, ließen sie sich in benachbarten Dörfern nieder, so daß sie ihre Geschäfte mit ihren früheren Kunden wieder aufnehmen konnten. Kaum hatten sie sich jedoch niedergelassen, wurden sie zuweilen vom Herrn des Dorfes aus einer Laune heraus wieder verjagt. Gelegentlich lebten ein oder zwei Familien in einer Stadt, aber Gesetze oder Vorschriften schränkten ihre Tätigkeiten stets ein. Während sich zahlreiche Christen Familiennamen zulegten, um sich als Mitglied der Gesellschaft des 16. Jahrhunderts auszuweisen, verwendeten die meisten Juden immer noch ihren hebräischen Vornamen, gefolgt vom Vornamen ihres Vaters.

    Das Leben der Juden in Mitteleuropa war nicht so vielversprechend, als daß sie bessere Aussichten anderswo völlig ignorieren konnten. Vom 13. bis zum 15. Jahrhundert waren viele Juden aus Mitteleuropa in die osteuropäischen Gebiete in Polen und Litauen ausgewandert, wo die Herrscher eine wirtschaftliche Mittelklasse schaffen wollten und deshalb bessere Entfaltungsmöglichkeiten boten. Sie nahmen das Hochdeutsch und den jüdisch-deutschen Dialekt mit, den sie seit Jahrhunderten gesprochen hatten. Von seinen deutschen Ursprüngen abgetrennt, wurde dieser Dialekt zur Grundlage des Ostjiddisch. In jenen Jahrhunderten wuchs die jüdische Bevölkerung im damaligen Polen und Litauen von 5000 auf 30000 Menschen an.

    In den deutschsprachigen Gebieten fanden die Themen der mittelalterlichen antijüdischen Literatur einen neuen Sprecher in dem protestantischen Reformator Martin Luther. In seinen frühen Jahren versuchte dieser, die Juden zum Christentum zu bekehren, aber als sie seine Lehren nicht annehmen wollten, änderte sich seine Haltung: Nach 1530 predigte er seinen Anhängern eine strenge judenfeindliche Doktrin und veröffentlichte mehrere Pamphlete, beispielsweise Von den Juden und ihren Lügen und Vom Sehem Hamphoras und vom Geschlecht Christi. Luther erklärte, daß er keinerlei Mitleid mehr mit den Juden und ihrer erbärmlichen Lage habe, da sie ihr Leiden wohlverdient hätten, weil sie sich weigerten, zum Christentum überzutreten, und somit seien sie »junge Teufel, zur Hölle verdammt«. Er sprach ausdrückliche Empfehlungen an seine Anhänger aus:

    Daß man ihre Synagoge oder Schule mit Feuer anstecke und, was nicht verbrennen will, mit Erde überhäufe und beschütte … Daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre … Daß man ihnen nehme alle ihre Betbüchlein und Talmudisten … Daß man ihren Rabbinern bei Leib und Leben verbiete, hinfort zu lehren … Daß man den Juden das Geleit und Straße ganz und gar aufhebe … Will das nicht helfen, müssen wir sie wie die tollen Hunde ausjagen.

    Luthers Pamphlete riefen Bestürzung hervor – sowohl unter den Juden als auch unter bekannten Protestantenführern –, und sie erfuhren nur begrenzte Verbreitung. Vielleicht waren die Schärfe der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen und die Bedeutung der Juden im Wirtschaftsleben jener Zeit dafür verantwortlich, daß keine seiner Empfehlungen gegen die Juden umgesetzt wurden.

    Die religiösen Bewegungen im 16. Jahrhundert führten dazu, daß jeder Landesfürst über die Religionszugehörigkeit seiner Untertanen bestimmen konnte. Ein letzter großer Machtkampf, der Dreißigjährige Krieg (1618–1648), erschütterte die deutschen Regionen, als sich Katholiken und Protestanten bekämpften und dabei große Teile Mitteleuropas zerstört wurden. Einige jüdische Händler und Kaufleute konnten ihre Geschäfte ausbauen. Eine kleine, elitäre Minderheit, die Hofjuden, wurde aufgefordert, die finanziellen Bedürfnisse des Königshauses, des Hochadels und der katholischen Kirche zu erfüllen.

    Durch den Krieg benötigten viele Regenten dringend Bargeld, um ihre Armeen sowie ihren verschwenderischen Lebensstil zu finanzieren. Sie griffen auf die Dienste der Geldverleiher und Lieferanten zurück. Darüber hinaus besaßen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation über dreihundert Adlige und die Kirche kleine autonome Hoheitsgebiete oder Staaten. Einige dieser unabhängigen Regenten forderten Juden auf, sich in ihrem Land niederzulassen, so daß nach und nach kleine Siedlungen auf dem Land entstanden. Kein Herrscher gab jedoch vor, daß er sie aus humanitären Gründen geduldet hätte. Sie dienten vielmehr dazu, die Zahl der steuerpflichtigen Untertanen des Regenten zu mehren und die Möglichkeiten für Handel und Geschäft auszubauen. Sie stellten einen Vermögenswert dar – genau wie Ländereien und Gebäude.

    Wie hatten sie ihr jüdisches Leben durch die Jahrhunderte der Zerrissenheit hindurch beibehalten können, als es ihnen nicht erlaubt war, in jüdischen Gemeinden zu leben? Manchmal waren sie vielleicht nicht in der Lage gewesen, das Quorum von zehn erwachsenen Männern für das gemeinsame Gebet, das Minjan, zu bilden oder die Mazzoth, die ungesäuerten Brote, für Pessach zu backen, oder auch Wein für den Kiddusch, die feierliche Weinsegnung, zu beschaffen. Aber das jüdische Leben konnte überleben, und aus diesen Zeiten ging eine Kontinuität des Glaubens, der Geschichte und der Bräuche hervor.

    Nachdem sie jahrhundertelang in kleinsten Gruppen versprengt gewesen waren, konnten sich die jüdischen Familien nun wieder zum Gottesdienst versammeln und ihre religiösen Gemeinden bilden. Die Familien Kaz und Berlizheimer gehörten zu denjenigen, die sich in Mühringen ansiedeln durften. Der Ort war eines unter Hunderten von kleinen Dörfern und Weilern in Süddeutschland und lag am oberen Neckar zwischen dem Schwarzwald und der Schwäbischen Alb. Mühringen war an einen steinigen Hügel gebaut, und anstelle von Straßennamen war jedes Gebäude durch seine Lage im oberen, mittleren oder unteren Teil bezeichnet. Vom Oberdorf aus führte ein steiler Weg in den Ort Nordstetten und weiter in die Marktstadt Horb am Neckar. Der Fluß Eyach verlief vom Unterdorf zum nur wenige Kilometer entfernten Neckar.

    Die Besitzer von Mühringen wechselten in dieser Zeit einige Male. Die Feudalherren gestatteten jedoch weiterhin die Ansiedlung der Juden, und 1677 stellten diese acht der 25 Steuerzahler. 1735 war der Freiherr von Münch, ein Bankier aus Augsburg, zum Feudalherrn von Mühringen und zweier benachbarter Dörfer geworden. Seine kleine Schloßfestung erhob sich auf einem Hügel über dem Ort. Bis Mitte des 18. Jahrhunderts hatte er die Anzahl der Juden auf 44 Handelsleute anwachsen lassen, 37 von ihnen waren Steuerzahler. Einige von ihnen waren wahrscheinlich Nachkommen der Juden, die Jahrhunderte zuvor aus Horb und aus Rottweil vertrieben worden, jedoch aus Gründen des Handels in der Gegend geblieben waren.

    Nur wenige jüdische Familienaufzeichnungen hatten die Jahrhunderte der Unruhen überdauert. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es Joseph David Berlizheimer oder seinen Eltern, David und Nanette, gestattet gewesen, sich in dieser Zeit in Mühringen anzusiedeln. Sie kamen wohl aus dem Dorf Markt Berolzheim, das im frühen 18. Jahrhundert eine Synagoge und ein Gemeindebad unterhielt. Die Zuwanderer waren rund zweihundert Kilometer nach Westen in ihre neue Heimat gezogen. Gustels Großeltern, Löw (Leopold) Kaz und Karoline, ließen sich vor 1766 hier nieder. Ihr Familienname gibt keinerlei Hinweis auf ihre Herkunft, denn der Name »Kaz« bedeutet nur, daß sie Kohanims, Nachkommen des Stammes von Aaron, den Priestern des Tempels in Jerusalem, waren. Ihr Sohn Moises heiratete 1779 im Alter von 29 Jahren. Seine Braut Sara war die vierzehnjährige Tochter von Samuel.

    Genau wie früher ihre Vorfahren an anderen Orten, bildeten diese Familien eine Religionsgemeinschaft. Es handelte sich dabei nicht um freiwillige Gemeinden. Eher – wie die Christen notwendigerweise zu einer Kirche gehörten – wurden die Juden an einem Ort dessen religiöser Gemeinde angeschlossen. Jeder verheiratete Mann war Mitglied der Kehilla, der Gemeinde, die für die Leitung ihrer Mitglieder und deren Vertretung in weltlichen Dingen zuständig war. Diese Organisationsform kam den Regenten sehr entgegen, die ihre Untertanen über diese Gemeinschaften besteuerten. Da die Pflicht zur Zahlung der erhobenen Steuern der ganzen Gemeinde auferlegt wurde, mußten deren reichere Angehörige oft für Zahlungen bürgen und sogar die Steuern für die ärmeren Mitglieder entrichten. Die Gemeinde bezahlte zudem Steuern, die ihr der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation pauschal auferlegte.

    Die Mitglieder dieser lokalen Gemeinden wurden zu einer größeren Landjudenschaft zusammengefaßt, die es nur in den deutschsprachigen Gebieten gab und die ihre Angelegenheiten selbständig regelten. Die Gemeinden im Umkreis von Mühringen schlossen sich zum Schwarzwaldkreis zusammen, der sich um den dringendsten Bedarf der Region – eine geweihte Begräbnisstätte – bemühte. Die Landjudenschaft richtete einen eingezäunten Friedhof ein und bezahlte dessen Kosten. Jede Gemeinde zahlte einen Beitrag für seine Unterhaltung. Ihr wurde ein kleines, bewaldetes Landstück an einem steilen Hügel im Mühringer Wald, etwa 400 Meter vom Ortskern entfernt gelegen, zugewiesen.

    Bis 1728, als man der Gemeinde den Bau einer Synagoge gestattete, beteten und studierten die Mühringer Juden in Privathäusern. Die Synagoge wurde am höchstgelegenen Punkt des Hauptortsteils errichtet und erfüllte so die Auslegung des Thora-Spruches, daß eine Synagoge höher als die anderen Häuser sein soll. Da sich die Juden sicherlich bewußt waren, daß die Ortskirche alle anderen Gebäude überragen sollte, war das Dach der Synagoge niedriger als der Kirchturm der katholischen Kirche am Fuße des Hügels. Üblicherweise verkaufte die Gemeinde die Rechte an den Sitzen in der Synagoge an ihre Mitglieder, um ihre Einkünfte zu erhöhen, und diejenigen mit einem ausreichenden Vermögen steuerten zusätzliche Gelder sowie rituelle Gegenstände bei. Es war keine Überraschung, daß manche Mitglieder für ihre Sitze in mehreren Raten bezahlen mußten. Das geschah beispielsweise, als Joseph Epstein für sich einen Sitz in der Männerabteilung »neben David Marx« sowie einen weiteren im Frauenbereich »neben Gustel Hirsch« erwarb. Die Kosten dafür waren mit 72 Gulden, verglichen mit anderen festen Preisen (120 Gulden für eine Wohnung), recht hoch. Die Plätze der Frauen waren durch eine hölzerne Abschirmung oder einen Vorhang von der Männerabteilung abgetrennt.

    Jüdischer Friedhof in Mühringen: Getreu den Sitten und Gebräuchen waren alle Grabsteine nach Osten in Richtung des ehemaligen Standorts des alten Tempels in Jerusalem ausgerichtet. Alle Inschriften wurden in hebräischen Buchstaben eingraviert.

    Die Landjudenschaft stellte 1728 ihren ersten Rabbiner ein, nämlich Rabbi Elias Weil aus Haigerloch. Für seine Dienste bekam er ein Gehalt und eine Wohnung. Der zweite Rabbiner, Rabbi Nathanael Weil (Nethanel ben Naphtali Zevi Weil), brachte die Schatten der schwerwiegenden Ereignisse in entfernten Teilen Europas mit in die

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