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Höhere Tochter, Weltkrieg und Inflation: Erinnerungen aus dem alten Dresden 1900 bis 1925
Höhere Tochter, Weltkrieg und Inflation: Erinnerungen aus dem alten Dresden 1900 bis 1925
Höhere Tochter, Weltkrieg und Inflation: Erinnerungen aus dem alten Dresden 1900 bis 1925
eBook522 Seiten6 Stunden

Höhere Tochter, Weltkrieg und Inflation: Erinnerungen aus dem alten Dresden 1900 bis 1925

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Über dieses E-Book

Gertraude Bossel, 1900 in Dresden geboren und dort aufgewachsen, führte ihr Leben lang Tagebuch und schrieb in hohem Alter ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen aus ihrer geliebten Heimatstadt auf. Die Arzttochter wächst mit den Privilegien "höherer Stände" in einem Stadthaushalt auf, wird auf einer Privatschule für "höhere Töchter" und später auf einer "Frauenschule" auf eine eher traditionelle Frauenrolle vorbereitet, entzieht sich dieser aber in den Nachkriegswirren des Ersten Weltkriegs, macht im Abendstudium ihr Abitur, studiert Kunstgewerbe, schlägt sich mit allerlei Jobs durch und promoviert später in Volkswirtschaft.
Die scheinbar heile Welt ihrer Kindheit und Jugend zur Kaiserzeit im Königreich Sachsen ist geprägt von Standesunterschieden und den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts, aber technische Neuerungen verändern bereits allmählich das tägliche Leben. Durch den Ersten Weltkrieg wird diese Welt völlig umgekrempelt. Nach Hungerjahren und Kriegselend geht es während der Inflationszeit nur noch ums Überleben.
Der Text, sowie viele alte Fotografien und Tuschezeichnungen, die die Autorin als junge Kunststudentin im alten Dresden anfertigte, vermitteln ein authentisches Bild einer Epoche des Umbruchs in der im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstörten Stadt. Das Buch ist eine liebevolle Erinnerung an Menschen und Orte, Zeiten und Geschehnisse, die zwar längst vergangen sind, die aber unsere Geschichte bis heute prägen.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum24. Feb. 2015
ISBN9783738675801
Höhere Tochter, Weltkrieg und Inflation: Erinnerungen aus dem alten Dresden 1900 bis 1925
Autor

Gertraude Bossel-Gmeiner

Gertraude Bossel (geb. Gmeiner) wurde 1900 in Dresden geboren und erlebte vor dem Ersten Weltkrieg eine unbeschwerte Kindheit in dieser Stadt. Unter den schwierigen Bedingungen der Nachkriegs- und Inflationszeit machte sie ihr Abitur in Abendkursen, studierte Kunstgewerbe, arbeitete u.a. als Fremdsprachensekretärin, studiert dann Volkswirtschaft und promovierte 1931 in Freiburg. 1934 heiratete sie den Forstbeamten Hans Bossel, folgte ihm auf seine verschiedenen beruflichen Stationen, zog vier Kinder groß und bewirtschaftete bis zur Pensionierung ihres Mannes Haus, Hof und Garten seines Forstamts in Nordhessen. Sie starb 1992 in Bad Wildungen.

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    Buchvorschau

    Höhere Tochter, Weltkrieg und Inflation - Gertraude Bossel-Gmeiner

    1921)

    Kindheit in gutbürgerlichem Haushalt 1900 bis 1907*

    * aufgeschrieben in den Jahren 1967 bis 1968

    Familie und früheste Erinnerungen

    Das 20. Jahrhundert, auf das einst so große Hoffnungen gesetzt wurden, ist nun schon zu zwei Dritteln vergangen. Dieser Zeitraum umfasst zugleich die Spanne meines bisherigen Lebens, denn ich bin ein Kind des Jahres 1900.

    Meine Generation hat viel erlebt. Wir haben Geschichte erlebt, bitterste Geschichte für mein Vaterland und meine engere Heimat. In dem Alter der größten Begeisterungsfähigkeit, in der ersten bewussten Jugend zerbrach alles, worauf wir stolz waren und unsere Zukunftshoffnungen gebaut hatten. Viele meiner Altersgenossen verloren bereits nach dem Ersten Weltkrieg den Mut und warfen ihr Leben fort. Andere wanderten aus oder sie verfielen der Verneinung, dem Pessimismus in den Zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts, die jetzt oft die „goldenen" genannt werden.

    Diejenigen, die die Kraft hatten, sich noch einmal für neue Ideale zu begeistern und für das einzusetzen, was sie aus ihrem Blickfeld für gut und richtig halten konnten, wurden so schwer getäuscht, wie wohl selten gläubige und opferbereite junge Menschen getäuscht worden sind. Darüber wurden sie, wurde meine Generation alt und müde.

    Wenn meine Kinder, die selbst im Begriff sind, mit neuem Glauben, mit neuen Idealen und Hoffnungen ihr Leben aufzubauen, mich bitten aufzuschreiben, was ich erlebte, so möchte ich nicht von diesen Geschehnissen erzählen.

    Ich möchte mich auf unseren Tageslauf beschränken, auf das Leben in der Kinderstube und Familie in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Gerade der Alltag hat sich in den letzten fünfzig Jahren so grundlegend geändert, dass es für die Enkel vielleicht einmal ganz aufschlussreich ist, außer der Jugend der Großmutter auch den Wirkungskreis der Urgroßmutter kennen zu lernen.

    Vielleicht gelingt es mir meinen Kindern einen Begriff davon zu geben, wie das Leben der Familie in jenen fernen Tagen ablief, die für sie schon Geschichte sind. Noch sind meine Erinnerungen frisch und doch könnte ich sie anfangen wie ein Märchen „es war einmal…"

    Die Dresdener Innenstadt, in der ich aufwuchs, wurde am 13. und 14. Februar 1945 zerstört. Es ist alles vergangen, in Flammen verloht, in Schutt und Asche gesunken, was uns einst umgab. Mir ist, als sei mit meiner Vaterstadt eine ganze Zeit versunken, die Zeit unserer glücklichen Jugend in der alten, schönen Barockstadt an der Elbe.

    Von dem – baulich nicht bemerkenswerten – Stadtteil zwischen dem Neuen Rathaus und dem Hauptbahnhof stand nach dem Luftangriff kaum noch ein Haus. Auch die Christianstraße, in der ich zwei Jahre nach meinem Bruder Gerhard geboren wurde, ist ganz verschwunden.

    Eltern und Großeltern

    Mein Vater Kurt Gmeiner, ein junger und begabter Arzt mit aufblühender Praxis, stammte aus einer in Dresden eingewanderten Handwerkerfamilie. Die Vorväter hatten als Schiffer in Grein an der Donau gesessen. Mein Urgroßvater, der in Wien das Weißgerberhandwerk erlernt hatte, kam um 1820 auf der Wanderschaft nach Dresden. Er fand Arbeit bei Meister Klette in der Brüdergasse, dem Gründer des später sehr bekannten Pelzhauses Klette. Urgroßvater blieb in Dresden und brachte es bald zu Ansehen und einem gewissen Wohlstand. Er erwarb das alte Haus „Zur Purpurschnecke in der Flemmingstraße – Ecke Annenstraße und gründete eine Familie. Im Jahre 1842 wurde er Schützenkönig der Dresdner Vogelwiese. Noch besitze ich einen silbernen Löffel mit der fast verwischten Aufschrift „dem besten Nagel 1842.

    Sein Sohn, mein Großvater, erlernte gleichfalls das väterliche Handwerk, insbesondere französische Gerberei in Paris, Wien, München und Berlin. Später gründete er eine kleine Handschuhmanufaktur und nannte sich Fabrikant.

    Als junger Bursche, im Revolutionsjahr 1848, als Richard Wagner am Postplatz auf der Barrikade stand, hatte Großvater Georg Gmeiner den Aufständischen Kugeln zugetragen. Die einrückenden Preußen hatten ihn gefangen und er sollte erschossen worden. Seiner Jugend verdankte der Sechzehnjährige, dass man ihn schließlich laufen ließ. Die Wohnung der Urgroßeltern in der Flemmingstraße lag ganz in der Nähe des Postplatzes, wo damals die ernstesten Zusammenstöße erfolgten.

    Meine gute Großmutter Gmeiner war ein Meißner Kind. Sie stammte aus der wohl heute noch bestehenden Fleischerei Steude. Wie und wo die Großeltern sich kennen lernten, weiß ich nicht. Es gab damals noch wenig Eisenbahnen und war nicht so leicht, von Dresden nach dem 24km entfernten Meißen zu gelangen. Um seine Braut besuchen zu können, erlernte mein verliebter Großvater die Reitkunst.

    Gern erzählte mein Vater, wie der Großvater beim Heimritt von einem solchen Sonntagsbesuch in Meißen – bei dem er sicher auch von dem Wein aus Onkel Fritz Steudens Weinberg (dem späteren Weingut Kapitelberg) getrunken hatte – die Schatten, die die Pappeln auf die mondbeschienene Landstraße warfen, für Hindernisse hielt und sämtlich kunstgerecht übersprang.

    Später ließ der Großvater das elterliche Wohnhaus abreißen und baute vorn am Beginn der Flemmingstraße zwei vierstöckige Wohnhäuser, die 1945 zerstört wurden. Hier wurde mein Vater 1867 geboren. Er wuchs in der Nähe des alten Queckbrunnens auf, in jener Gegend, in der einst das sorbische Fischerdorf stand, aus dem die Stadt Dresden sich entwickelte.

    Mein Vater, der noch unverkennbar das österreichische Temperament und die Musikalität seiner Vorfahren besaß, war sehr vielseitig und hochbegabt. Die Kreuzschule, die er als Gymnasiast besuchte, machte ihm sicher nicht viele Sorgen und ließ ihm genügend Zeit, um sich seinen Liebhabereien zu widmen. Er verbrachte seine Jugend in Ungebundenheit am Elbufer und vor allem auf Streifzügen durch das nahe Ostra-Gehege. Hier lernte er Pflanzen, Tiere und Steine kennen. Er wurde ein leidenschaftlicher Käfersammler und besaß schon als Schüler eine umfangreiche und schöne Sammlung. Vater behielt die große Liebe zur Natur bis in sein hohes Alter. Er verfügte über gründliche naturwissenschaftliche Kenntnisse.

    Als Vater sich nach dem Abschluss seiner Kreuzschulzeit dem Studium der Medizin zuwandte, war wahrscheinlich für die Berufswahl das Interesse für die Naturwissenschaften bestimmender als der Wunsch, leidenden Mitmenschen zu helfen. Die ersten Semester verbrachte Vater in Marburg. Dieser Stadt und dem Corps Teutonia, bei dem er 1886 aktiv wurde, bewahrte er lebenslang eine herzliche Zuneigung. Auf der Gefallenen-Gedenktafel im Teutonen-Corpshaus in Marburg ist er – an den kein Grabstein erinnert – unter den Zivilopfern des Zweiten Weltkrieges genannt.

    Nach den Jahren in Marburg studierte Vater längere Zeit in dem von ihm sehr geliebten München, später noch in Wien und Paris. Er schloss sein Studium an der sächsischen Landesuniversität Leipzig mit Staatsexamen und Doktorprüfung summa cum laude ab. Assistentenjahre am Friedrichstädter Krankenhaus in Dresden gingen seiner Niederlassung als Arzt voraus.

    Wie die Vorfahren des Vaters, so waren auch die Vorfahren meiner Mutter ursprünglich als Handwerker nach Dresden gekommen, nur lag das etwa 100 Jahre weiter zurück. Ein Müllersohn aus Oberwiesenthal im Erzgebirge hatte sich als Bäcker, genannt „der Lilienbäck" um 1700 in Dresden niedergelassen. Seine Nachkommen wurden Juristen und Mediziner und gehörten schon seit einigen Generationen zum gehobenen Bürgertum meiner Vaterstadt. Urgroßvater Beschorner, Geheimer Justizrat, wohnte in der Pragerstraße. Großvater Hofrat Beschorner praktizierte als Arzt in der Viktoriastraße 6, gegenüber der Bankstraße, wenige Straßen entfernt von seinem Elternhaus.

    Die Großmutter Beschorner, geb. Küstner, war in Leipzig aufgewachsen. Über 200 Jahre, bis zur Auflösung 1875, war das angesehene Bankhaus Küstner im Besitze dieser Familie. Zu den Vorfahren der Großmutter Beschorner gehören zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten der Stadt Leipzig, Innungsmeister, Pfarrer, Gelehrte und vor allem sehr viele Universitätsprofessoren aller Fakultäten. Großmutter Beschorner erzählte mit Stolz, dass auch Goethe im Hause ihrer Großeltern, des Präsidenten Bock, verkehrt habe.

    Mein Ur-Urgroßvater Bock, geb. 1786 in Leipzig, zuletzt Präsident des Appellationsgerichts in Leipzig, wurde 1813 unter Goethe Großherzoglicher Weimarischer Regierungsrat in Weimar.

    Meine Mutter wurde 1875 in der Viktoriastraße geboren und wuchs auch in dieser Stadtwohnung auf. Sie besuchte die nahe Elisabethschule an der Bürgerwiese. In der Selekta, dem freiwilligen 10. Schuljahr, wurde sie auf Wunsch ihrer Großmutter vom Chemieunterricht befreit, weil dieses Fach doch „gar zu unweiblich" sei.

    Nach der Schule erhielt Mutti eine der Zeit entsprechende sorgfältige Ausbildung in den schönen Künsten. Sie hatte das in der Beschorner-Familie häufig auftretende Zeichentalent geerbt und nahm Malstunden, erhielt aber auch trotz sehr geringer musikalischer Begabung jahrelang Klavierunterricht. In weiblichen Handarbeiten war sie sehr geschickt und lernte außer dem Nähen und Sticken auch das Spinnen. Sie hat wohl alle damals in Mode kommenden Handfertigkeiten und Techniken gekonnt und ausgeübt, einschließlich Brandmalerei, Porzellanmalen und Lederpunzen. Die Ausbildung in Haushaltsführung und Kochen kamen darüber nicht zu kurz. Im übrigen wurde sie aber in der Vorstellung erzogen, dass eine Tochter in erster Linie „zur Freude ihrer Eltern" da sei.

    Vielleicht als Erbe ihrer Handwerkervorfahren hatten meine Eltern beide ganz ungewöhnlich geschickte Hände und viel Freude an kunstgewerblichen Arbeiten und Handfertigkeiten. Den Umbruch von der Stilverwilderung des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu den ersten Bemühungen um künstlerische Gestaltung der alltäglichen Gebrauchsgegenstände (Werkkunst- und Jugendstilbestrebungen) verfolgten beide mit größtem Interesse.

    Wie so manches Dresdner Ehepaar hatten auch meine Eltern sich auf einem Ball der Gesellschaft „Harmonie kennen gelernt. Dieser vor Generationen gegründete gesellschaftliche Verein, dem in der Mehrzahl wohl die „Akademiker angehörten (die Kaufleute trafen sich in der „Ressource, die Offiziersfamilien der Neustadt im „Kasino) besaß ein schönes, altes Barockhaus in der Gewandhausstraße. In den großen, festlichen Sälen der „Harmonie" haben auch wir noch auf manchem Ball und mancher Hochzeit getanzt.

    Geschwister und erste Erinnerungen

    Im Oktober 1897 heirateten meine Eltern und wohnten zunächst in der Christianstraße. Hier wurde ich – zwei Jahre nach meinem Bruder Gerhard – am 5. 6.1900 geboren. Mein Vater eilte zum Standesamt und meldete die Geburt einer Tochter „Johanna (nach den beiden Großmüttern) „Hertha (nach der Mutter) „Gertrude" an. Warum gerade Gertrude, habe ich nie erfahren können. Schon nach wenigen Tagen entschlossen sich die Eltern, mich Gertraude zu nennen. Ich bin nie anders genannt worden, obwohl der Name amtlich trotz Antrags nicht mehr geändert wurde.

    Im September 1901 zogen wir in eine größere Wohnung Lüttichaustraße 30, zwei Treppen hoch, deren Hauptfront nach Süden, zur Sidonienstraße lag. Es war eine große und helle Wohnung, in der ich meine ganze Kinderzeit verbrachte und an die ich noch sehr viele und genaue Erinnerungen habe. 1902 wurde mein zweiter Bruder Helmut und 1907 meine Schwester Elfriede geboren.

    Die sehr frühen Erinnerungen werden wohl oft von späteren, ähnlichen überdeckt. Nur wenige, oft wiederholte Erlebnisse, deren Dauer begrenzt war oder Ereignisse, die an gewisse Orte gebunden sind oder die sich durch Einmaligkeit heraushoben, z.B. Todesfälle, kann man später noch zeitlich festlegen. Manche Erinnerungen sind ganz allgemein und betreffen Dinge. So kann ich mich noch gut an meine Milchflasche erinnern, die ich sehr liebte und mir bis ins zweite Lebensjahr vormittags in der Küche holen durfte, um sie in einem stillen Winkel genüsslich auszutrinken.

    Andere Erinnerungen dagegen sind scharf umrissen, bildmäßig, wie Momentaufnahmen. Ein Weihnachtserlebnis gehört zu diesen Erinnerungen, von denen mir nichts erzählt wurde. Erst als ich erwachsen war, bestätigte mir meine Mutter dies Erlebnis.

    Schattenhaft sehe ich die unteren Zweige eines auf dem Fußboden stehenden Christbaums, unter denen eine Krippe mit Tieren und Zäunen rundum aufgebaut ist. Wahrscheinlich war es das Weihnachtsfest 1901. Ich war gerade einundeinhalbes Jahr alt und stand wohl noch sehr wacklig auf meinen Beinchen. Noch weiß ich, wie ängstlich ich mich bemühte, an der Krippe vorbeizusteuern und wie sehr sie mich doch anzog, bis ich das Gleichgewicht verlor und schließlich mitten in der Bescherung saß. Wie meine Mutter mir später erzählte, hat sich dieses Missgeschick mehrfach wiederholt. Es hat sich mir deshalb wohl so stark eingeprägt. Die fehlenden angeleimten und geschienten Beine der Kamele, Ochsen und Esel zeugten noch jahrzehntelang von diesem Unglück. Erst nach dem ersten Krieg ersetzte Vater die Krippenfiguren durch neue, holzgeschnitzte aus dem Erzgebirge.

    Ich sehe mich, noch sehr klein, in einem rosa Kleidchen und mit Flügeln, ferner einen langen, hellen Gang, wohl mit einem Glasdach darüber. Mein Bruder Gerhard und ich stehen wartend da, im besten Staat und mit dem Gefühl, dass etwas ganz Besonderes bevorsteht. Als ich meine Mutter später einmal fragte, was diese Bilder wohl bedeuten könnten, erzählte sie mir, dass ich zum 70. Geburtstag meines Großvaters Gmeiner, im November 1902, als „Frühling" in einem rosa Seidenkleidchen mit Flügeln ein Verschen aufgesagt hätte. Der Gang sei wohl das Atelier des Hofphotographen Hahn in der Ferdinandstraße gewesen. Dort wurden wir kurz nach der Taufe meines 1902 geborenen Bruders Hans Helmut für die Großeltern photographiert.

    An Helmuts Taufe habe ich nur noch ganz schwache Erinnerungen. Einer der Paten brachte uns Kindern die von Zumbusch illustrierten Kinderliederbücher mit. Wir haben sie sehr geliebt und immer wieder angesehen. Ich besitze das meine noch.

    In mein drittes und viertes Lebensjahr gehören die Erinnerungen an die beiden Großväter, die wir so früh verloren haben. Großvater Beschorner starb im Juli 1904 an Halskrebs. Großvater Gmeiner folgte ihm Anfang 1905. Er erlag unversehens einem Herzschlag.

    Der Großvater Beschorner war ein großer, stattlicher Mann, eine würdevolle Erscheinung. Nach der Mode der Zeit trug er einen Vollbart, der noch dunkel war. Im Haus hatte er meist eine braune, mit Tressen eingefasste Samtjacke an, wie man sie auch auf den Bildern Richard Wagners sehen kann. Später übernahm auch mein Vater diese bequeme Tracht. Großpapa hatte eine sehr ruhige und gütige Art. Er flößte seiner Umgebung gleicherweise Zutrauen und Respekt ein. Wir liebten ihn sehr. Er beschäftigte sich, soweit es seine Zeit erlaubte, auch viel mit Gerhard und mir. In der Zeit vor und nach Helmuts Ankunft verbrachten wir oft ganze Tage bei den Großeltern. Bei Tisch durften wir von einem goldenen Löffel essen und unser Wasser aus einem blauen Glas oder einem Glas in Stiefelform trinken.

    Manchmal nahm Großvater uns mit in sein Zimmer. In der Schreibtischschieblade hatte er hochinteressante Dinge, z. B. marmorierte japanische Holzeier, in denen sich lange, aus Horn spiralenförmig geschnittene Schlangen befanden oder russische Holzpuppen, in denen immer kleiner werdende Püppchen steckten.

    Großpapa nahm uns auch öfters mit in den Zoologischen Garten, zu dessen Mitbegründern und ersten Aktionären er gehörte. Ich weiß noch, wie er mich an der Hand durch das Raubtierhaus führte. Abends durften wir dann still dabeisitzen, wenn er oder der noch unverheiratet im Hause lebende Onkel Hans Goethes Reinecke Fuchs vorlasen. Großmutter Beschorner, die nie ohne Handarbeit zu denken war, saß stickend oder strickend mit am Tisch mit der messingenen Petroleumlampe, deren weißer Glasschirm durch einen von uns Kindern bestickten grünseidenen Schmetterling abgedunkelt war.

    Wenn die Großeltern uns in der Pfingstzeit in Rathen an der Elbe besuchten, wo wir fast immer die Ferien verbrachten, malte der Opa uns lustige Figuren mit Kreide an das große Scheunentor. Es gibt davon eine von Onkel Herbert gemachte, sehr frühe Photographie. Meine Erinnerung stammt wohl erst aus dem folgenden Frühjahr.

    Nie wieder in meinem Leben habe ich Weihnachtsstimmung und Weihnachtszauber so stark empfunden, wie einmal durch ein winzig kleines Erlebnis, das ich meinem Großvater verdanke. Es muss im Jahre 1903 gewesen sein. Das war das letzte Weihnachtsfest vor Großvaters Tod. Wir Kinder warteten mit den Großeltern im Salon neben dem Esszimmer gespannt auf die Bescherung und auf die Eltern, die dem Christkind im Weihnachtszimmer noch halfen, die Kerzen am Baum anzuzünden. Wahrscheinlich war ich sehr ungeduldig.

    Mein mitleidiger Großvater nahm mich zur Tür des Weihnachtszimmers und öffnete sie einen kleinen Spalt breit. Einen Augenblick durfte ich mein Näschen hineinstecken. Ich sah den Baum nicht, aber die Kerzen brannten wohl schon. Das strahlende Licht, der Duft von Tanne und Wachs, das glänzende Parkett, auf das ich sah, haben mir einen zauberhaften Eindruck von geheimnisvoller Festlichkeit und Weihnachtsstimmung hinterlassen, der nie in späteren Jahren übertroffen wurde.

    Großvater war damals schon ein schwerkranker Mann. Gerade er, der Spezialist für Halskrankheiten war, hatte selbst Halskrebs, den man damals noch nicht operierte.

    In den ungewöhnlich heißen und trockenen Sommertagen des Jahres 1904 litt er unsäglich unter Durst, konnte aber nicht mehr trinken. Bis kurz vor seinem Tode hielt er noch Sprechstunden ab. Als er starb, waren die Eltern verreist. Tante Lisbeth Dumas aus Leipzig war gekommen, um uns zu hüten. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern, wie ich mit meiner Puppe Eddi auf dem „Tritt" von Muttis Nähecke saß und Tante Lisbeth versuchte, mir den Tod von Großvater Beschorner begreiflich zu machen. Ich war sehr traurig darüber, dass er uns verlassen hatte und ich ihn niemals wieder sehen sollte.

    Dann standen Gerhard und ich auf dem Balkon vorm Esszimmer, um die von ihrer Reise eilig zurückgekehrten Eltern zu erwarten. Endlich sahen wir sie vom Bahnhof kommend, an der Ecke Lüttichaustraße und Sidonienstraße auftauchen. Wie bitter enttäuscht waren wir, als sie uns gar nicht so fröhlich zuwinkten, wie wir das sonst gewöhnt waren und erwartet hatten.

    Den Großvater Gmeiner sahen wir seltener. Auch er hatte einen Backenbart, der aber schon weiß war. Dazu hatte er helle, blaue Augen, die mir sehr lustig in Erinnerung sind. Hin und wieder hat er Mutti mit uns Kindern zu einer Wagenfahrt eingeladen. Einmal fuhren wir von Edle Krone aus in den Tharandter Wald hinein. Meine Puppe Christel war natürlich dabei. Wie fühle ich noch den Schrecken, als sie mir plötzlich aus dem Wagen stürzte. Ich glaubte sie verloren. Aber der Wagen hielt, die Puppe wurde wieder eingesammelt und alles war gut.

    Als ich den Großvater Gmeiner zuletzt sah, wartete er auf meinen Vater, dessen Sprechstunde noch nicht beendet war. Großpapa kam zu uns ins Kinderzimmer, wo wir gerade unser Abendbrot aßen. Er tat, als ob er sich in Helmuts hohes Kinderstühlchen setzen wolle, was wir unendlich komisch fanden. Kurz darauf ereilte ihn der Tod, als er sich gerade die Stiefel für eine Wanderung anziehen wollte.

    Stallhof mit Blick auf das Schloss, mit Georgentor (Gertraude Gmeiner 1921)

    Leben im Hause

    Ehe ich weitere Erinnerungen aus meinen Vorschuljahren auskrame, möchte ich unsere Wohnung im zweiten Stock der Lüttichaustraße 30 und die Haushaltsführung jener Jahre etwas beschreiben.

    Die Lüttichaustraße bildete die direkte Verbindung zwischen dem Hauptbahnhof und der Bürgerwiese. Sie wurde mit dieser 1846 angelegt und bis zum Ende der 1860er Jahre fertig bebaut. Im ersten Abschnitt, zwischen Wienerplatz und Sidonienstraße, standen größere Einzelhäuser. Das Eckhaus Nr. 31 an der Sidonienstraße bewohnten später die Eltern von 1915 bis zu ihrem Tode 1945. Die übrige Lüttichaustraße bis zu den Anlagen war mit geschlossenen Blocks vierstöckiger Mietshäuser bebaut.

    In dem ersten dieser Blocks, Ecke Lüttichau- und Sidonienstraße, bezogen wir im Herbst 1901 eine große Achtzimmer-Wohnung. Die Hauptzimmerflucht lag nach der Sidonienstraße nach Süden. Es waren hohe und helle Räume in der für die damalige Zeit wohl sehr schönen Wohnung. Nur die Küche und unser Kinderzimmer lagen an der Rückfront des Hauses mit Blick in einen kleinen Hof und einige Gärten. Innerhalb der geschlossenen Quadrate, zwischen den Straßenzeilen, befanden sich damals noch Gärten. Später wurden sie mehr und mehr mit Werkstätten, schließlich mit Garagen zugebaut. In einigen dieser Gärten standen sogar große, alte Bäume, die wahrscheinlich noch aus dem einst in diesem Viertel befindlichen Struverschen Kur- und Selterswassergarten stammten. Unserem Kinderzimmerfenster gegenüber, zu den Häusern an der Mosczinskystraße gehörend, wuchsen einige große, schöne alte Robinien, auf deren Blütezeit wir uns stets freuten.

    Als wir einzogen, bestand unser Haushalt aus den Eltern, Gerhard und mir und einem Dienstmädchen. Die ärztliche Praxis war in der Wohnung. Heutzutage hat der Druck des immer größer werdenden Mangels an häuslichen Arbeitskräften so grundlegende Umstellungen und Vereinfachungen auf dem Gebiet der Haushaltsführung notwendig gemacht, dass man sich jetzt nur noch schwer vorstellen kann, wie viel Arbeit und Mühsal ein großer Stadthaushalt um die Jahrhundertwende mit sich brachte.

    Das Bild der sich langweilenden nur Staub wischenden Hausfrau oder Höheren Tochter jener Zeit war schon damals nur eine Romanfigur oder Karikatur der Witzblätter. Trotz der zwei, später drei dienstbaren Geister, die meiner Mutter für Haushalt, Kinder und Praxis zur Verfügung standen, hatte sie doch alle Hände voll zu tun, um den schwerfälligen Apparat des Haushalts in Gang zu halten, alle Aufgaben zu bewältigen und allen Anforderungen zu genügen, die an sie gestellt wurden.

    Dass Gespräche über Haushalt und Dienstboten auch in der Geselligkeit eine große Rolle spielten (heute soll es ja so etwas auch noch geben), darf nicht verwundern, noch weniger zu einen Lächeln reizen. Der Haushalt als solcher war noch nicht „wissenschaftlich durchleuchtet". Es gab kaum Lehrbücher. Tradition, Anlernung der Tochter durch die Mutter in jahrhundertealten Überlieferungen, spielten eine große Rolle. Beratungs- und Anregungsschriften, wie sie jetzt jede Illustrierte bringt, jede einschlägige Firma gratis verteilt, waren unbekannt. Das Gespräch von Hausfrau zu Hausfrau war der einzige Weg, um Erfahrungen auszutauschen, neue Anregungen zu erhalten und Verbesserungen kennen zu lernen. Die Erleichterungen, die man sich so schaffen konnte, waren gering genug.

    Petroleumlampen, Kachelöfen, Kohleherd und Speisekammer

    Um die Jahrhundertwende kannte man nur wenige der technischen Hilfsmittel, die wir heute so selbstverständlich im Haushalt benutzen und für unentbehrlich halten. Einige der wenigen Verbesserungen, die das 19. Jahrhundert dem Haushalt gebracht hatte, waren die Wasserleitungen und die Petroleumlampen.

    In den meisten Wohnungen befand sich nur eine Wasserzapfstelle und diese in der dunkelsten Ecke der Küche. Unter dem Messinghahn war meist ein unappetitliches, halbrundes, schwarzes gusseisernes Becken, die „Gosse", angebracht. In unserer neuen Wohnung gab es bereits ein Innenklosett mit Wasserspülung und einem winzig kleinen Handwaschbecken.

    In den Schlafzimmern standen Waschtische mit Porzellanwaschschüsseln und großen Wasserkrügen. Das Reinigen dieser Waschtische und das Auffüllen der Kannen nahm viel Zeit beim morgendlichen Zimmersäubern in Anspruch. Ein Bad hatten wir zunächst noch nicht. Eine große Zinkwanne wurde einmal in der Woche ins Kinderzimmer gestellt und mit warmem Wasser, welches in sämtlichen verfügbaren Töpfen auf dem Küchenherd erhitzt worden war, gefüllt. Erst 1906 wurde ein Bad in einer fensterlosen Rumpelkammer eingebaut. Wir waren sehr modern!

    Ja, wirklich, denn wir gehörten auch zu den fortschrittlichen Familien, die – wegen der Praxis – schon sehr früh über ein Telefon verfügten, das gegenüber der Küchentür auf dem Flur angebracht war und von Mutti bedient wurde. Dresden mit seinen damals etwa einer halben Million Einwohnern hatte wohl schon einige tausend Apparate, denn wir hatten bereits die Nummer 6049.

    Als einmal eines unserer Mädchen krank war, rief Mutti den Kassenarzt an: Dr. Wolf möchte sofort zu uns kommen. Mein damals vielleicht dreijähriger Bruder Helmut, kurz „Büb" genannt, brach daraufhin in ein fürchterliches Gebrüll aus und war nur schwer zu beruhigen. Er glaubte, unsere Mutter habe den Wolf herbeigerufen und fürchtete, gefressen zu werden.

    Die Erwärmung der Zimmer erfolgte durch hohe Kachelöfen, von denen jedes Zimmer einen besaß. Sie wurden mit Steinkohle geheizt. In der Küche stand – ebenfalls festgemauert in der Erde – ein sehr großer, weißer Kachelherd mit einem gesondert zu heizenden, hohen Aufbau, der zwei bis drei Brat- und Wärmeröhren enthielt. Diese wurden an allen größeren Feiertagen, bei Familienfesten und den unumgänglichen „großen Gesellschaften" und abendlichen Diners benützt. Wie viele Eimer Kohle mussten unsere Mädels wohl täglich aus dem Keller hoch schleppen. Erst die steile Kellertreppe, dann bis in das hochgelegene zweite Stockwerk hinauf. In jedem Zimmer wurde im Winter geheizt. Allerdings musste die Steinkohle nicht so häufig nachgefüllt werden, wie wir später auf dem Land Holz in die Kachelöfen nachlegen mussten.

    Gern gingen wir Kinder mit hinunter in den Keller. Es war so unheimlich. Mit der Kerze in der Hand, denn Taschenlampen gab es noch nicht, stieg man in die Tiefe, in der sich lange, dunkle Gänge befanden, wie in einem Bergwerk. Meistens ging die Kerze ein paar Mal aus. Dann standen wir Kinder ganz still im Stockdunklen, bis ein Streichhölzchen aufflammte und es wieder hell wurde. Viele verschlossene Türen mündeten auf den Gang. Jede Partei hatte ihre Kohlenkeller, in denen sich außer den Kohlen meist auch ein Weinschrank befand. Kartoffeln oder Lebensmittel konnten In diesen düsteren, schmutzigen Gelassen nicht aufbewahrt werden.

    Zur Beleuchtung der Wohnung dienten ausschließlich Petroleumlampen. Für jedes Zimmer hatte man eine Lampe, die man mit sich nahm, wenn man in einem unerleuchteten Raum vorübergehend zu tun hatte. Wir Kinder liefen dann mit oder blieben eine Weile im Dunklen zurück. Auf dem langen Flur und im Örtchen brannten winzige Lämpchen, nur gerade so hell, dass man sich zurechtfinden konnte. In der Küche hing eine Lampe an der Wand, die statt des Schirms eine aufrecht stehende, blank geputzte Messingscheibe hinter dem Brenner hatte. Diese sollte rückstrahlend das Licht verbessern. Es blieb trotzdem traurig trüb und man kann nicht verstehen, wie bei dieser Beleuchtung gearbeitet werden konnte.

    Die Petroleumlampen, mehr als ein Dutzend, putzte Mutti allmorgendlich selbst in der Küche. Die Mädchen machten das wohl nicht sorgfältig genug. Dann blakten und rußten die Lampen am Abend – oder aber, was genau so schlimm war – das Mittagessen schmeckte nach Petroleum.

    Die Fußböden der meisten Vorderzimmer waren mit Eichenholzparkett belegt. Es wurde mindestens einmal im Jahr beim Hausputz, dem „Großreinemachen, abgespänt, im Übrigen sicher wöchentlich neu gewachst und täglich gebohnert. Die restlichen Zimmer, darunter unser Kinderzimmer, hatten noch Dielen, wurden aber schon 1908, als das Linoleum aufkam, mit solchem in dem Muster „rotgranit ausgelegt.

    Damals liebte man hohe Räume. Die unseren maßen wohl über vier Meter und hatten entsprechend hohe Fenster, sogar fast überall Doppelfenster, die im Sommer herausgenommen und auf den Hausboden geschleppt wurden. Heute kann man sich nur schwer vorstellen, wie viel Zeit allein das Fensterputzen in Anspruch nahm. Nachdem Vater 1908 eine zweite, auf dem gleichen Treppenflur liegende Wohnung hinzu gemietet hatte, bewohnten wir außer Mädchenkammern, Küche und Nebenräumen vierzehn Zimmer. Meine Mutter stöhnte manchmal darüber, dass 32 große Fenster, die Doppelfenster nicht mitgezählt, ständig blank gehalten werden mussten.

    Beim Großreinemachen, zweimal in Jahr, erhielten sämtliche Fenster frische Gardinen. Selbstverständlich besaß man für jedes Fenster einen Wechsel der oft kostbaren, bestickten oder mit Klöppeleinsätzen versehenen Leinenvorhänge. Dunkle Wollgardinen und Stores, meist aus Tüll und Plauener Spitzen, liebten die Eltern nicht. Aber kleine Scheibengardinchen aus weißem Mull hatten wir im Esszimmer.

    Die schlimmste Belastung für die Hausfrau und ihre Hilfen war sicher die Behandlung der Wäsche. Es wurde viel Wäsche gebraucht und größter Wert auf sorgsame Pflege gelegt.

    Wenn ich allein daran denke, was ich kleine Person an Wäsche brauchte! Da war zunächst das Hemdchen mit angeschnittenen Achseln, aus feinem Baumwollstoff oder Halbleinen, mit Weißstickereien eingefasst. Darüber zog man mir ein Leibchen an, aus Köper, mit zwei Reihen von Beinknöpfen rundum, vorn, hinten und an den Seiten je zwei Stück. An die untere Reihe wurden die Strumpfhalter und Höschen, an die obere ein warmer Unterrock im Winter – von Großmutter Gmeiner aus weißer Wolle gestrickt – und im Sommer ein weißes Barchent-Röckchen geknöpft. Darüber kam dann noch ein so genannter „Anstandsrock" aus Batist mit Stüfchen und Fältchen reich verziert und natürlich, wie auch das Höschen, mit einer Falbel aus Schweizer Weißstickerei versehen. Sonntags und mittwochs gab es frische Wäsche, alles bestens gestärkt und gebügelt. Den Verbrauch an Kleidchen und Schürzchen und an Leinenwindeln und Babysachen für die Geschwister wage ich mir gar nicht vorzustellen. Die Bett- und Tischwäsche und natürlich die Herrenhemden und Kragen und Manschetten, weiß und abknöpfbar auch zu bunten Hemden getragen, wurden aus dem Haus gegeben.

    Die Wascheinrichtungen waren höchst primitiv. In den Küchen der Wohnungen durfte meist nicht gewaschen werden. Die Waschküchen, soweit es überhaupt welche gab, waren oft nicht viel mehr als Kellerlöcher. Ein Trockenplatz war zwar im Hof vorhanden. An manchen Tagen verdarb der Ruß der nahen, mit böhmischer Braunkohle geheizten Eisenbahn aber wieder viele Wäsche, die auf der Leine hing.

    War alles dann glücklich trocken, so musste die Wäsche gerollt werden. Alle Mangelwäsche wurde zu Haus vorbereitet, eingesprengt, gereckt und auf die langen „Rolltücher aus reinem, ungebleichtem Leinen gelegt. Diese wickelte man auf die „Rollhölzer, glatte etwa 1m lange Hartholzwalzen, so dick wie Nudelhölzer. Mit diesen kam die Wäsche dann in die großen, viereckigen, aus Weiden geflochtenen Wäschekörbe.

    Diese schweren Körbe trugen die Mädchen dann zu zweit zur „Rolle", die sich nicht weit von uns in der Lüttichaustraße in einer Kellerwohnung befand. Wir Kinder gingen gern und mit leichtem Gruseln mit. Das halbdunkle Kellergelass befand sich zur Hälfte unter der Erde. Vor dem Fenster war eine Grube, ein Lichtschacht, der mit einem Eisenrost bedeckt war. Er erlaubte nur einen Blick auf die Füße und das Schuhwerk der Vorübergehenden, was uns Kindern viel Spaß machte. In diesem Raum stand eine riesige, unheimliche Maschine. Sie bestand aus einem wohl drei Meter langen, vielleicht einen halben Meter hohen und sicher anderthalb Meter breiten Kasten, der mit großen, runden Steinen, die wahrscheinlich aus der Elbe stammten, gefüllt war, wie der Bauch des Wolfes mit Wackersteinen. In der Mitte dieses Ungetüms waren große, quietschende Zahnräder mit einer Kurbel angebracht. Das eine Mädchen musste mit viel Kraft diese Kurbel drehen, während das andere unsere Rollhölzer mit der darauf gewickelten Wäsche unter den Kasten schob. Schwerfällig und mit lautem Getöse und Gerumpel schob sich der schwere Kasten hin und her, bis die Wäsche den Ansprüchen der Hausfrau genügte. Zu Haus wurde sie dann zum Überfluss noch geplättet. Sogar die Windeln, die natürlich aus reinem Leinen waren, wurden so behandelt. Sie sahen schließlich festlicher aus, als heutzutage die heiß gemangelten Mundtücher.

    Gebügelt, oder wie man bei uns sagte, „geplättet wurde in der Küche mit einem Bolzeneisen. Die „Plättglocke war hohl. Der „Stahl", ein genau in die Plättglocke passender Bolzen mit einem Loch am stumpfen Ende, wurde im Herdfeuer glühend gemacht, mit Hilfe eines Feuerhakens hervorgeholt und in das Plätteisen geschoben. Ein zweiter Stahl wurde nun zwischen die Kohlen geschoben und sobald er glühte, gegen den ersten ausgewechselt.

    Meine Puppensachen bügelte ich auf die gleiche Weise mit einer entsprechend kleinen Plättglocke und einem richtigen Stahl darin. Beim Wechseln hatte man viel Gelegenheit, sich die Finger tüchtig zu verbrennen. Aber das gehörte dazu.

    Das Kochen übernahm meine Mutter meist selbst. Einesteils wohl, um ihre stark eingespannten Hilfskräfte zu entlasten, andererseits wohl, weil es ihr besondere Freude machte. Sie kochte gut und abwechslungsreich. Wir Kinder waren in der Vorschulzeit dann bei ihr in der Küche und freuten uns, wenn für uns eine rohe Mohrrübe oder ein Stückchen Speck abfiel. Außer etwa an das Ausnehmen von Tauben, Hühnern und Hasen kann ich mich an Einzelheiten nicht mehr erinnern.

    In der Küche wurden, neben dem „modernen" Emaillegeschirr noch viele braune Tontöpfe benützt, solange man vorwiegend auf dem Kohleherd kochte. Von Zeit zu Zeit erschienen dann an der Haustür wandernde Kesselflicker, die gesprungene Töpfe mit einem Drahtnetz umspannten. Während sie – auf den Treppenstufen sitzend – geschickt arbeiteten, sahen wir Kinder gespannt und bewundernd zu.

    Im Haus selbst zu backen, war damals nicht üblich. Das umständliche Anheizen der Backröhre lohnte höchstens für eine „Geburtstagsbäbe, einen Napfkuchen. Für den Sonntag wurden beim Bäcker „Sechserstückchen, d.h. Blechkuchen, insbesondere Streusel-, Mandel-, Quarkkuchen oder Eierschecke geholt, von denen jeder nur ein Stückchen bekam. Butterkrem- oder Obsttorten haben wir als Kinder nie bekommen. Das Pfefferkuchen- und Stollenbacken in der Weihnachtszeit nahm meine Mutter erst auf, als wir schon zur Schule gingen.

    Sehr wichtig nahm Mutti das Einkochen, obwohl uns heute die Vorräte mengenmäßig gering erscheinen – verglichen mit den 300 Gläsern in meinem späteren Haushalt auf dem Lande. Man hatte noch keine Weckapparate. Das Einkochen von Obst war umständlich und ging wie eine heilige Handlung vor sich. Meine Mutter besaß eine extragroße – wegen der möglichen Obstflecken natürlich rote – Einkochschürze, die sie nur bei dieser Gelegenheit trug. Alle Hilfskräfte wurden eingespannt zum Vorbereiten des Obstes. Besondere, weithalsige Flaschen wurden sorgfältig geschwefelt, was fürchterlich stank. Mutti hob dann feierlich die Früchte mit einem Porzellan-Schaumlöffel einzeln aus der Zuckerlösung und füllte sie in die Gläser. Die in Rum getauchten Pergamentblättchen, die dann aufs Einmachgut gelegt wurden, durften wir Kinder schneiden. Zum Schluss wurden die Flaschen mit einem hellgelben Harz, „Pech" genannt, das aus Finnland kam, zugegossen.

    Muttis Kompotte, insbesondere „Dreifrucht aus Himbeeren, Johannisbeeren und Süßkirschen, Essigbirnen (ganze geschälte Rettichbirnen mit Stiel in Essigwasser mit Nelken und Zimt gekocht), geschälte Pflaumen oder Kürbiskugeln mit Ingwerstückchen, waren allgemein geschätzt, wurden aber für hohe Festtage, Weihnachten und Gesellschaften aufgespart. Das Dreifruchtkompott war Hauptbestandteil unseres Weihnachts-Nachtischs „Watte ums Herz. Um die roten Früchte wurde ein Rand aus geriebenem Pumpernickel, ein zweiter Ring aus mit Schlagsahne gemischtem Pumpernickel und zuletzt der Watterand aus reiner Schlagsahne gespritzt.

    Für den täglichen Tisch wurden Preiselbeeren mit Birnen und Pflaumen in Steintöpfen eingelegt, für die Erwachsenen wohl auch Rumkompott gemacht. Heidelbeeren, die man in einfache Flaschen füllen konnte, verarbeitete Mutti in großen Mengen. Wir aßen sie zu den meisten Mehlspeisen, sofern es nicht frisches Apfelmus oder Rhabarberkompott gab.

    Marmeladen oder Gelees wurden nur selten gekocht. Es war wohl zu teuer für den Alltag. Wir Kinder bekamen Pflaumenmus, von Großmutter Gmeiner mit Zwetschgen aus Meißen gekocht, käufliches Rheinisches Apfelkraut, Sirup oder die billige Mehrfruchtmarmelade aufs Brot. Manchmal brachte Papa für den Sonntag echten Scheibenhonig mit.

    Die Vorratshaltung war nicht ganz einfach. Wir hatten zwar eine große Speisekammer. In den meisten Wohnungen hatte man aber keine Aufbewahrungsmöglichkeit für Vorräte. In manchen Familien schmückten die Einmachgläser sämtliche Schränke auf dem Wohnungsflur. Verderbliche Lebensmittel mussten täglich frisch eingekauft werden. Bis zum Gebrauch wurden sie auf einem großen Fensterbrett vorm Küchenfenster frisch gehalten.

    Einen Eisschrank erhielten wir erst kurz vorm Ersten Weltkrieg. An gewissen Wochentagen fuhren die Eiswagen durch die Stadt und brachten ihren Kunden „Kristalleis" in großen, viereckigen Stangen ins Haus. Diese Stangen wurden dann mühsam klein geschlagen und in den Eiskasten des Schrankes gefüllt. Das war teuer, aber doch eine Möglichkeit, das Bier des Hausherrn, die Milch für die Kinder und Butter und Fleisch wenigstens vorübergehend aufzubewahren und frisch und kühl

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