Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Werth und Overhoff: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik
Werth und Overhoff: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik
Werth und Overhoff: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik
eBook526 Seiten6 Stunden

Werth und Overhoff: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dies sind die Lebenserinnerungen der Familien Werth und Overhoff. Sie beschreiben das Leben meiner Familie in fast 80 Jahren deutscher Geschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik.
Mein Urgroßvater Pfarrer Friedrich Werth hat seine Tagebücher in den Jahren 1934 bis 1946 eigenhändig abgeschrieben und weitergeführt. Er wohnte in dieser Zeit als Pensionär im Haus seiner ältesten Tochter Luise Werth in Düsseldorf Lohausen.
Während Pfarrer Werth den ersten Weltkrieg aus Sicht des Landpfarrers beschreibt, hat sein Schwiegersohn Erich Overhoff im ersten Weltkrieg im Osten und im Westen als Leutnant an den Fronten gekämpft und dabei bis zu seinem Tod an der Westfront akribisch Tagebuch geführt.

Jahrelang schlummerten die Originalunterlagen im Nachlass unserer Familie. Ich habe diese Dokumente der Zeitzeugen jetzt mit den Fotos der Familie aus der damaligen Zeit in zwei Bände zusammen gefügt und möchte sie als Erinnerung an das Leben meiner Vorfahren in dunklen Zeiten deutscher Geschichte erhalten.
Der erste Band beinhaltet den Zeitraum vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik und der zweite Band die Zeit bis 1946.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum22. Apr. 2020
ISBN9783751925167
Werth und Overhoff: Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik

Ähnlich wie Werth und Overhoff

Ähnliche E-Books

Sozialwissenschaften für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Werth und Overhoff

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Werth und Overhoff - Books on Demand

    Vorwort

    Ich lebe seit 75 Jahren in wachsendem Wohlstand und Frieden in Deutschland. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, zeigen die schriftlichen Zeugnisse meiner Vorfahren. Deren Tagebücher und Briefe aus der Zeit des deutschen Kaiserreiches bis hin zum Ende des Zweiten Weltkrieges zeugen von dem täglichen Überlebenskampf, der Angst und der Armut in den Zeiten der sozialen Umbrüche, der Inflationen und Wirtschaftskrisen und zweier Weltkriege. Trotz aller widrigen Umstände spürt man aber auch die fast übermenschlichen Anstrengungen dieser Generationen, das Leben positiv zu gestalten und immer an eine bessere Zukunft zu glauben und daran zu arbeiten. Dieser Mut und diese Zuversicht zeigen sich zum Beispiel darin, dass meine Eltern 1944, mitten im Krieg, als Köln und Düsseldorf in Schutt und Asche lagen, beschlossen eine Familie zu gründen.

    Jahrelang schlummerten die Originalunterlagen im Nachlass von Luise Werth und meiner Mutter Dr. Erika Schröder. Auch ich habe sie lange liegen gelassen, zusammen mit den Fotoalben aus der damaligen Zeit. Jetzt habe ich beides kombiniert und möchte es der Nachwelt und vor allen Dingen meinen Kindern und Enkeln als Erinnerung an das Leben meiner Vorfahren in dunklen Zeiten Deutscher Geschichte erhalten, verbunden mit dem Wunsch, dass ihre Generation daraus lernt in Frieden, Freiheit und Wohlstand zu leben.

    In diesem ersten Band, der die Zeit vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik abdeckt, veröffentliche ich die Tagebücher von meinem Urgroßvater Pfarrer Friedrich Werth, Oberbaurat Theodor Overhoff und meinem Großvater Leutnant Erich Overhoff.

    Pfarrer Friedrich Werth war evangelischer Pastor in Asbach und Waldböckelheim. Er hat seine Lebenserinnerungen in den Jahren 1934 bis 1946 eigenhändig aufgeschrieben. In dieser Zeit wohnte er als Pensionär im Haus seiner ältesten Tochter Luise Werth in Düsseldorf Lohausen.

    Theodor Overhoff war der Bruder meines Großvaters und hat die Geschichte seine Familie Overhoff niedergeschrieben. Abschließend veröffentliche ich die Feldbriefe und Tagebücher meines Großvaters Erich Overhoff, der die katastrophalen Zustände des Grabenkrieges an den Fronten im ersten Weltkrieg beschreibt.

    In der Hoffnung, dass sich diese Zeiten niemals mehr wiederholen.

    Gerd Schröder

    Brauweiler im Februar 2020

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Teil 1: Aus meinem Leben von Fritz Werth, Pfarrer i.R.

    Tagebuch 1: Die Jugend

    Tagebuch 2: Asbach im Westerwald

    Tagebuch 3: Waldböckelheim / Nahe

    Tagebuch 4: Der große Krieg und die Nachkriegszeit. (1918-1923)

    Teil 2: Die Familie Overhoff

    Einführung in die Familiengeschichte von Theodor Overhoff

    Teil 3: Der 1. Weltkrieg in den Tagebüchern von Erich Overhoff

    Tagebuch 1: 1915 - an der Ostfront

    Tagebuch 2: 1916 - Balkanreise und Frankreich

    Tagebuch 3: 1917 - Frankreich

    Teil 1: Aus meinem Leben

    Höchst überflüssige, aber harmlose Plaudereien

    per ordre du Muffti

    geschrieben von 1934 bis 1946 in Düsseldorf-Lohausen

    Von Pfarrer Fritz Werth

    Also meine Lebensgeschichte soll ich schreiben! Ja! solch ein Unsinn! Wenn Bismarck, Kaiser Wilhelm oder Hindenburg so etwas unternehmen, so hat das natürlich Sinn und Verstand. Aber ich!?! Komme mir gerade so vor, als wenn sich ein Spatz auf den Sonnenball setzen wollte, um von dort aus die Welt zu regieren. Kann dabei etwas anderes herauskommen, als dass er sich hinten etwas ansengt?

    Aber der weibliche Teil meines Hauses - und das ist die überwiegende Mehrzahl meines Hauses, wünscht es - und mit den Weibern sollt du nicht streiten, so habe ich als Unterprimaner übersetzt - falsch zwar, es sollte heißen, mit den Eltern sollst du nicht streiten, auch wenn du recht hat, - aber unter dem lebhaftesten Beifall meines damaligen Direktors, Herrn Professor Dr. Eberhard und unter dröhnenden Beifall meiner Kameraden. Auch habe ich diese Primanerweisheit mehrfach im Leben bestätigt gefunden.

    Und eigentlich - ja, ja, es muss schon heraus, eigentlich tue ich es ganz gern. Nicht als ob ich auf den Gedanken kommen könnte, dass irgendjemand jemals auf die Idee kommen könnte, mein Geschreibsel auch zu lesen. Aber was hat man denn im Alter anderes, als die Erinnerung an die vergangenen Zeiten. Als Kalkhaufen in die Ecke gekehrt zu verdunsten?! Wenn andere naserümpfend an mir vorüber gehen, dann ziehe ich mich eben auf mich selbst zurück

    Im Bewusstsein seine Wertes sitzt der Kater auf dem Dach!

    Schließlich hat es auch seinen Wert, sich namentlich im Alter darauf zu besinnen, was alles und wie viel man seinem Gott im Himmel zu danken und für wie vieles man ihn und gerade den liebsten Menschen um Verzeihung zu bitten hat.

    Lohausen am 29. November 1934.

    Fritz Werth.

    Tagebuch 1: Die Jugend

    Großvater Werth.

    Johann Friedrich Paulus Werth, Sohn von Adolph Werth und Anna Katharina Höllken, reformiert, 27 Jahre alt, so steh es im Trauregister der evangelisch reformierten Gemeinde Barmen-Gemarke. Nach Familiennachrichten ist Johann Paul Friedrich Werth am 25. April 1795 geboren. Wo? Das ist nicht mehr festzustellen. Die Familie, vielleicht er selbst, ist von Westhofen (?) bei Hagen nach Barmen eingewandert. In Westhofen scheinen die Vorfahren meines Großvaters ein Gütchen besessen zu haben, das Werth geheißen. Nach westfälischer Sitte hat die Fami1ie deren Namen erhalten. Wie sie früher geheißen hat, habe ich leider vergessen.

    In seiner Jugend ist mein Großvater in einer Lohgerberei als Arbeiter tätig gewesen. Später hat ihn ein Barmer Fabrikant einen Bandstuhl in seinem, des Großvaters, Haus aufgestellt. Aus dem einen sind dann im Laufe der Zeit mehrere geworden, so dass, soweit die Familienkräfte nicht reichten, Gesellen eingestellt werden mussten. Durch eiserne Fleiß und beispiellose Sparsamkeit hat er es so weit gebracht, dass er nicht nur sich und seine zahlreiche Familie einschließlich des Stiefsohnes und der 3 sehr früh verwaisten Kinder seines Schwagers Mümbecher, die er unter recht erschwerenden Umständen aufnahm, erziehen, seine 3 Söhne Lehrer werden lassen, ja sogar sich und die Seinen zu einem gewissen Wohlstand aufschwingen konnte. An der Hechinghauser Straße kaufte er sich ein Grundstück, baute sein Haus auf dasselbe und benutzte den größten Teil als Gemüsegarten. Später ist der Garten nicht ohne Nutzen verkauft und von den Käufern mit mehreren Häusern bebaut worden.

    Ein Jahr vor meiner Geburt, am 3l. März 1858, ist mein Großvater gestorben. Ich habe ihn also nicht mehr gekannt. Doch hat mein Vater mir gern und viel von ihm erzählt und stets war seine Erzählung von tiefster Ehrfurcht und Liebe getragen. Ein ernster Mann muss er schon gewesen sein. Die zarteren Seiten des Familienlebens hat er wohl nicht gekannt. Wenn eines der Kinder sich meldete: Vater, ich habe heute Geburtstag! (für die Richtigkeit der Dialekte kann ich nicht einstehen)‚ dann lautete meist die Antwort: „So? dann freu dik! Hatte er besonders guten Sinn, dann hieß es wohl: „Wie alt bist du denn worden? Wat? als so und so alt und noch sonne Dümmschnute? - Aber mit Weisheit und Ruhe hat er die Erziehung seiner Söhne geleitet. Vater war etwas empfindlich und scheute es sehr, schmutzige Arbeiten anzugreifen. „Du willst nicht arbeiten fragte der Großvater „Gut, dann setze Dich hier auf diesen Stuhl und sieh zu. Sehr bald hat mein Vater unter heißen Tränen ihn angefleht, aufstehen und wieder mitarbeiten zu dürfen.

    Mit besonders herzlicher Liebe hing Großvater an seinem reformierten Bekenntnis. „Dat reformierte Glöwken, dat is en Glöwken" so pflegte er zu sagen. Sonntag für Sonntag war er in der Kirche. Hatte vor seinem Eintreffen bereits jemand seinen gewohnten Platz eingenommen, dann wurde dem Eindringling bei Großvaters Erscheinen zugerufen: Ruckt, der Werth kommt. Trotzdem hat er seine Kinder der lutherischen Gemeinde zugeführt. Und das ging so zu: Seine Frau hatte ihm aus erster Ehe einen Stiefsohn mitgebracht, Joseph Schwarzkopf. Derselbe war, wie sein Vater katholisch, war aber nicht dazu zu bewegen, die katholische Schule zu besuchen. Es kam so weit, dass er durch die Polizei zur Schule gebracht werden musste, sprang aber sofort wieder zum Fenster hinaus und floh nach Hause. Schließlich bat mein Großvater den reformierten Pfarrer, seinen Stiefsohn in die reformierte Schule aufzunehmen, und als dieser Bedenken trug, ihm zu willfahren, ging Großvater zum lutherischen Pfarrer, der sich so fort bereit erklärte, es mit dem Knaben zu versuchen. Der Versuch gelang zu allseitiger Zufriedenheit. Zweifellos hat Großvater nunmehr seinerseits Bedenken getragen, seine Kinder in verschiedenen Konfessionen zu erziehen und trotz seiner Vorliebe für das reformierte Bekenntnis sie alle zur lutherischen Gemeinde angemeldet, der ja auch seine Frau angehörte.

    Großmutter Werth

    Maria Katharina Helene Mümbecher, Tochter von Martin Mümbecher und Anna Gerdraut, geb. Diedrichs ist nach dem Taufschein der evangelisch lutherischen Gemeinde Wupperfeld geboren am 17. April 1799. Da sie aber bei ihrem Tode, am 20. März 1879 im 85. Lebensjahr stand, wird wohl die Familientradition recht behalten, dass sie am 25. Dezember 1795 geboren ist.

    Vater Martin Mümbecher stammte aus der Gegend von Mainz (Mombach?). Er war seines Zeichens Schuhmachermeister. Es wurde mir von ihm erzählt, er habe seine Schuhe in der Kiepe auf den Kölner Markt getragen. Nachts sei er nach Köln marschiert, habe tagsüber auf dem Kölner Markt gestanden, um reine Schuhe zu verkaufen und sei abends wieder heimgekehrt. Sein ganzer Verzehr bestand an einem solchen Tage lediglich in dem Brot, welches er in seiner Kippe von zu Hause mitgebracht hatte. - Und die Urgroßmutter? Sie stammte aus Alzey in der Pfalz. Eines Tages packte sie die Sehnsucht nach der Heimat. Das Reisen war damals etwa schwieriger und kostspieliger, als heutzutage. Was tun? Ihr Kind auf dem einen Arm, am andern einen Korb voll Lebesmittel für etwa 14 Tage, wandert sie zu Fuß nach Köln, setzt sich auf ein Treckscheut, - ein Schiff, welches mit Pferden den Rhein hinaufgezogen werden musste, - und fährt bis Bingen. Dort nimmt sie Kind und Korb wieder auf den Arm und wandert zu Fuß nach Alzey. Man sieht, unsere Vorfahren waren ein kerniges Geschlecht.

    Aus solchem Kernholz ist denn auch unsere Großmutter gewesen. Klein und zierlich bis in ihr hohes A1ter, - Militärmaß kaum über 1,50 m. Als Primaner habe ich sie, selbst ein kleiner schmächtiger Kerl, an einer Straßenecke, an der sie nicht gegen den Wind an konnte, kurzer Hand auf den Arm genommen und sie um die Ecke herumgetragen. Aber in dem kleinen Körper stak ein energischer Geist. Sie wusste, was sie wollte. Hochdeutsch sprechen hat sie nie gelernt. Aber einen gesunden Menschenverstand hat sie gehabt. Wie beim Großvater, so waren auch bei ihr eiserner Fleiß in Fleisch und Blut übergegangen. Als Ihre jüngste Tochter, meine Tante Jettchen, die sich gern etwas fein machte, etwa 5 Jahre vor dem Tod der Mutter ein hübsches schwarzes Kleid anfertigen ließ, zürnte die Mutter: dat is en Kleid, für drin um mich ze truren?

    Großmutter war zuerst mit einem Mann Namens Schwarzkopf vermählt. Aus der Ehe mit ihm stammt der bereits erwähnte Joseph Schwarzkopf. Auch dass dessen Vater katholisch war, habe ich bereits berichtet. Aus ihrer zweiten Ehe sind 5 Kinder hervorgegangen: mein Vater Karl Friedrich, Robert, Friedrich, Helene und Henriette.

    Robert war zuerst Lehrer an der Vorschule des Gymnasiums Duisburg, später an der Mittelschule ebendaselbst, wurde schließlich Oberturnlehrer. Er starb in Duisburg im Alter von etwa 85 Jahren. Vermählt war er mit Amalie Benninghof aus Krudenburg. Diese starb im Jahre 1870 im Wochenbett. Sie unterließ ihrem Manne 2 Söhne, Albert und Alfred. Von denen der erstere als Oberstudienrat i.R. in M. Gladbach, der zweite in derselben Eigenschaft in Düsseldorf, beide in diesem Jahr (1936) heimgegangen sind.

    Friedrich war Volksschullehrer in Wesel. Er war der einzige in der Familie, der mit einem fröhlichen Humor begab war, im Gegensatz zu der überernsten Lebensauffassung meines Vaters und der übrigen Geschwister. Sein einziger Sohn Fritz und seine Tochter Emma leben z.Zt. in Frankfurt a/M. Anna ist als Frau Heiß frühzeitig in Wesel gestorben, Bethy lebt eben daselbst als Witwe. Paula (+1938) ist in Aachen verheiratet, leider mit einem Katholiken.

    Onkel Fritz war der jüngste der Brüder, aber der erste, welcher von der Erde abgerufen wurde. Er wird kaum 70 Jahr alt geworden sein.

    Tante Lenchen war mit dem Buchbinder Robert Hohmann in Barmen verheiratet. Von ihren Kindern lebt noch ein Sohn Alfred, vermählt mit Elisabeth Frickenhaus. Er ist Beisitzer einer Bandwirkerei in Lüttringhausen. Bei ihm sind seine beiden Schwestern Helene und Emma. Auch Tante Lenchen war nach dem recht frühzeitigem Tode Ihres Mannes zu ihrem Sohne nach Lüttringhausen gezogen, wo sie hoch betagt vor einigen Jahren gestorben ist.

    Tante Jettchen endlich, die letzte Schwester meines Vaters hat nach dem Tode der Tante Amalie den Haushalt des verwitweten Bruders Robert und die Betreuung seiner beiden Söhne Alfred und Albert übernommen. Sie war zu diesem Zweck mit ihrer Mutter nach Duisburg übergesiedelt. Dort ist sie Ende der 80er Jahre gestorben. An ihre Stelle in der Pflege des Haushalts ist dann ihre Nichte Helene Hohmann getreten. Dieselbe ist dann erst nach dem Tode des Onkels nach Lüttringhausen zurückgekehrt. (1938). Zum Schluss noch ein charakteristisches Wort meiner Großmutter, welches zum geflügelten Wort für die Familie geworden ist: Man bind ok es ‘nen Sack tu, de nich voll is

    Großvater Müller.

    1794, den 26. November, nachts gegen 1Uhr, ist mir, Johann Valentin Müller, evangelisch reformiertem ersten Prediger da hier und meiner Ehefrau Priederica, Susanna, Elisabetha, einer geborenen Kuntzenbach, ein Sohn geboren, den 29. jusdem im Hause getauft, und Georg Karl Valentin genannt worden. Gevatterleute sollen sein der Herr Georg Remond, Goldschmied wie auch Kauf- und Handelmann, gebürtig aus Hanau, meiner Mutter Bruder, in Genève und Karl Müller, meines Bruder Andreas Müller, Präceptoris in Bodenheim, ehelicher lediger Sohn, wozu ich meinen Namen Valentin fügte, so dass das Kind die Namen Georg Karl Valentin erhalten hat. "So lautet die mir vom evangelischen Pfarramt Rodheim v.d. Höhe übersandte Geburturkunde meines Großvaters mütterlicher Seite.

    Der Urgroßvater Georg Valentin Müller ist gestorben, als sein Sohn Georg 13 Jahr alt war. Nach seinem Tode zog die Witwe mit ihren beiden (3?) Söhnen nach Hanau, wo die Söhne das evangelische Gymnasium besuchten. Der ältere Bruder Phi1ipp Friedrich brachte es noch während der Lebzeit der Mutter so weit, dass er nach ihrem Tode sein Studium abschließen konnte. Er wurde später Pfarrer in Hamminkeln bei Wesel. Vermählt war er mit Elisabeth Aletta van den Bruck, mit der er 9 Kinder erzeugte. Einer der 6 Söhne, Karl Wi1helm, Pfarrer in Gräfrat, ist mir gelegentlich auf Gustav-Adolf Festen wohl begegnet. Der Großonkel Philipp Friedrich starb am 7. Dezember 1838 an der Lungenschwindsucht im Alter von 48 Jahren, 10 Monaten und 7 Tagen.

    Wie gesagt besuchte der Großvater Georg Müller in Hanau das evangeliche Gymnasium. Die einzigen klassischen Erinnerungen, welche er seinem Enkel aus dieser Zeit hinterlassen hat, betreffen die homerischen Heldentaten, welche er und seine Kameraden in den zahlreichen Kämpfen gegen die Schüler des ebenfalls in Hanau bestehenden katholischen Gymnasium auszufechten hatte. Nur wurde in diesen Schlachten nicht mit Schwert und Lanze, sondern mit Zöpfen und Mäntelchen der Überlieferung nach gekämpft.

    Beim Tode der Mutter war der Großvater noch nicht reif genug, um auf eigenen Füßen stehen zu können. Er kam daher in die Pflege und Erziehung zu einem Onkel (mütterlicherseits) nach Kassel und musste, sehr zu seinem Schmerz in dessen Geschäft die Goldschmiedekunst erlernen. Die Freiheitskriege rissen ihn aus diesen Verhältnissen heraus. In sage und schreibe 3 Tagen marschierte er von Kassel nach Krefeld, um sich dort dem Lützowschen Corps zur Verfügung zu stellen. Er brachte es in seiner Dienstzeit bis zum Fähnrich. Bei der Belagerung von Metz erkrankte er am Flecktyphus und wurde mit anderen Kranken zu Schiff die Mosel hinab geschafft. In der Gegend von Trier sprang er im Fieberdelirium aus dem Kahn. Wegen der eingetretenen Dunkelheit konnte man ihn nicht auffischen und musste ihn seinem Schicksal überlassen. Ein Bauer aus der Umgegend fand ihn am andern Morgen an dem Ufer der Mosel. Der brachte ihn zu seiner Gutsherrschaft, die ihn mit treuer Sorgfalt pflegte. Die Pflegeeltern gewannen ihn so lieb, dass sie ihm den Vorschlag machten, ihn zu adoptieren. Doch hätte er dann katholisch werden müssen. Das konnte er nicht über sich gewinnen. Bei Nacht und Nebel brannte er seinen Pflegeeltern durch. Noch in seinem hohen Alter war es sein heißer Schmerz, dass er auf solche Weise gezwungen war, den Pflegeeltern ihre große Liebe mit Undank zu vergelten.

    Eine Episode, welche für den Charakter des Großvaters bezeichnend ist, erlebte er in Krefeld. Er war daselbst mit einem jungen Mädchen verlobt. Er traf sie eines Abends, als er sie ermüdet von des Tages Arbeit besuchte, mit dem Strickstrumpf in der Hand. Wiederholt bat er sie, den Strickstrumpf fortzulegen und sich ihm zu widmen. Endlich verlor er die Geduld und rief: Entweder ich oder der Strickstrumpf! Der Strickstrumpf! lautete die Antwort. Er wandte sich und ward nicht mehr bei ihr gesehen. Das Schicksal hat ihm dann eine Frau beschieden, welche die Freundlichkeit und Sanftmut selber war. Wir werden ja von ihr noch zu berichten haben.

    Wie der Großvater schließlich nach Rees am Niederrhein gekommen ist, ist mir nicht bekannt. Dass er dort geblieben ist, war ein Opfer, welches er seiner nunmehrigen Braut brachte. Er hatte bei seinem Abgang vorn Militär einen Berechtigungsschein zur Anstellung im Zivildienst erhalten. Er sah ein, dass es für meine Großmutter eine Unmöglichkeit war Rees und ihre Familie zu verlassen. So entschloss er sich, seinen Versorgungsschein verfallen zu lassen und in Rees zu bleiben. Damit hatte er die einzige Möglichkeit verloren, sein Leben endlich in geordnetere Bahnen zu lenken.

    Auf die manigfachste Weise hat es Großvater versucht, für sich und die Seinen den täglichen Unterhalt zu verdienen. Eine Zeit lang hatte er ein Geschäft in Eisenwaren. In welchem Geiste dieses Geschäft geführt wurde, geht aus folgender Erzählung hervor: Ein in Rees wohnender Hauptmann a.D. kommt in den Laden und fragt nach einem Lampenglas. Der Preis ist dem Käufer zu hoch. Wenn ich nach Wesel reite, bekomme ich das Glas um 1 Pf. billiger. Dann reiten Sie nach Wesel! Na! Ein Glas können Sie mir schon mitgeben „Nein, reiten Sie nach Wesel, dort bekommen Sie im Groß das Glas um 1 Pf billiger. Am zweiten Tage stellt sich der Käufer wieder ein und bittet um ein Lampenglas. Ei! Ich denke, Sie sind gestern nach Wesel geritten. Dort bekommen Sie ja das Glas um 1 Pf billiger. Schweigen sie mir davon! Ich habe von dem ganzen Groß nicht eines heil nach Hause bekommen. So! Nun wissen Sie auch, warum ich 1 Pf für das Glas mehr nehmen muss. Wehe, wenn ein Käufer in Großvaters Laden mit dem Wählen und Aussuchen nicht fertig werden konnte. Zum Donnerwetter! Meint Ihr, ich ließe mich von Euch an der Nase herumführen? Kein Wunder, dass das Geschäft nicht so recht gedeihen wollte.

    Längere Zeit war der Großvater Rendant der Städtischen Spar- und Pfandleihanstalt. Als solcher hatte er die Versteigerung der verfallenen Pfänder abzuhalten nicht selten geschah es, dass ihm die Angebote zu niedrig erschienen. Dann meldete er sich, um die Kauflust zu beleben, mit eigenen Angeboten. So blieb er oft auf den unmöglichsten Dingen hängen.

    Eines Tages kam er zum Entsetzen der Familie, wie zum maßlosen Erstaunen der Nachbarn, mit einer Kutsche angezogen. Da er kein Zugtier hatte, musste er sich selber vorspannen. Das tollste war wohl der Kauf eines Hauses, welches keineswegs auf der fest gegründeten dauernden Erde stand, sondern so zu sagen in der Luft schwebte. Es war nämlich auf dem Erdgeschoß einer andern, in fremdem Besitz befindlichen Hauses aufgebaut. Das Haus kam Jahrzehnte später nach dem Tod der Tante in unsern Besitz. Ich meine noch heute das maßlos erstaunte Gesicht meines Vaters zu sehen, mit welchem er die Erbschaft in Augenschein nahm.

    Schließlich wurde Großvater von dem in Anholt an der holländischen Grenze wohnenden Großgrundbesitzer Lycken mit der Verwaltung seiner Forst- und Pachtgefälle betraut. Er hat dieses Amt Jahrzehnte lang bis zu seinem Tode inne gehabt, in den letzten Jahren freilich, in welchen seine Geisteskräfte sehr nachließen, unter dem Beistand seiner 2. Tochter Auguste, die dann auch nach seinem Tode bis zu ihrem eigenen Tode von der Familie Lycken mit der Verwaltung betraut wurde. Wir haben allen Grund, der Familie Lycken herzlich dankbar zu sein für die im edelsten Sinne vornehme Art, mit welcher sie Großvater und Tante Auguste gegenüber verfahren sind.

    In seiner politischen Gesinnung hat er niemals den Geist der Freiheitskämpfe verleugnet. Als ein glühender Verfechter der deutschen Einigkeit hat er die Kleinstaaterei nicht geschätzt. Aus seinen Worten klang es wohl manchmal wie die Losung der 48er. Es wird nicht eher besser, als bis der letzte Fürst am letzten Pfaffendarm aufgehängt wird. Trotzdem hat er in seinem langen Leben die Kirche wohl selten versäumt. Und im tiefsten Sinne war er ein treuer Sohn seines deutschen Vaterlandes. In Rees lebte vor meinen Zeiten ein entfernter Verwandter der Familie, Onkel Schwän mit Namen. Derselbe hatte unter Napoleon in Spanien gekämpft. Wehe, wenn die beiden zusammenkamen und in ein politisches Gespräch gerieten. Dann hat es allemal Späne gesetzt.

    Ein anderes Beispiel seiner politischen Betätigung: Im Jahre 1848 fing es auch in Rees an zu spuken. Die Rheinkadetten und Genossen hatten, sich auf dem Markt versammelt und sich die Köpfe unter Zuhilfenahme etlichen Branntweine heiß politisiert. Zufällig kam mein Großvater des Weges. da kömmp der Herr Müller! Dat is unsern Mann so hieß es. der sak uns sagen, wat rech is. Sprachen es, nahmen ihn auf die Schulter, - keine allzu schwere Last, er war bis in sein hohes Alter ein kleiner rappeldürrer Mann, - brachten ihn in die nächste Kneipe und stellten ihn auf den Tisch. Er zeigte sich der Situation durchaus gewachsen. Ein Kreuzmillionen Donnerwetter er konnte, wenn er heftig wurde, fluchen wie ein Türke - ein Kreuzmillionen Donnerwetter soll euch in die Glieder fahren, wenn ihr nicht Ruhe im Lande halten wollt Herr Müller hat recht, Herr Müller sall lewen. Die große Revolution hatte in der Kreishauptstadt Rees ihr Ende gefunden. Ein Nachspiel hatte die Geschichte doch. Im Streit erschlug ein Rheinkadett den Genossen. Der Mörder stand derart entsetzt vor seinem Opfer, dass sich der baumstarke Mann ruhig gefallen ließ, als die Frau des Ermordeten über ihn herfiel und seinen Kopf mit dem Klumpen(Holzschuh) erbarmungslos behandelte.

    Auch in kleineren Angelegenheiten übte Großvater gern die öffentliche Rechtpflege. Wiederholt bin ich in seinen späteren Lebensjahren Zeuge davon gewesen, wie er mit erhoben Krückstock zwischen zwei sich prügelnde Straßenjungen dazwischen fuhr und sich zu ihrem Schiedsrichter aufwarf. Merkwürdig war mir, dass auch die frechsten Schlingel der ganzen Stadt sich stets unweigerlich seinem Schiedsspruch unterwarfen.

    Also, ein echter Kerl ist mein Großvater schon gewesen. Zwar etwas mehr als nötig eigensinnig, auch ein rechter Hitzkopf, aber streng rechtlich bis zum Übermaß. Auch ein glühender Patriot, freilich von republikanischer Färbung, wie es die Freiheitskämpfer von Anno l3/l5 wohl ziemlich alle waren. Nach seinen vielfachen Äußerungen konnte es nicht besser werden im deutschen Volk und Land, bevor der letzte Fürst am letzten Pfaffendarm aufgehängt sei. Eigentlich war er gerade in dieser letzten Hinsicht nicht sehr konsequent. Wenn, wie es oft geschah, der Herr Pfarrer zum Besuch kam, wurde er vom Großvater stets nicht allein mit größter Liebenwürdigkeit, sondern mit offenbarer Freude empfangen.

    Doch einen schlimmen Fehler hat der Großvater gehabt, da wird auch der geneigte Leser, wenn es wirklich einen solchen geben sollte, der jemals bis hierher in meinem Geschreibsel sich durchringen sollte, wird auch der geneigte Leser längst erkannt haben, ein guter Haushalter ist er nicht gewesen, zumal in seinen letzten Lebensjahren, in denen seine Geisteskräfte reißend abnahmen. Leider hat er dadurch den Seinen und namentlich seiner zweiten Tochter, meiner Tante Auguste viel Sorge und Herzleid bereitet. Heimgegangen ist er im Jahre 1879 im Alter von 85 Jahren.

    Georg Müller, Johanna Goch

    Großmutter Müller.

    Johanna Katharina Goch, Tochter von Wilhelm Goch und Johanna Maria Magdalena geb. Davidis, wurde zu Rees am Rhein geboren am 4. Dezember 1801 und in der evangelischen Gemeinde daselbst getauft am 19. desselben Monates. Sie war die Älteste von 6 Kindern, 5 Mädchen und 1 Knabe. Der einzige Bruder war später Lehrer - wenn ich nicht irre - in Krudenburg, Kreis Wesel. Von den Schwestern war Luise später mit dem Rechnungsrat Wild in Rees, die jüngste, Friederike, mit dem Postbeamten Friedrich Naumann in Arnberg verheiratet. Der Letztere stammte aus Ostpreußen, und hatte seine Braut kennen gelernt, als er von seiner Heimat aus in das Rheinland versetzt worden war. Unmittelbar nach einer Verlobung wurde er in seine Heimat zurück versetzt und konnte nun 7 Jahre lang seine Braut nicht wieder sehen, bis es ihm gelang, eine Versetzung wieder ins Rheinland durchzusetzen und nunmehr endlich seine Braut heimzuführen. Ich habe beide nicht kennen gelernt, doch wurden sie mir als prächtige Menschen geschildert. Ihr einziger Sohn ist, wie der Vater, Postbeamter gewesen. Wilds hatten keine Kinder. Der Onkel, ein würdiger hochkonservativer Herr, hat sein Gedächtnis meinem Herzen dadurch unvergesslich eingeprägt, dass er als der erster mich gewürdigt hat, bei einem Spaziergang mit ihm in ein Wirtshaus einzutreten und mit ihm ein Glas Bier zu trinken. Das hat meinem Tertianerherzen unendlich gut getan. Seine Gattin die Frau Rat, stand bei uns Buben, meinem Bruder Karl und mir keineswegs in hoher Beliebtheit. Ihre ewigen Mahnungen und erzieherischen Versuche an uns machten die Besuche bei ihr, die wir leider nicht vermeiden konnten, wenig erfreulich. Sie erreichte in körperlicher und geistiger Frische ein Alter von sage und schreibe 98 Jahren. Noch in ihren letzten Lebensjahren saß sie stets aufrecht in ihrem Stuhl. Das Anlehnen an die Lehne des Stuhles hielt sie nicht für passend.

    Tante Jettchen (Henriette) und Tante Lenchen (Magdalene) blieben unvermählt und bis an ihr Lebensende im Haushalt der Familie Müller. Erstere trug durch die Leitung eines Haushaltungspensionats für junge Mädchen, letztere durch unermüdliche Tätigkeit in den großen Garten der Familie das Ihrige nach besten Kräften zur Unterhaltung des gemeinschaftlichen Hauhaltes bei und zwar bis in ihr hohes Alter hinein. Tante Jettchen war eine liebe alte Tante. Der Tante Lenchen hatten wir Schlingel ihre fortwährende Vergesslichkeit, doch mehr ihrer Kränklichkeit - sie ist am Krebs gestorben - etwas mehr zu Gute halten dürfen, als wir das getan haben.

    Großmutter in Rees war, schon als junger Mädchen der gute Geist ihres Hauses und als solcher von Eltern und Geschwistern anerkannt. So zwar dass dieselben alle Mittel anwandten, um bei ihrer Verheiratung zu verhindern, dass sie aus Rees wegzog. So musste Großvater bei seiner Verehelichung, wie schon erzählt, auf reine Versorgungsberechtigung verzichten und mit seiner Kathe in Rees bleiben. Wann und wo die Trauung stattgefunden hat, habe ich nicht feststellen können. In den Trauungsregistern von Rees und Hamminkeln ist ihr Namen nicht zu finden. Doch muss die Trauung im Jahre 1825, ein Jahr vor der Geburt meiner Mutter stattgefunden haben.

    Nach der Trauung hatte meine Großmutter erst recht Gelegenheit die Fülle, die Vermittlerin in ihrer Familie zu spielen. Großvater war ein Hitzkopf und die Schwägerinnen zumeist auch nicht von gar zu großer Nachgiebigkeit. Da ist sie immer wieder der Engel gewesen, welcher den Frieden vermittelte. Ein kleiner Zug, welcher aber für den Kenner bezeichnend ist: Alle Schwestern sprachen unter sich und Selbst verständlich mit dem Großvater Hochdeutsch, nur mit der Großmutter sprachen sie ihr Reeser Platt. Noch sehe ich die liebe alte Frau in ihrem Lehnstuhl am Fenster sitzen, den Strickstrumpf in den Händen, die Brille vorn auf der Nasenspitze um über die Brille hinweg von Zeit zu Zeit uns einen ihrer gütigen Blicke zuwerfen zu können. Sie will mir vorkommen, als hätte ich unter allen Frauen, die mir bisher begegnet sind, außer ihr nur eine von gleicher, sich stets gleich bleibender Herzensgüte gekannt, meine Schwiegermutter.

    Verzeihung, hier darf ich meine Tante Auguste nicht vergessen, die einzige und jüngere Schwester meiner Mutter. Ich war ihr ausgesprochener reichlich von ihr verzogener Liebling. Mein Bruder Karl erzählte noch gegen Ende seines Lebens - im Scherz natürlich - dass er auf ihr Zeugnis hin bei einem Streit zwischen uns beiden vom Vater die Prügel bezogen habe, die mir von Rechts wegen zugekommen seien. Jedenfalls habe ich ihr viel, viel Liebes zu verdanken. Es ist mein großer Schmerz, dass ich erst zu spät, d.h. nach ihrem Tode erfahren habe, wie bedürftig sie war. Ich hätte ihr doch nach Kräften helfen können und müssen.

    Tante Auguste hat, um ihre Eltern nicht verlassen zu müssen, wiederholt sich bietende Gelegenheiten, sich zu verheiraten, ausgeschlagen. Die Pflege ihrer Eltern betrachtete sie als ihre Lebensaufgabe. Und da war keine leichte Aufgabe. Je länger, desto schwerer wurde sie. Großmutter starb im Jahre 1875, 7 Tage vor dem Termin, an welchem sie die goldene Hochzeit hätte feiern können. Großvater, schon vor ihrem Tode ein gebrechlicher Mann, verfiel nach demselben leiblich und geistig in erschreckendem Maße. Schon die körperliche Pflege erforderte Engelsgeduld. Vor allem aber überstieg mit dem Verfall seiner geistigen Kräfte die Zunahme seines Eigensinns jedem erträgliche Maß. Tante Auguste verdiente ihren und zum Teil auch der Eltern Unterhalt mit ihrem Modegeschäft, später nach Auflösung des Pensionats auch mit Handarbeitsunterricht. Je mehr der Großvater verfiel, musste sie auch dessen Arbeiten in der Verwaltung des Rentamtes der Familie Lyken übernehmen. Dabei passierte es unzählige Male, das Großvater Rechnungen bezahlte, sich quittieren ließ und dann noch mal bezahlte. Andererseits gab er den Schuldnern die Quittung hin und vergaß, sich dieselbe bezahlen zu lassen. Die Einmischung der Tante wurde grob abgelehnt. Man kann sich den Wirrwarr ausdenken, der auf solche Weise in der Buchführung entstand. Zwar hat die Familie Lyken ihr nach Großvater Tod freundlicher weise die Weiterführung des Rentamtes bis zu ihrem Tode belassen, dadurch wurde es ihr möglich, sich auch nach ihres Vater Tod den Lebensunterhalt zu verdienen, nicht aber, den bereit entstandenen Schaden auszugleichen. Bei ihrem Tode, sie starb im Jahre 1891, stellte sich bei der Abrechnung mit der Familie Lyken ein nicht unbedeutenden Defizit heraus. Mein Vater bot Deckung desselben an, dieselbe wurde aber von der Familie in der hoch herzigsten Weise abgelehnt. Schwamm drüber erklärte der jüngere Bruder, Herr Karl Lyken, welcher die Verhandlungen mit meinem Vater führte.

    Rees!

    Der bloße Name klingt mir wie Musik ins Ohr! Diese Heimat meiner Mutter ist doch das Paradies unserer Jugend gewesen. In meiner ersten Kindheit ist sie nur mit dem Dampfschiff zu erreichen gewesen. Als später die Bahn von Oberhauen nach Holland gebaut war, fuhren wir mit dieser bis Empel, um von dort die kurze Strecke bis Rees zu Fuß, etwa auch mit dem Postwägelchen zurückzulegen. So liegt und lag das Städtchen in Welt entlegener Einsamkeit verschlafen träumend unmittelbar am Ufer des Rheins. Zu Schiff oder zu Fuß, das erste, was man erblickte waren die eigenartigen Türme der katholischen Kirche, zwei gleichseitige Würfel mit stumpfem Dach. Heute hat man die stumpfen Dächer durch Spitze ersetzt und damit dem Stadtbild viel von seinem eigenartigen Charakter genommen. Kamen wir zu Schiff, dann bot die Stadt ein entzückendes Bild. Rechts, im Südwesten der Stadt der zerfallene alte Stadtturm. Daran anschließend die hochragende Stadtmauer. Über sie hinausragend die Häuser und Türme der Stadt. Durch das hübsche Stadttor gelangen wir auf den verhältnismäßig riesigen Marktplatz. Gleich rechter Hand neben dem Tor das total verbaute Haus des Onkels Wild, in dem man zu jedem einzelnen Zimmer nur auf kleinen Treppen gelangen konnte. Ganz unser Geschmack! Vom Besuchzimmer aus ein wundervoller Ausblick auf den Strom, dessen Wellen man rauschen hörte. Hei! war das ein Plätzchen, zum träumen und zu schwärmen von seliger goldener Zeit. So wurden auch die ununterbrochenen Ermahnungsreden der Tante Wild gern in den Kauf genommen.

    Dem Stadttor gegenüber das entzückende Rathaus in Barock. Durch das Tor desselben gelangt man auf den damals mit hohen Kastanienbäumen geschmückten Platz um die katholische Kirche. Ein furchtbares Unwetter hat in späteren Jahren diese Bäume wie auch die schöne Allee auf dem Damm an der Südseite der Stadt vö1lig niedergelegt. Auf dem Kirchplatz hat man sie durch Linden ersetzt, welche inzwischen auch zu stattlicher Höhe herangewachsen sind.

    Wir kehren zum Marktplatz zurück und gehen über denselben tiefer in die Stadt hinein. Links, etwas abseits vom Markt die kleine evangelische Kirche. Daneben die evange1iche Schule mit der Verwahrschule. Dort hat der damals noch junge Pfarrer Umbeck den vergeblichen Versuch gemacht, mir das Lutschen abzugewöhnen. Als ich mich ihm etwa 30 Jahre später als meinem Generalsuperintendenten vorstellte, war seine erste Frage: lutschen sie auch noch?

    An der östlichen Ecke des Marktes, wo der Platz spitz zuläuft, biegt sich im rechten Winkel die Dellstraße jäh ab. Eine schöne breite Straße, an der rechten Seite mit Kugelakazien bepflanzt. Das 4. oder 5. Haus ist das Haus der Großeltern. Wisst ihr, was verbaut heißt? Hier könnt ihr es sehen. Auf der rechten Seite des schmalen Ganges vorn das Kontorchen, dahinter die mächtig große und hohe Küche, beide zu ebener Erde. Auf der anderen Seite des Ganges, aber 3 Stufen höher, vorne das Besuchszimmer, hinten das Esszimmer, beides schöne und geräumige Zimmer. Im ersten Stockwerk, zu welchem wir auf unendlich schmaler, dunkler und hoher Treppe emporstiegen, befinden sich links die Schlafzimmer der fremden Mädchen, sowie das der Großeltern, letzteres meinem Gedächtnis tief eingeprägt durch die virtuose Kunst meines Großvaters im Schnarchen. Zu den rechts gelegenen 3 kleineren Zimmern kann man nicht gelangen, ohne vorher über einen 3 Fuß hohen Balken hinüber zuklettern Das letztere derselben ist das Zimmer meiner lieben Tante Auguste. In dem überaus hohen Dach sind noch 2 Stockwerke untergebracht. In den unteren 3 Mansarden, in welchem Tante Jettchen und Tante Lenchen und das Dienstmädchen kampierten. Darüber der obere Speicher. In dem winzig kleinen und engen Hof der Ziegenstall, die Sommerküche und die Bügelkammer, die so mit allerlei Kram angefüllt, wobei noch gerade so viel Raum übrig blieb, dass wir darin spielen konnten. Hier hatten wir unsere eigentliche Domäne. Hier konnten wir tun und lassen, was wir wollten. Und das haben wir redlich besorgt.

    Das heißt bei Regenwetter, bei Sonnenschein lagen wir, wenn nicht auf der Gasse, dann zweifellos im Garten. Ja der Garten! Wir gehen die Dellstraße hinauf bis ans Tor. Hinter demselben biegen wir link ab auf den Wall. Links die kleineren aber vorzüglich gepflegten Gärten der kleineren Leute, rechts die Gärten der wohlhabenderen Bürger, dazwischen auch der meiner Großeltern. Vorn in der buntesten Pracht der Herbstblumen der Blumengarten. Dahinter riesengroß der Gemüse und Obstgarten. An 2 Seiten der Alte Stadtgraben, wohl ein alter Arm des Rheins. An der Böschung und dem noch frei bleibenden Raum zwischen Böschung und Graben die Wiese. Wiese wie Garten über reich bepflanzt mit Obstbäumen von den auserlesensten Sorten in jeglicher Form, mächtige Riesen und kleineres Spalierobst Äpfel, Birnen, Mirabellen, Reineklauden, ein paar dutzend Zwetschgenbäume, nicht zu vergessen der riesenhafte Nussbaum zu Turn- und Kletterübungen die herr1ichste Gelegenheit, ganz abgesehen von den köstlichen Früchten, die ich in ähnlicher Güte nie wieder angetroffen habe. Außer diesen Garten besaßen die Große1tern noch einen kleineren in der Stadt, hinter der Mauer, in welchem nur Gemüse gezogen wurde. In diesen haben wir uns äußerst selten verirrt. Neben dem großen Garten der Großeltern befand sich der kleine aber mit äußerster Sorgfalt gepflegte Garten der Familie Wild. Auch in diesen sind wir selten hinübergegangen, obwohl der Weg durch die Hecke frei war. Wir mussten uns dort gar zu schön benehmen.

    Nach meiner Abreise zur Universität hatte ich Rees nicht wieder gesehen. Der Tod der Tante Auguste rief mich und Mutter noch einmal hinüber. Ich danke meinem Gott, dass wir der Vereinsamten wenigsten in ihren allerletzten Lebensstunden zur Seite stehen durften. Sie schied ohne Klage, in tiefster Sehnsucht nach Frieden, auf den sie mit unbedingter Zuversicht hoffte.

    Zwischen ihrem Tod und ihrem Begräbnis suchten Mutter und ich die alten Stätten auf. Wir hätten es besser gelassen. Haus und Garten waren nach dem Tode des Großvater verkauft, der große Garten an einen Gärtner. Die wenigen Jahre, welche seitdem vergangen waren hatten genügt zu einer völligen Verwahrlosung. Die Gemüsebeete waren mit Heckenpflanzen bestellt. Dieselben waren aber nicht zu erkennen, weil sie hoch vom Unkraut überwuchert waren. Die Obstbäume, welche noch vorhanden waren, waren Ruinen. In den Nussbaum war der Blitz hinein geschlagen und hatte die Hälfte heruntergerissen. Neue Bäume waren nicht angelegt worden.

    Es sollte noch besser kommen. Nach meiner Übersiedlung hierher nach Lohausen (etwa 1931) trieb es mich, meiner lieben Frau das Paradies meiner Jugend zu zeigen. Meine Schwester Anna begleitete uns. Alles war just, wie vor alten Zeiten. Statt der Kastanienbäume Linden. Sonst kaum ein Ziegel irgendeines Daches in erkennbarer Weise verändert. Bis

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1