Familie Theodor Vogel 1920 - 1947: Beruf, Familie, Politik Eine zeitgeschichtliche Recherche
Von Johanna Vogel
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Über dieses E-Book
In dieser Recherche geht Johanna Vogel, eine der Töchter, der weniger bekannten Vorgeschichte nach und fragt, wie es der Vater geschafft hat, trotz mancher privater, beruflicher und politischer Probleme seine wachsende Familie unbeschadet durch die krisenhaften Zeiten der Weimarer Republik und des Naziregimes zu bringen. Dabei weicht sie auch kritischen Fragen an den Vater nicht aus.
Das Buch ist einerseits eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft, andererseits eine an Wahrheit und Genauigkeit interessierte Recherche über die Lebensbedingungen und die Überlebensstrategien der Familie in dieser kritischen Epoche deutscher Geschichte.
Ein umfangreicher Dokumentenanhang ergänzt und unterstreicht die Plausibilität dieser Recherche.
Johanna Vogel
Johanna Vogel, geb. 1933, war die vierte von neun Geschwistern. Sie studierte ab 1953 Klassische Philologie, Germanistik und evangelische Theologie und promovierte 1975 bei Prof. Helmut Gollwitzer mit einer Arbeit über "Kirche und Wiederbewaffnung." Von 1959 bis 1975 war sie an verschiedenen Stellen im kirchlichen Dienst tätig, jeweils mit dem Schwerpunkt Jugend- und Erwachsenenbildung.1975 quittierte sie die kirchliche Laufbahn und wechselte zur Münchner Volkshochschule, wo sie eine große Bildungseinrichtung für Ausländische Arbeitnehmer, Jugendliche und Familien aufbaute und bis zu ihrer Verrentung leitete. Von 1998 bis 2013 organisierte sie die sog. "Pellwormer Sommerakademie", ein Bildungsangebot für die Urlauber dieser Insel mit wechselnden Themen zu historischen, aktuellen politischen sowie literarischen Themen. Seither arbeitet sie an zeitgeschichtlichen Themen mit dem Schwerpunkt Aufarbeitung der NS-Zeit.
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Rezensionen für Familie Theodor Vogel 1920 - 1947
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Buchvorschau
Familie Theodor Vogel 1920 - 1947 - Johanna Vogel
besucht.
Berufsfindung und Familiengründung 1920 – 1932
Jung gefreit hat nie gereut.
Zweifel an der Relevanz dieses Sprichwortes sind sicher erlaubt. Aber im Falle meiner Eltern hat es sich offenbar bewahrheitet, obwohl die Widerstände gegen diese Verbindung seitens der Familie meiner Mutter erheblich gewesen sein müssen. Das erschließt sich mir nicht nur aus gelegentlich aufgefangenen Gesprächsfetzen mancher ihrer ehemaligen Freunde, sondern auch aus mehr oder weniger diskreten Andeutungen in Briefen aus der Familie Raasch³.
Zur Aufklärung für den heutigen Leser vorab also ein paar Bemerkungen über diesen mütterlichen Zweig meiner Herkunft. Es waren die Familien Straumer aus Sachsen und Raasch aus Pommern, in die meine Mutter hineingeboren wurde. Diese Familien waren allesamt gut bürgerlich, gut evangelisch und gut christlich, wenn auch mit deutlich landschaftlich geprägten unterschiedlichen Wesenszügen. Viele Pfarrer, Beamte im höheren Dienst und gelegentlich auch Schriftsteller, bestimmten den sozialen Status dieser Familien. Die Großmutter Raasch, geb. Straumer war eine Professorentochter gewesen. Der Vater meiner Mutter, Großvater August Raasch, hatte es immerhin zum Oberingenieur gebracht. Er hat als solcher durchgehend bei Siemens-Schuckert gearbeitet, erst in Nürnberg, dann in Berlin (1903-1908) und zu guter Letzt wieder in Nürnberg, und galt auf seinem Feld als eine Kapazität.
Meine Mutter, geb. am 16. Januar 1902, kam als jüngste von drei Kindern zur Welt. Einige Jahre ihrer Kindheit hat sie entsprechend der Laufbahn ihres Vaters in Berlin zugebracht, noch vor dem Ersten Weltkrieg, noch im Kaiserreich. Die Familie wohnte in Charlottenburg, in der Nähe des Schlossparks, wo gelegentlich die Tochter des deutschen Kaisers bei einer Spazierfahrt besichtigt werden konnte, was meine Mutter als Kind tief beeindruckt haben muss. Auch sonst hat die Berliner Luft ein wenig auf sie abgefärbt; denn etwas von einer gewissen Berliner Nonchalance hat sie sich ein Leben lang bewahrt. Sie ließ sich nicht so leicht unterkriegen und sie wusste sich zu behaupten, auch gegenüber unserem Vater.
Obwohl ihr Vater, also unser Großvater Raasch, eher fromm und konservativ dachte, lag ihm doch eine solide Ausbildung seiner Kinder am Herzen. Grete, die Älteste, durfte sogar Medizin studieren, ehe sie dann 1920 einen Mediziner, Omar Böhlau, heiratete, und damit ihre akademische Laufbahn beendete. Else, meine Mutter, offenbar weniger strebsam, begnügte sich mit einer Ausbildung zur Kindergärtnerin in Nürnberg.
Gertrud, Hanna und Else als Wandervögel, 1918 bei Fürth
Dort fand sie schon mit sechzehn Jahren Zugang zum Wandervogel. Zwei Freundinnen aus ihrer Nürnberger Schulzeit, Gertrud Lades und Hanna (verh.) Krönert, mit denen sie lebenslang verbunden geblieben ist, haben sie in diese Gruppen eingeführt, nicht unbedingt zur Begeisterung ihrer Eltern.
Der Wandervogel, eine Jugendbewegung des späten Kaiserreiches, und 1894 in Berlin Steglitz gegründet, fand nach dem Krieg an vielen Orten des danieder liegenden deutschen Reiches eine Wiederbelebung. Er war die Protestbewegung einer Jugend, die, aus der Mitte der bürgerlichen Gesellschaft kommend, doch deren Ideale verachtete und boykottierte. Das einfache Leben auf Wanderungen in der Natur, Freiheit von bürgerlichen Zwängen, das Zusammensein mit Gleichaltrigen, Volkstanz und Volkslieder, das waren ihre Ideale. Manche dieser Wandervogelgruppen ließen auch schon Mädchen zu.
Gemischte Wandervogelgruppe aus Fürth, Herbst 1919
Die Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts mit ihren Landschulheimen hatte hier ihre Wurzeln. Dass nicht nur die Pfadfinder, sondern auch die „Hitlerjugend" an diese Tradition anknüpften, indem sie ideologisches Gedankengut und jugendgemäße Verhaltensweisen des Wandervogels für ihre Zwecke adaptierten, sei hier um der historischen Wahrheit willen angemerkt, ohne dass diese späteren Anleihen jedoch die Attraktivität des Wandervogels für die Nachkriegsjugend des ehemaligen Kaiserreiches zutreffend erklären würden.
Beim Wandervogel lernte meine Mutter schon 1919 den fast gleichaltrigen Theodor Vogel kennen, der von seinen Freunden allgemein nur Petrus genannt wurde. Wie er zu diesem Spitznamen kam, lässt sich nicht mehr ganz aufklären, so Dass ich auf entsprechende Legenden dazu an dieser Stelle verzichte. Im Freundes- und Familienkreis wurde der Spitzname aber über die Jahre beibehalten, weshalb ich ihn zur Bezeichnung meines Vaters im Folgenden ebenfalls benutze.
Petrus, alias Theodor Vogel, geb. am 31. Juli 1901 in Schweinfurt, bereitete sich in Nürnberg auf das Abitur vor; denn an seiner Schule in Schweinfurt konnte man damals noch kein Abitur ablegen. Auch er war ein Wandervogel. Im Gegensatz zu Else stammte er aus eher einfachen Verhältnissen. Zwar betrieb sein Vater, unser Großvater Hermann Vogel, schon ein kleines Unternehmen, das Fensterwerk Vogel. Aber die bodenständige Herkunft aus dem Handwerkermilieu, - der von Petrus hoch verehrter Großvater war Zunftmeister der Schlosser und Schmiede in Schweinfurt gewesen, - prägte seine Familie und ihre Vorstellungswelt. Sie prägte auch meinen Vater, der sich zeitlebens den allerhöchsten Respekt gerade vor der Arbeitswelt von Arbeitern, Bauern und Handwerkern bewahrt hatte und diesen Respekt auch seinen Kindern vermittelte.
Familie Hermann Vogel. ca. 1920. rechts Petrus mit Bruder Hermann
Man kann also verstehen, dass in den Augen der Familie Raasch die aufkeimende Beziehung zwischen den beiden jungen Leuten misstrauisch beobachtet wurde, zumal sie ja auch tatsächlich noch sehr jung waren. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang ein Brief von Grete an ihren Verlobten Omar vom Frühjahr 1920, in dem sie schreibt⁴:
„Ich hatte Else, als ich ihr kürzlich schrieb, in guter Art vor dem Wandervogel gewarnt, weil sie ihm immer wieder einmal ganz zu verfallen drohte. Und heute schreibt sie mir in einem überfrohen Brief, dass sie einem Wandervogel ihre Treu gegeben hat. Er ist noch sehr jung, kaum 19, und sie haben 4 oder 5 Jahre vor sich. …..Ich kenne ihn, Theodor Vogel, ganz flüchtig von einer Fahrt ins Landheim. Er geht im Herbst auf die Technische Hochschule, will Dr. Ing. und Architekt werden und übernimmt dann die Fabrik seines Vaters in Schweinfurt; und im Maintal an einem Weinberg wollen die zwei sich einstens ihr Nest bauen. Außer mir weiß in der Familie niemand davon."
Auch die damals schon erkennbaren, impulsiven Charakterzüge meines Vaters fanden das Missfallen der Familie Raasch und weckten schwere Bedenken. Ihnen missfielen auch die gemeinsamen Unternehmungen mit dem Wandervogel, die Else schon recht bald bis nach Schweinfurt brachten und damit in die Vogel’sche Familie. Manche andere Wanderung, z. B. in die Berge, wurde ihr deshalb auch schlichtweg untersagt. Dem heutigen Leser sei es gesagt, dass man damals erst mit 21 Jahren volljährig wurde, was den Freiraum junger Leute erheblich eingeschränkt hat. Für ein Liebespaar war das also eine schwierige Zeit, die schwierige Balanceakte von ihm verlangte. Aber beide wussten offensichtlich genau, was sie wollten, und verfolgten ihr Ziel hartnäckig.
Ostern 1920 machte Else ihr Examen als Kindergärtnerin in Nürnberg, während Petrus zur gleichen Zeit in Nürnberg erfolgreich sein Abitur ablegte, und dann sein Studium begann. Die ersten zwei Semester studierte er in München, was Besuche bei Böhlaus in Widdersberg erlaubte. Widdersberg, ein Ort von dem noch viel die Rede sein wird, war das Feriendomizil der Schriftstellerin Helene Böhlau, mit der Grete, die ältere Schwester meiner Mutter, durch ihre Heirat mit deren Sohn Omar inzwischen eng verbunden war. Auch Else tauchte hier nun immer öfter auf. Sie bemühte sich, das Wohlwollen der berühmten Helene Böhlau zu gewinnen, die dadurch zur allgemein respektierten Sittenwächterin aufstieg. Helene Böhlau vor allem, aber auch die Schwester Grete Raasch alias Böhlau und Omar Böhlau, Gretes Mann waren nun die Gewährsleute dafür, dass zwischen Else und Petrus, wenn der wieder einmal auftauchte, alles seine geziemende Ordnung hatte.
1921 änderten die beiden ihre Strategie. Else bemühte sich um eine geeignete Arbeitsstelle in ihrem Beruf als Kindergärtnerin, und verdingte sich zunächst bei verschiedenen Familien. Petrus wechselte zur TH nach Darmstadt, um dort sein Studium fortzusetzen. Das Schicksal spielte den beiden nun in die Hand. Unweit von Darmstadt, und der Kontrolle der Familie Raasch weniger zugänglich, befand sich das berühmteste Projekt der Reformpädagogik des frühen 20. Jahrhunderts, die Odenwaldschule⁵. Hier wurden in ländlicher Umgebung und mitten im Wald oft schwierige Kinder, meist aus besseren Familien, in familienähnlichen Strukturen erzogen. Sechs bis acht Kinder unterschiedlichen Alters und beiderlei Geschlechtes lebten jeweils in einem eigenen Haus mit zwei LehrerInnen oder ErzieherInnen wie eine Familie zusammen. Der Unterricht wurde für die Schüler in kleineren Gruppen bedarfsgerecht strukturiert. Auch eine handwerkliche Ausbildung gehörte zum Konzept. Die Gründer dieser Reformschule, Edith und Paulus Geheeb, lebten mitten unter den Kindern. Ihr damals revolutionäres pädagogisches Modell fand großen Zuspruch bei fortschrittlichen Eltern wie z. B. bei den Manns und den Weizäckers, die ihre Söhne in die Odenwaldschule gaben.
Befreundet mit den beiden Geheebs und interessiert an ihrem pädagogischen Experiment war auch Martin Buber, der damals mit seiner Familie in Heppenheim lebte. Zu Buber suchte und fand auch Petrus⁶ engen Kontakt, von dessen Ausstrahlung und Denken er zutiefst fasziniert war, und den er – wie ich heute glaube – sich in gewisser Weise auch zum Vorbild nahm. (Erst indem ich dies niederschreibe, wird mir klar, weshalb meinem Vater später so sehr daran gelegen gewesen war, dass ich ein paar Semester an der hebräischen Universität in Jerusalem studierte, wo Martin Buber lebte. Ich verfolgte damals freilich andere Pläne und lehnte deshalb diesen Vorschlag ab.)
Wer zuerst darauf gekommen ist, Petrus oder Else, wissen wir nicht. Aber jedenfalls gelang es Else, in der Odenwaldschule eine Anstellung zu finden. Sie bewarb sich im Oktober 1921 auf eine Ausschreibung der Schule in der Zeitschrift „Junge Menschen" und wurde eingestellt. Zwei Jahre lang,