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Berlin–Linz: Wie mein Vater sein Glück verbrauchte
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Berlin–Linz: Wie mein Vater sein Glück verbrauchte
eBook340 Seiten4 Stunden

Berlin–Linz: Wie mein Vater sein Glück verbrauchte

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Über dieses E-Book

"Ich hielt das Leben meines Vaters für das allerunspektakulärste", sagt Tarek Leitner – keine Heldentaten, keine menschlichen Abgründe, keine tragischen Schicksalsschläge. Und doch berührt die Geschichte das Leben seiner Familie in der Bischofstraße in Linz. Dort war das Zentrum des Februaraufstands 1934, dort lebte Adolf Eichmann und der letzte vor dem Holocaust geborene Linzer Jude. Das Buch erzählt anhand zweier Reisen von Berlin nach Linz, einmal durch das nationalsozialistische Deutschland von 1938, einmal durch das in Trümmern liegende Deutschland von 1945, die bewegende Geschichte seines Vaters. Beide Male reiste er auf der Reichsautobahn: Einmal als 12-Jähriger am Steuer eines neu gekauften Wagens, einmal auf dem Fahrrad, das er gegen seine Uhr eingetauscht hatte. Konnte man damals überhaupt "unpolitisch" sein? Ist das Glück eines Menschen endlich, und wie viel davon verbraucht das Überleben im Krieg? Eine Erzählung über das Aufregende im vermeintlich Unspektakulären.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum9. März 2020
ISBN9783710604478
Berlin–Linz: Wie mein Vater sein Glück verbrauchte

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    Buchvorschau

    Berlin–Linz - Tarek Leitner

    für Liel & Livni

    Tarek Leitner

    Berlin–Linz

    Wie mein Vater

    sein Glück

    verbrauchte

    Hinweis auf die Schreibweise

    Wörter der Nazi-Nomenklatur sind nicht unter Anführungszeichen gesetzt. Das soll sie mit einer größeren Selbstverständlichkeit in den Zeitkontext einweben. Daraus erschließt sich hoffentlich, dass ich mir die Konnotation der Wörter nicht zu eigen gemacht habe.

    Inhalt

    Davor.

    Das Leben ist Reise genug.

    Rückfahrt

    Berlin – Linz 1938

    Dazwischen.

    Keine Pause.

    Rückkehr

    Berlin – Linz 1945

    Danach.

    Wie alles weiterwirkt.

    Davor. Das Leben ist Reise genug.

    Das ist die Geschichte zweier Reisen meines Vaters Alfred von Berlin nach Linz. Und es ist auch die Geschichte darüber, auf welche Art sie mir mein Vater erzählte. Natürlich hat sich dieses Buch dadurch nicht ganz von alleine geschrieben. Aber eine abenteuerliche Geschichte zu erfinden, das musste ich dann auch wieder nicht. Das überraschte mich. Denn mein Vater war kein Held. Er war auch kein Opfer – und ich behaupte, auch kein Täter. Mit anderen Worten, er war keine jener Figuren, die mir aus dem Geschichtsunterricht bekannt waren. Ich dachte, mein alter Vater – kaum ein Mitschüler hatte einen Vater mit so frühem Geburtsjahr, 1926 –, biete wenig Stoff für eine Geschichte. Ich dachte daher auch lange, der Gang der Geschichte suchte sich einen Weg weit weg von mir und meinem Vater. Aber so war das nicht.

    Verstreute Anekdoten, die ich bei allerlei geselligen Anlässen über Begebenheiten auf den beiden Reisen hörte, nährten einen Verdacht. Ich glaubte offenbar nur deshalb, dass die Historie einen Bogen um sein vermeintlich so durchschnittliches und wohl unzählige Male anzutreffendes Leben im 20. Jahrhundert gemacht habe, weil er zuweilen einen kuriosen Blick auf die Welt und ihre Zeit hatte. Dieser Blick entsprang einem Jugendlichen, der in einer großen – heute würden wir sagen – Patchworkfamilie aufwuchs, weitgehend frei von wirtschaftlichem Mangel lebte, und sich einigermaßen viel um sich selber kümmern musste. So konnte er die Reichsautobahn gleichsam als Übungsrennbahn betrachten, das Essen von Salzburger Nockerln in Kriegszeiten als ein Katz-und-Maus-Spiel mit dem Blockwart, und den abgeschossenen Yankee-Piloten in der eleganten Ausgehuniform nicht als Feind oder Befreier wahrnehmen, sondern als Objekt der Bewunderung für einen erstrebenswerten Lifestyle.

    Das war mir etwas zu unpolitisch, als ich diese verstreuten Erzählungen in der Zeit meiner eigenen Politisierung hörte. Konnte man in jener Zeit, bei einer Reise im Jahr 1938 durch das neue Deutschland, so unpolitisch sein? Und konnte man es sieben Jahre später, bei einer Reise durch das in Trümmern liegende Deutschland, immer noch sein? War das vermeintlich Unpolitische Schutz vor den Unwägbarkeiten, die vielfach doch rasch in Ungemach abglitten? Und war mein Vater vielleicht zwar weder Held, noch Täter, noch Opfer, aber doch Zuschauer?

    Die Nationalsozialisten hatten für die politische Einstellung eines Menschen den Ausdruck Weltanschauung geprägt. Das war ein vielgebrauchtes Wort. Wer die Welt nur anschaut, wer ihrem Gang nur zuschaut, der braucht keine Idee von ihr zu haben, der braucht keine Ideologie. Dieser Zugang hält sich bis heute. Wer heute einer Ideologie anhängt, riecht bereits nach Extremismus. Und wenn die Ideenwelt eines Menschen damals auch noch System hatte, war die verabscheuungswürdige – und nunmehr zurückliegende – sogenannte Systemzeit perfekt. Das waren die Reste der Demokratie in Österreich.

    Ich glaube allerdings, sein Vater, also mein Großvater Rudolf, war auf eine merkwürdig unpolitische Art höchst politisch. Ob sich das in diesen Zeitwenden hätte anders manifestieren müssen, weiß ich nicht. Darum wird es in diesem Buch aber nicht gehen. Es ist vielmehr der Blick auf die Geschichte aus der Perspektive des Noch-nicht-Geschehenen. Im Nachhinein scheint uns jeder Verlauf der Dinge schlüssig. Und selbst wenn wir heute sagen, wir wissen schon, wohin etwas führt, dann gründet sich unsere Prognose doch auf das Wissen um Umstände, die in der Zeit spielen, die hier beschrieben wird.

    Erst seit dieser Zeit, die zwischen 1938 und 1945 und damit zwischen den beiden Reisen meines Vaters von Berlin nach Linz liegt, wissen wir wirklich sicher, dass am Anfang das Wort steht. Das hat uns die Bibel in dieser Deutlichkeit offenbar nicht gelehrt. Dazu brauchte es die Nationalsozialisten. Das Wort wird zu einer Tat, die gleich sehr viel harmloser anmutet, wenn sie zuvor schon tausende Male sprachlich vorweggenommen wurde. Das ist schon ganz schön viel Lehre aus der Geschichte. Aber was noch?

    Die großen historischen Tangenten taugen zuweilen nicht, wenn es darum geht, Ableitungen für das eigene Leben zu treffen. Die Geschichte in ihrer Gesamtheit mag vielfach zu groß sein, um immer die richtigen Schritte für das eigene Leben abzuleiten. Mit dem Leben der unmittelbar vorangegangenen Generation – damit klappt es vielleicht. Allerdings: Es war doch schon alles einmal da; wenn auch vielleicht nicht genau in derselben Art. Gewiss aber in dem Sinn, als dass sich der Stoff wiederholt, der Stoff, aus dem die großen Dramen sind.

    Wer im Drama mitspielt, sieht oft das Besondere nicht. Und selbst wenn, hätte mein Vater die Ereignisse wohl eher als die Normalität der Zeit interpretiert als sich Fragen dieserart stellen zu lassen: Und glauben Sie denn, dass Sie so Besonderes erleben? Wissen Sie nicht, dass abertausend andere tausendmal Schlimmeres durchmachen? Und glauben Sie nicht, dass sich für all dies Geschichtsschreiber in Menge finden werden? Leute mit besserem Material und besserem Überblick als dem Ihrigen? Gewiss. Selbst Victor Klemperer, Verfasser von Tagebüchern über seinen Alltag als Jude im Dritten Reich, wurde das entgegengehalten. Betrachten wir die Beschreibung der beiden Reisen daher als Kennenlernen des Panoramas der Zeit, als Roadmovie in zwei Teilen. Es speist sich aus Stationen, die auf verstreuten Zetteln und Dokumenten und Fotos und Briefen zu finden waren. Ihre Inhalte führte ich nicht zuletzt in mehreren Interviews mit meinem Vater zusammen. Aber da verzettelte er sich dann auch wieder. Insofern blicken wir auf den beiden Reisen über die damalige Reichsautobahn gleichsam immer wieder in abzweigende Seitenstraßen.

    Die Erzählungen meines Vaters sind gewiss keine Annäherungen an die objektive Wahrheit. Die Vergangenheit ist ein Land, in das man nicht so leicht zurückkehren kann. Wir versuchten gewissermaßen gemeinsam, zweimal nach Berlin zurückzukehren, in jene Zeit, in der ihn die Reisen als knapp Zwölf- und als knapp Neunzehnjährigen zurück nach Linz führten. Aber Erinnerungen sind unzuverlässig, selbst dann, wenn sie sich auf ganz schlichte Ereignisse beziehen. Hinzu kommt, dass sich über den langen Zeitraum, der zwischen der Erzählung und den Ereignissen liegt, die Ansichten eines Menschen ändern, Taten in eine andere Zeit datiert werden, und das Erlebte von später erworbenen Kenntnissen und Bewertungen der Geschichte überlagert wird. Auch wenn mein Vater, und noch vielmehr sein Vater, mit Uhren zu tun hatte; so einfach lässt sich die Zeit dann doch nicht zurückdrehen – und das später erworbene Wissen ausblenden. Uns hat das Ticken der Uhr, die mein Vater als Abschlussarbeit in der Uhrmacherschule anfertigte, bei den Gesprächen begleitet. Und das Zurückversetzen in jene Zeit war manchmal nicht mehr als ein Haschen nach dem Wind.

    Bei einem dieser Interviews, für die ich ihn in seiner Wohnung aufsuchte, wiederholte er den Satz, der mich beschäftigt, seit ich ihn das erste Mal aus seinem Munde gehört hatte. Er sagte, ich habe mein ganzes Glück im Krieg verbraucht. Es muss Mitte der Achtzigerjahre gewesen sein.

    Ich war noch in der Schule und hatte vielfach mehr Glück als Verstand. Schon damals fragte ich mich: Ist auch mein Lebensglück begrenzt? Habe ich in Latein schon viel davon verbraucht? Hat jeder eine bestimmte Menge? Und ist die bei allen gleich groß? Oder gehört den Tüchtigen nicht nur die Welt, sondern sucht auch das Glück nur die Fleißigen, wie ein Sprichwort sagt? Und wie ist das mit den Menschen, die die Mitte des 20. Jahrhunderts zu bewältigen hatten – konnte man da nur mit einer Portion Glück durchkommen, die danach fehlte? Und brauchte man zum anständigen Durchkommen eine noch größere Portion Glück?

    Mein Vater hat sich diese Fragen nie gestellt. Für ihn waren sie beantwortet. Für ihn war in dieser Hinsicht schon damals die Geschichte zu Ende. Zwei Mal ist er von Berlin nach Linz gereist. 1938 und 1945, auf höchst unterschiedliche Weise. Dann war sein Glück verbraucht. Dann waren große Reisen seine Sache nicht mehr. Das Leben ist Reise genug, sagte mein Vater.

    Mein Vater Alfred mit meinem Großvater Rudolf. Die Aufnahme entstand 1938, jenem Jahr, in dem sie im neuen DKW von Berlin nach Linz gefahren sind.

    Der DKW Sonderklasse, auf diesem Foto bereits erfolgreich nach Hause überstellt.

    Die Häuserzeile der Linzer Bischofstraße, lange Jahre Heimat meiner Familie. Links der Biergarten des Klosterhofs.

    Rück fahrt

    Geschwindigkeit = Analyse geballten Mutes in Aktion. Kriegerische Aggressivität.

    Filippo Tommaso Marinetti

    Berlin Linz 1938

    Das also ist unsere neue Hauptstadt, sagte Rudolf, mehr zu sich als zu meinem Vater. Sie hatten eine lange Fahrt hinter sich. Der Zug fuhr bereits langsam. Er ratterte und rumpelte über die vielen Weichen vor dem Bahnhof, ein riesiger Gleiskörper, auf dem ein Kopfbahnhof saß. Den Empfang begleitete ein Gemisch aus Rauch und Ruß, aus dem Geruch von Öl und Hausbrand, die Geräusche von Zischen und Hämmern. Mein Vater liebte diese Atmosphäre. In Linz, erzählte er, stand er gerne auf der Brücke über den Bahngleisen und ließ sich von den Zügen, die darunter passierten, in dicken Rauch einhüllen. Dann näherten sie sich den drei großen Backsteinbögen des Anhalter Bahnhofs, die alle Gleise aufnahmen. Berlin nahm vieles in sich auf, auch die Funktion der alten Hauptstadt. Jetzt also Berlin, dachte mein Vater, nicht mehr Wien. Aber das war Schulwissen.

    Es war ein Junimorgen im Jahr 1938, kurz vor acht, als der Zug in Berlin einfuhr.

    Im Juni 1938 holte die deutsche Geschichte kurz Atem. Es war keine Atempause, mehr ein kurzes und flüchtiges Einatmen. Kurz zuvor, im Frühjahr, hatte sich die Welt verwandelt. Zuerst durch rhetorischen Druck Hitlers gegen die österreichischen Machthaber, dann durch den Druck der Wehrmacht, die die Waffen nur zu zeigen brauchte, dann war Österreich von der Landkarte verschwunden. Wir weichen der Gewalt, hallten Kanzler Schuschniggs Worte in den Ohren Rudolfs nach. Das war im März. Nicht, dass es dann ruhig war. Die Unterwelt, wie Carl Zuckmayer schrieb, hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen. Aber ihr Tun war die neue Normalität. Und im Herbst blies die Geschichte den heißen Atem der Hetze wieder aus, in die Menschen hinein. Sie waren empfänglich dafür, und das entlud sich in Pogromen. Auch in Linz wurde die Synagoge niedergebrannt.

    Im Juni allerdings erreignete sich innerhalb der neuen Reichsgrenzen nichts, was den Geschichtsbüchern Struktur gibt. Es ist die Zeit einer ersten geringfügigen Ernüchterung nach dem Taumel der Anschlussund Abstimmungstage im März und April. Der Juni 1938 gibt keinen Stoff für Kapitelüberschriften.

    Nur dem Leben meines Vaters gab dieser Juni eine Kapitelüberschrift. Er bildete den Rahmen für den Lebensabschnitt zwischen den beiden Reisen Berlin – Linz. Aber das wusste er damals natürlich nicht.

    Rudolf, sein Vater, spürte, dass etwas ins Rutschen gekommen war, dass die Stabilität seiner bürgerlichen Welt nun endgültig der Zerbrechlichkeit gewichen war. Nicht wie um 1900, der Zeit des Fin de Siècle, als das Bürgertum zwischen Endzeit und Aufbruchstimmung schwankte. Jetzt war es ein Stück weit klarer, wenn auch nicht gewiss. Obwohl, Rudolf war nicht politisch, sagte er von sich, und sagte mein Vater über ihn. Aber wer 1938 nicht politisch war, konnte trotzdem so tief im christlich-sozialen Milieu verwurzelt sein, dass diese unverrückbare Selbstverständlichkeit des bürgerlichen Kleinunternehmers, meines Großvaters also, tatsächlich als unpolitisch durchging.

    Filmstills aus Amateurfilmaufnahmen Rudolfs: er und mein Vater an der Tür der Bischofstraße 3.

    Die Nationalsozialisten lehnte er nur insofern ab, als er sie nicht ernst nahm. Und da reihte er sich unter die vielen Bürgerlichen ein, die Hitler schlicht für einen Trottel hielten, und schwiegen, bis es zu spät war. Jetzt regierte Hitler sein Land. Als vier Jahre zuvor in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Wohnung in Linz auf den Straßen geschossen wurde, und seinen Sohn, meinen Vater also, die Geschichte im engsten Sinn des Wortes streifte, waren es schließlich die Sozialdemokraten, die das angezettelt hatten. Die neue Hauptstadt war nur eine von vielen Wendungen auf diesem unruhigen Kontinent, seit Rudolf den Weltenlauf bewusst mitverfolgte. Das war ab etwa der Jahrhundertwende. Er war damals sechzehn.

    Mein Vater lehnte sich aus dem offenen Coupéfenster, um endlich die Reichshauptstadt zu sehen. Rauch zog herein. Rudolf zog seine Taschenuhr aus der Weste. Auch wenn Armbanduhren seit dem Großen Krieg durchaus gängig waren, und Rudolf sein Geschäft darauf aufbaute; er selbst trug selten eine. Er pflegte sich für Reisen ein günstiges Fabrikat einer Taschenuhr einzustecken. Eine Omega mit Stoppfunktion war es. Er hatte sie aus seinen Lagerbeständen genommen. Sie war noch in einem kleinen Stoffsäckchen verpackt. Mein Vater erinnerte sich genau daran, wie Rudolf damals ausrief: Auf die Minute! Rudolf war fasziniert von technischer Präzision. Weltrekord der Präzision sollte es am besten sein. Das schrieb er in ein Inserat, das er einst in der Vorweihnachtszeit in der Linzer Tagespost schaltete. Er entwarf es in groben Zügen selbst. Das Portrait eines Rennfahrers mit Lederhaube und Brille musste darauf zu sehen sein. Es war die Verbindung zu seiner zweiten Leidenschaft. Nicht nur die kleinen Rädchen in den Uhren, mit denen er handelte und die er reparierte, faszinierten ihn. Ihn faszinierte moderne Mobilität, die Möglichkeit der genauen Zeitmessung, und dass die stundenlange Reise von Linz nach Berlin so pünktlich zu Ende ging. Fahrpläne und Hinweistafeln führten die Ankunft noch unter Fernverbindung-Ausland. Das entsprach nicht dem Schulwissen meines Vaters. Ihn belustigte das. Er war damals knapp zwölf.

    Mein Vater hatte eine Vorstellung von Berlin. An der Schwelle zum Erwachsenwerden braucht es nur ein paar Bilder im Kopf, um einen ganzen Kosmos klar und deutlich entstehen zu lassen. Onkel Thomas war es, der ihn seinem Neffen gezeichnet hat. Er war ein Opernnarr und galt seinem Bruder Rudolf, dem Geschwindigkeitsnarren, als Träumer. Die Oper hatte am Linzer Landestheater seit den Dreißigerjahren Konjunktur, und Thomas eine Sopranistin zur Geliebten. Die beiden träumten von Berlin in einer Zeit, in der diese Stadt noch ein Parvenü war. So wie Onkel Thomas noch zehn Jahre später einer war. Er war ein Lebemann. Und er hatte nicht nur einen Hang zur Exzentrik, sondern auch zum Exzess, wie es einmal unter Polizeiliches im lokalen Blatt hieß. Aber mehr noch als sich zuweilen zu berauschen, sagte mein Vater, hatte Onkel Thomas eine Vorliebe für Zuckerl*. Und da traf es sich gut, wenn er gelegentlich seinen Bruder Rudolf in dessen Wohnung in der Bischofstraße Nummer 3 besuchte.

    Mein Vater war nicht nur in der Bischofstraße zu Hause. Er war, auch wenn er das so nicht ausdrückte, auf der Bischofstraße zu Hause. Es ist eine kurze Gasse, die von der Hauptachse der Stadt, der Linzer Landstraße, wegführt. Sie bildet eine nur etwa zweihundert Meter lange Verbindung zum großen neugotischen Dom. Sie war Kulisse seines Lebens. Eine lange Fassade in Neorenaissanceform prägte die kurze Gasse. Die Wohnung lag in der historischen Anlage mit Blick in den Innenhof, auf der gegenüberliegenden Seite mit Blick in den Gastgarten des Bräugasthofs Klosterhof, gebaut Anfang der Achtzehnachtzigerjahre, in der Zeit von Rudolfs Geburt. Eine Umgebung, die nicht nur Hintergrund auf so vielen Filmen und Fotos ist, die meinen Vater und andere Familienmitglieder auf der Straße zeigen, sondern Kulisse und Bühne seines Lebens: Aufenthaltsort und Spielplatz, Lebensraum einer behüteten Kindheit und Heimat. An diese stattliche Fassadenfront schlossen sich biedermeierliche Hauser an. Einstöckig. Damals das alte Linz.

    Eines davon, Bischofstraße Nummer 7, suchte Onkel Thomas oft auf, um sein silbernes Zigarettenetui mit Lutschpastillen vom Zuckerl-Schwager aufzufüllen. Thomas konnte sich minutenlang in der Expertise über Seidenzuckerl, Rahmblockmalz und Ingwer nach englischer Art ergehen. Zuckerl-Schwager war die erste Adresse für diese Ware in Linz. Erste Ware, pflegte Onkel Thomas zu sagen, sagte mein Vater. Und der geriet mehr nach seinem Onkel Thomas als nach seinem Vater Rudolf. Dieser Onkel wollte Gegenkultur zu den fleißigen, Trachtenhut tragenden Linzer Provinzstädtern sein. Als Großstadt galt sie ihm nicht. Sie wird in absehbarer Zeit ein neues Opernhaus besitzen, meinten sie. Konnte auch nicht anders sein, schließlich war sie die Heimatstadt des Führers, wie es in einem Buch über die Heimatstadt des Führers hieß. Es kam im Jahr 2013; die Prognose, nur eine von vielen unzutreffenden in jener Zeit. Thomas scheute sich später übrigens nicht, mit einer eleganten Wehrmachtsuniform aufzufallen. Er war in dem Sinne unpolitisch, wie es sein Bruder Rudolf war. Die unpolitischen Österreicher wurden Beute der jeweils Herrschenden.

    Rudolf war ein säkularer Mensch im christlich-sozialen Lager, das den Katholizismus als Defensivideologie gegen die Moderne führte. Als er im Dezember 1918 ein Stellengesuch in einer Zeitung aufgab, charakterisierte er sich nicht nur als tüchtiger Uhrmacher, sondern auch explizit als katholisch.

    Er war gefangen in einem Paradox, das er nicht auflösen konnte. Sein Freizeitleben war auf die atemlose Moderne ausgerichtet. Wenn Beten die Kommunikation mit einem göttlichen Wesen bedeutet, postulierte der Futurist Filippo Tommaso Marinetti, dann ist das Fahren bei erhöhter Geschwindigkeit ein Gebet: Der Verbrennungsmotor und die Reifen eines Automobils sind göttlich. Die Fahrräder und die Motorräder sind göttlich. Aber Rudolf taumelte nicht, wie viele andere, mit diesen Verwerfungen und Umkehrungen in das neue Jahrhundert. Er war weit weg von der Erschöpfung der Nerven, die so viele beklagten, und die in den neu errichteten psychiatrischen Sanatorien Heilung suchten. Er war weit weg von der rätselhaften Jahrhundertwendekrankheit, die sie Neurasthenie nannten. Als Kaufmann wäre er statistisch gesehen in der größten Patientengruppe gewesen. Wer mit den neuen Technologien zu tun hatte, war am anfälligsten. Aber Rudolf ging mit festem Schritt in die neue Zeit und in das neue Österreich.

    Es begann fast gleichzeitig mit seiner neuen privaten Lebenssituation. Im Jahr 1918 übersiedelte er mit seinen beiden Brüdern von Kärnten nach Linz. Es war ihm nichts zu schnell und zu unübersichtlich und zu laut. Er war erpicht auf die neuesten Rennradmodelle und Motorrad-Wertungsfahrten und die letzten Entwicklungen im Wettlauf um Geschwindigkeitsrekorde. Das Neue euphorisierte ihn. Und das barg natürlich Gefahr. Denn im Angebot waren nicht nur neue Technologien, sondern auch neue Ideologien, die unterschiedlichsten neuen Ideen für das gesellschaftliche Zusammenleben – oder zumindest ihre Ausdehnung in breitere Bereiche der Gesellschaft hinein. Rudolfs Privatleben war in den Dreißigerjahren darauf ausgerichtet, endlich seine dritte Frau, meine Großmutter, heiraten zu können. Anna arbeitete bereits seit einigen Jahren bei ihm im Geschäft. Unter dem Einfluss der katholischen Kirche in der Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur war an Heirat aber nicht zu denken. Jetzt, unter den Nationalsozialisten, war es mit einem Schlag möglich. Und das christlich-soziale Milieu war gespalten, in ländliche Bauernsöhne und städtische Gewerbetreibende.

    Szenen aus Filmaufnahmen in Berlin: am Brandenburger Tor.

    Onkel Thomas pflegte die beiden Lager kurzerhand mit einem launigen Spruch zu einen: Linz reimt sich auf Provinz, sagte er. Meinen Vater kränkte das. Er wollte kein Landkind sein. Die wenigen Erzählungen Thomas’ über Berlin formten in seinem Neffen das Bild einer Stadt, in der er leben wollte. Für ihn hatte Berlin vermeintlich alle Voraussetzungen dafür. Dass dies seit 1933 nicht mehr stimmte, verstand mein Vater noch nicht. Er hatte sie im Kopf, wie sie auch in ihrer Glanzzeit niemals war: hell erleuchtet bis spät in die Nacht, überall Vergnügen, Vergnügen, Vergnügen. Was Vergnügen bedeutet, hätte er nicht recht benennen können. Aber das waren ohnedies mehr Gefühle und Gedanken, die er bei sich behielt.

    Er dachte, gleich einiges davon zu sehen, wenn sie den dunkelgrünen Eisenbahnwaggon verlassen würden, in dem sie seit Regensburg die nächtliche Reise verbrachten. Doch nur wenige Orte vermögen die üblichen Städte-Klischees auch in der Realität zu erfüllen. Außerdem hatte Rudolf gar nicht vor, sich mit seinem Sohn lange in Berlin aufzuhalten. Er kam ja nur, um sein neues Auto abzuholen. Und da sollte ihm mein Vater behilflich sein.

    Und doch blieb er gleich vor dem prächtigen Portal des Anhalter Bahnhofs stehen. Das Gebäude war eine Kathedrale der neuen Religion des Fortschritts, der Geschwindigkeit und Mobilität, mit einer von den beiden aus Linz kommenden Reisenden nie zuvor gesehenen riesigen Ankunftshalle. Alles war größer hier. Berlin war größer als Linz, aber es war nicht nur in jenem Sinne größer, wie man es beim Aussteigen aus dem Zug nicht gleich erkennen konnte, also an Fläche und Einwohnerzahl. Es war größer in dem Sinne, als es zwar wie Linz aussah, aber so, wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet. Die Stuckaturen an den ähnlich anmutenden Häusern waren gewaltiger, die Toreingänge höher, die Laternen wuchsen wie überdimensionale Maiglöckchen am Straßenrand, und selbst die Sockel der Häuser, auf denen das Erdgeschoß saß, reichten viel weiter hinauf.

    Impression vom Sechstagerennen am Kaiserdamm 1926, mit Rudolfs Beschriftung.

    Mein Vater erinnerte sich erst viel später wieder an die bürgerliche Attitüde des gebildeten Erklärens, die sein Vater unmittelbar nach Ankunft in

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