Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Werth und Overhoff: Band 2     Weimarer Republik und zweiter Weltkrieg
Werth und Overhoff: Band 2     Weimarer Republik und zweiter Weltkrieg
Werth und Overhoff: Band 2     Weimarer Republik und zweiter Weltkrieg
eBook852 Seiten12 Stunden

Werth und Overhoff: Band 2 Weimarer Republik und zweiter Weltkrieg

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dies sind die Lebenserinnerungen der Familien Werth und Overhoff in der Zeit von der Weimarer Republik bis zum Ende des 2. Weltkrieges. Es ist die Fortsetzung des ersten Bandes, der die Aufzeichnungen aus dem Zeitraum vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik beinhaltet.
Mein Urgroßvater Pfarrer Friedrich Werth hat seine Tagebücher in den Jahren 1934 bis 1946 eigenhändig geschrieben. Er wohnte in dieser Zeit als Pensionär im Haus seiner ältesten Tochter Luise Werth in Düsseldorf Lohausen. Seine Aufzeichnungen enden Anfang 1946. Damals war Pfarrer Werth 87 Jahre alt.
Seine Tochter Luise Werth hat die Tradition der Familie Tagebücher zu führen fortgesetzt. Von ihr ist beeindruckend ihre Situation als Lehrerin während des Nazi Regimes und im 2. Weltkrieg beschrieben.
Jahrelang schlummerten die Originalunterlagen im Nachlass unserer Familie. Ich habe diese Dokumente der Zeitzeugen jetzt zusammen mit den Fotos der Familie aus der damaligen Zeit zusammen gefügt und möchte sie als Erinnerung an das Leben meiner Vorfahren in dunklen Zeiten deutscher Geschichte erhalten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum26. Mai 2020
ISBN9783751928137
Werth und Overhoff: Band 2     Weimarer Republik und zweiter Weltkrieg

Ähnlich wie Werth und Overhoff

Titel in dieser Serie (2)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Sozialwissenschaften für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Werth und Overhoff

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Werth und Overhoff - Books on Demand

    Vorwort

    Jahrelang schlummerten die Tagebücher meiner Vorfahren im Nachlass von Luise Werth und meiner Mutter Dr. Erika Schröder. Auch ich habe sie lange liegen gelassen, zusammen mit den Fotoalben aus der damaligen Zeit. . Jetzt habe ich beides zusammen gefügt und möchte es der Nachwelt und vor allen Dingen meinen Kindern und Enkeln als Erinnerung an das Leben meiner Vorfahren in dunklen Zeiten Deutscher Geschichte erhalten, verbunden mit dem Wunsch, dass ihre Generation daraus lernt in Frieden, Freiheit und Wohlstand zu leben.

    Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist zeigen diese schriftlichen Zeugnisse meiner Vorfahren. Deren Tagebücher und Briefe aus der Zeit des deutschen Kaiserreiches bis hin zum Ende des Zweiten Weltkrieges zeugen von dem täglichen Überlebenskampf, der Angst und der Armut in den Zeiten der sozialen Umbrüche, der Inflationen und Wirtschaftskrisen und zweier Weltkriege. Trotz aller widrigen Umstände spürt man aber auch die fast übermenschlichen Anstrengungen dieser Generationen, das Leben positiv zu gestalten und immer an eine bessere Zukunft zu glauben und daran zu arbeiten.

    In dem ersten Band, der die Zeit vom Kaiserreich bis zur Weimarer Republik abdeckt, veröffentlichte ich die Tagebücher von meinem Urgroßvater Pfarrer Friedrich Werth, Oberbaurat Theodor Overhoff und meinem Großvater Leutnant Erich Overhoff.

    Pfarrer Friedrich Werth war evangelischer Pastor in Asbach und Waldböckelheim. Er hat seine Lebenserinnerungen in den Jahren 1934 bis 1946 aufgeschrieben. In dieser Zeit wohnte er als Pensionär im Haus seiner ältesten Tochter Luise Werth in Düsseldorf Lohausen.

    Theodor Overhoff war der Bruder meines Großvaters und hat die Geschichte seine Familie Overhoff niedergeschrieben. Die Feldbriefe und Tagebücher meines Großvaters Erich Overhoff beschreiben die katastrophalen Zustände des Grabenkrieges an den Fronten im ersten Weltkrieges.

    Der 2. Band geht schwerpunktsmäßig auf die Zeit von der Weimarer Republick bis zum Ende des ersten Weltkriegs ein.

    Mein Urgroßvater Pfarrer Friedrich Werth hat seine Tagebücher während des zweiten Weltkrieges tagesgenau weitergeführt und aus seiner Sicht die politische und geellschaftliche Lage beschrieben. Seine Aufzeichnungen enden Anfang 1946. Damals war Pfarrer Werth 87 Jahre alt.

    Seine Tochter Luise Werth hat die Tradition der Familie Tagebücher zu führen fortgesetzt. Beeindruckend hat sie ihre Situation als Lehrerin während des Nazi Regimes, ihre Kriegserebnisse und ihre Erfahrungen mit den nationalsozialistischen Jugendlagern in den drei Kriegstagebüchern von 1939 bis 1945 niedergeschrieben, und dies teilweise aus Angst vor den Nazis in französischer Sprache.

    Elise Marie Luise Werth wurde am 23. August 1887 in Asbach geboren. Sie war die älteste Tochter des evangelischen Pfarrers Friedrich Werth und seiner Frau Sofia. Ich persönlich habe meine Großtante als Tante Wieschen gekannt und geliebt. Sie hat damals, in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, mit mir gesungen und gemalt und ich habe meine ersten Reisen ohne die Eltern mit Tante Wieschen gemacht. Sie war immer bemüht mir die guten und schönen Seiten des Lebens und der Natur zu zeigen. Und das obwohl sie ihr Leben lang gelitten hat unter einer harten Jugend fern vom Elternhaus und dem Leid und der Not zweier Weltkriege. Luise Werth hat Zeit Ihres Lebens geschrieben und gemalt. Sie hat Dramen und Essays geschrieben, die meist einen geschichtlichen Hintergrund hatten, aber nie veröffentlicht worden sind.

    Sie hat ihre handschriftlichen Notizen selbst Anfang der 50er Jahre noch einmal leserlich mit der Schreibmaschine abgeschrieben. Die Lebenserinnerungen, die sie nach der Abschrift der Kriegstagebücher als Ergänzung Ihrer Lebensbeschreibung geschrieben hat, umfassen ihre Jugend, ihre vielen Reisen und ihre Tätigkeiten bis 1937.

    Ihre Tagebücher hat Sie mit folgender, heute noch aktuellen Widmung meinen Eltern geschenkt:

    Den lieben Schröders zu Weihnachten 1956: hoffentlich bleibt dieses Buch nur ein Erinnerungsstück aus längst verblassender, alter Zeit - in gemütlichem Heim gelesen - doch nie mehr nach erlebt.

    Gerd Schröder

    Brauweiler im April 2020

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort

    Teil 1: Lebenserinnerungen von Luise Werth

    Die Jugend

    Frankreich und England

    Anstellungen

    Im 1. Weltkrieg

    1918 bis 1937

    Teil 2: Kriegstagebücher von Luise Werth

    Tagebuch 1: Die Flucht

    Kriegsanfang 1.9.1939

    Das Jahr 1940

    Das Jahr 1941 bis März

    Tagebuch 2: Das Jahr 1941

    Das Jahr 1942

    Das Jahr 1943 bis August

    Tagebuch 3: Das Jahr 1943

    Das Jahr 1944

    Das Jahr 1945 bis Ende Mai

    Teil 3: Aus meinem Leben von Fritz Werth, Pfarrer i.R.

    Tagebuch 5: Im Ruhestand

    Tagebuch 6: Dem Ende entgegen 1941 / 1944

    Tagebuch 7: Aus meinem Leben

    Lebenserinnerungen

    von Luise Werth

    Meiner lieben Hilde zum Andenken an Ihre Schwester Luise.

    Einiges über meine Vorfahren.

    Mein Wissen über meine Vorfahren kann man wohl nicht exakt nennen. Eigentlich hat mich weder Verwandtschaft noch systematische Ahnenforschung je interessiert. Da ich aber bei meinen Großeltern väterlicherseits aufgewachsen bin, bleibt nicht aus, dass ich etliches über die nächsten Vorfahren gehört und behalten habe, aber mehr Anekdotisches als Aufbauendes.

    Der Ururgroßvater meines, Großvaters muss aus der Nähe von Westhoven bei Hagen gekommen sein. Dort vermuten wir ein Bauerngut auf einen Werth, d.h. angeschwemmtes Land. Ihr Name war anders. Daher auch die Unmöglichkeit der Nachforschung. Der direkte Vorfahr war wohl ein jüngerer Sohn ohne Erbe, der von zu Hause fort ging, um eine Eigenexistenz als Arbeiter später Handwerker sich zu schaffen. Er ließ sich in Barmen unter Namen des heimatlichen Gutes „Werth" nieder. - Am Anfang des 19. Jahrhunderts wissen wir, das einer der Söhne Werth während der Freiheitskriege in die Pfalz verschlagen wurde und dort seine Frau kennen lernte. Ein Muster von einer Reise aus der Zeit ist die Erzählung, wie die junge Frau aus Barmen aus Heimweh es auf sich nahm, mit ihrem Kind, das sie auf den Rücken gebunden hatte, und einem Korb mit Wäsche und Lebensmittel auf dem Arm ihre Heimat besuchte. Zunächst musste sie zu Fuß nach Köln gehen, dann per Fracht- oder Ruderschiff den Rhein hinauf bis Bingen oder Ingoldheim fahren, schließlich weiter zu Fuß in die Pfalz hinein wandern. Dann kam natürlich dieselbe Tour rückwärts. Das hat mir als Kind großen Eindruck gemacht. Damals hatte man noch keine Ahnung, dass zu unseren Zeiten noch ganz andere Wandrungen ausgeführt wurden und das fast von einem ganzen Volk.

    Der Vater meines Großvaters war Bäcker. Durch großen Fleiß und Sparsamkeit brachte er es zu einem wohlhabenden Mann, der unter anderem mehrere Häuser besaß. Aber er war ein harter Mann und kannte nur Arbeit, Pflicht, Streben und sein treues, reformiertes Bekenntnis. Wenn eines seiner Kinder sagte: „Vater, ich habe heute Geburtstag dann brummte er nur: So? oder, wenn er gute Laune hatte, dann sagte er: „Was, so alt und noch so ne Dummschnute!

    Dieser Urgroßvater hatte in erster Ehe eine Frau, die in ihrer Putzwut (eine echte Barmer Eigenschaft) die Kunden fast aus dem Laden trieb. In 2. Ehe nahm er eine Witwe, die einen katholischen Sohn (Joseph) mitbrachte. Da aber der Geist des Hauses sehr streng protestantisch war, wollte der Junge nicht in der katholischen Schule bleiben, sprang zum Fenster hinaus und rannte nach Hause. Da brachte ihn der Stiefvater zu seinen reformierten Prediger. Der aber weigerte sich, den katholischen Jungen aufzunehmen. Deshalb ging der Vater Werth - und das war damals ein Entschluss wie ein Konfessionswechsel - zum lutherischen Pfarrer, der das Kind aufnahm. Drei Söhne und drei Töchter entstammten(außer dem mitgebrachten Kind) der Ehe. Karl (Carl Friederich Werth *11.9.1826), mein Großvater, war der Älteste. Er musste im kältesten Winter um 4 Uhr aus dem Bett und heiße Brötchen herumtragen. Wenn ihm das schon nicht passte, dann erst recht nicht das Auseinanderzupfen von Mist auf dem Acker. Er ist sein Lebtag sehr empfindlich gewesen. Hat er doch seinem Bruder verweigert, ihm sein Hemd zu leihen, selbst wenn er es‚ wie es sich gehörte, gewaschen zurückbekäme. Sein Vater sagte von ihm Der Jung ist zu faul. Der muss Schulmeister werden. Wir haben darüber oft gelacht denn einen fleißigeren Mann als meinen Großvater kenne ich nicht. Auf dem Seminar schon hat er nach seiner Arbeit die Nächte durch auf der Orgel geübt, bis er dabei eingeschlafen ist. Später wurde er Gymnasiallehrer. Wie man ihn schätzte, beweist, dass man ihm die Direktorstelle anbot, was er aber wegen fehlendem Universitätsstudium ablehnte. Nebenbei war er alleiniger Sekretär der Duisburger Handelskammer, eine Stelle, die nach ihm 4 andere Leute versahen. Außerdem richtete er die ersten, freiwilligen Berufsschulen ein und schrieb die dazu noch nicht existierenden Bücher. Wie weitgehend und vielseitig seine Pläne waren, habe ich immer bewundert. Erst als der Buchdrucker gegen seinen Willen sein Schulbuch auf Stahlplatten druckte, sodass es nicht jedes Jahr geändert werden konnte, ist es allmählich veraltet. Dass Großvater sonntags in der Salvatorkirche die Orgel spielte, war seine Freude. Und wenn er phantasierte in Vor- oder Nachspiel, hatte er stets eine aufhorchende Gemeinde. Nun, also faul konnte man ihn nicht nennen. Doch körperlich war er ungeschickt. Wanderungen liebte er gar nicht.

    Da war sein Bruder Robert das gerade Gegenteil. Er war sehr gewandt und wurde Oberturnlehrer in Duisburg. Geistig aber reichte er nicht entfernt an meinen älteren Bruder. Und musikalisch war er keineswegs. Einen 3. Sohn, der Lehrer in Wesel war, habe ich nie gesehen. Dessen Sohn habe ich in Frankfurt kennen gelernt, als er nach dem ersten Weltkrieg als Flüchtling aus Genua kam und sich eine neue Existenz gründen musste. Er war Kaufmann. - Eine der Töchter des Urgroßvaters führte ihrem Bruder Robert den Haushalt, nachdem er seine Frau früh verloren hatte. Eine 2. Tochter, Tante Lenchen, die ich in hohem Alter in Barmen sah, hatte einen Hohmann geheiratet. Es war im Jahre 1923, als ich bei vollkommener Entwertung unseres Geldes auf einer Ferienrückreise plötzlich festsaß, da die Engländer die besetzte Zone unvorhergesehener Weise sperrten. Damals suchte und fand ich rührende Aufnahme bei dieser alten Tante Lenchen, obgleich sie selbst nur mit Verpfändung ihres Sparkassenbuches bei den Kaufleuten Essen beschaffen konnte. Weshalb ich auch sobald wie möglich auf Schmuggelwegen, ohne eigenen Pass mich nach Düsseldorf weiter durchschlug. Diese Tante Lene also war eine liebe, bescheiden stattliche Frau und ist mir in bestem Gedächtnis. —

    Nun zu Großvaters Frau. Sie stammte aus Rees am Niederrhein.

    Als ihre Eltern silberne Hochzeit feierten, brachte ein junger Mann seinen Freund mit, eben den jungen Karl Werth. Dieser sehr ernste Mann und die lustige, gewandte, überaus lebhafte Elise Müller (Elise Friederike Maria Müller *23.4.1826) fanden sofort, dass sie zusammengehörten. Und bei all ihrer Verschiedenheit waren sie wie die Brautleute bis in ihr hohes Alter. - Sie haben die diamantene Hochzeit und fast die eiserne gefeiert. Aber die damalige Verlobung fand in Barmen keine Zustimmung. Auf Diktat der Mutter musste die Schwester ihm schreiben Weg mit der Braut! War doch der Junge gerade mit seiner Ausbildung fertig. Aber - so fügte die Schwester hinzu. - sie war im

    Knöller. Als der junge Bräutigam 2 Jahre später für 200 Thaler Jahresgehalt die Stelle am Duisburger Gymnasium bekam, fanden die beiden das genug zum Heiraten.

    Aber nun möchte ich auch etwas von der Familie Müller nachholen:

    Georg Müller, der Brautvater, hatte ein sehr bewegtes Leben hinter sich bevor er in Rees landete. Sein Vater war Pfarrer in Hanau am Main gewesen. Er starb früh und hinterließ 2 Söhne als Vollwaisen. Der Vormund nahm sie von der Schule und steckte‚ sie zu einem Goldschmied in die Lehre. Der Älteste riss sofort aus und hat mit Fleiß und Hungern es bis zum Pfarrer gebracht, ist aber dann früh an der Schwindsucht gestorben. Der 14jährige Georg blieb bei seinem Meister, bis er 17 wurde. Dann floh auch er und trat in das Lützowsche Freikorps ein. Er hat dann den Freiheitskrieg mitgemacht und es dabei zu irgendeiner Offiziersgrad gebracht - nach seinem Säbel zu urteilen, den uns 1918 die Franzosen gestohlen haben. Aber in dem tückischen Fieberklima bei der Belagerung von Metz holte er sich den Typhus. (Hat doch schon Karl V. aus demselben Grund eine Armee verloren) Kurz, der junge Soldat wurde mitten im Winter in einem offenen Kahn die Mosel abwärts transportiert. Im Fieberdelirium stürzte er sich ins Wasser, kletterte einen Brückenpfeiler hinauf und blieb dann oben auf der Strasse liegen. Am anderen Morgen fand ihn da ein Bauernknecht‚ lud ihn auf eine Schubkarre und brachte ihn zu seiner Gutsherrin. Diese nahm ihn auf und pflegte ihn gesund. Hatte doch eine spanische Familie ihren einzigen Sohn, den Napoleon I. mitgenommen hatte, bis an seinen Tod gepflegt. Aus Dankbarkeit nahm sie nun selbst einen Fremden auf. Sie hatte gern den Findling adoptiert. Aber dann sollte er katholisch werden. Das konnte er nicht und floh heimlich wieder fort. Er hat es nie überwunden, dass er das der guten Frau antun musste.

    Schließlich kam er in das verschlafene Grenzestädtchen Rees. Zunächst fing er einen Laden an. Aber er passte zum Kaufmann wie ein Kamel zum Zitterspielen. Ein Grobian war er auch. (Wie die Geschichte von den Lampenzylindern zeigt) Dann übernahm er die Stadtrechnungen und die der großen umliegenden Güter. Auch hatte er bei Auktionen zu agieren. Wenn da die Leute nach seiner Meinung nicht hoch genug boten, überbot er sie selbst und blieb denn auf den komischsten Dingen hängen, z.B. auf einen Wagen ohne Pferd oder auf der Oberhälfte eines Hauses (Was später sein Vater schwer wieder los wurde). Seine Frau war so recht geeignet, dem hitzigen, kleinen Mann das Gegengewicht zu halten. Sie ging, still und sanft ihren Weg. Auch war sie eine gebildete, wohlerzogene Frau die ihren 2 Töchtern (Elise und Auguste) sehr gut beibrachte, was sieh schickte. Meine Großmutter legte später auch bei mir sehr großen Wert darauf aber dann waren die Sitten schon reichlich veraltet, und ich wurde manchmal zum Gespött meiner Kameraden). Urgrossmutter Müller war verwandt mit der Tabakimportfirma Böninger in Duisburg, außerdem mit der Familie Davidis, von denen eine Tochter das viel gepriesene Kochbuch schrieb - wonach sich aber schon lange keine Geldbörse mehr richten kann.

    Aber noch ein Stückchen von Urgroßvater Müller. Er muss so was wie ein Stadtoriginal gewesen sein. Eines Tages in Jahre 1848 traf er auf ein Rudel revolutionierender Jungendlichen. Die hoben ihn mit Geschrei auf: Da ist der Herr Müller. Der soll uns sagen, was Recht ist. Sie brachten ihn johlend in die nächste Wirtschaft, stellten ihn auf den Tisch und riefen: Herr Müller, nun sagen Sie uns, ob es Recht ist, Revolution zu machen! Der Teufel soll Euch holen, wenn Ihr nicht Ruhe und Ordnung haltet! schrie sie der Urgroßvater an und hielt ihnen dann eine Vaterländische Pauke.

    Schließlich sagten sie alle einmütig: Der Herr Müller hat Recht. Und damit war in Rees die Revolution 1848 zu Ende.-

    Auch Großvater Karl Werth hat 1848 mitgewacht. Die Bürger hatten gegen den zu erwartenden Einmarsch der Revolutionäre in Barmen Barrikaden gebaut und eine Bürgerwehr mit Schusswaffen ausgerüstet. In dieser Bürgerwehr wurde auch der junge Lehrer Carl Werth bestimmt, mitzutun.

    Militärisch ausgebildet war er nie. Die Lehrer waren damals frei vom Kriegsdienst. Er wusste kaum, was oben oder unter am Gewehr war. So musste er Wache an der Barrikade stehen. Aber glücklicherweise kam niemand. Die Strasse war wie ausgestorben. Schließlich will ein junges Mädchen passieren. Halt! ruft die Wache. Och, bist Du toll, Carl kam es zurück. Einerlei, wenn ich halt sage, musst Du stehen, und ich muss Dich nach Hause eskortieren antwortete die strenge Wache. Das Mädchen war eine ehemalige Mitkonfirmandin. Na, dann ließ sie sich die militärische Bewachung lachend gefallen. Aber soviel ich weiß, muss Großvater damals schon kurz vor der Hochzeit gestanden haben. Wie er da nach Barmen kam, ist mir nicht klar. Beide Grosseltern waren 22, als sie heirateten, Großmutter ein halbes Jahr älter als er.

    Dies veranlasste sie noch im hohen Alter im Scherz zu sagen: „Das verstehst Du nicht. Du bist noch zu jung. Aber im Allgemeinen war Großvater der absolute Diktator der Familie. Mein Vater, der in wissenschaftlichen Dingen, sehr selbständig dachte, hat sich in Lebensfragen nie vom Urteil seines Vaters lösen können. Anders war sein älterer Bruder Karl. Er war auch für Vater der glückliche Bahnbrecher. Nicht nur, dass er als Student es wagte zu bitten, das man die Mutter als Schneider ersetzen solle durch einen Berufsschneider (was bei aller Liebe für die Mutter doch wohl nötig war). Er ist sogar gegen den Willen seines Vaters Burschenschafter geworden und hat die Frankonia in Bonn wieder neu gegründet. Die dabei entstehenden Schulden musste er zwar auf die eigene Kappe nehmen und hat deshalb in den Universitätsferien seine Börse als Gebäudelehrer auf einem Ostpreußischen Gut wieder normalisiert. Als er nach Bonn zurückfuhr, hatte er bis zur Bahn eine Kutsche zu benutzen. Und da auf dem Gut ein Gestüt war, deren Tiere bewegt werden mussten, kam er sechs spännisch vor dem Stationsgebäude angefahren und nahm zum Erstaunen des Stationsvorstehers ein Billet 4. Klasse. Auch politisch war der Onkel sehr selbstständig. Er ging trotz seines sonst guten Verhältnisses mit seinem Gutsherren zu den Propagandareden seines Gegners und war begeisterter Bismarkverehrer Zu dessen Geburtstag lies er es sich nicht nehmen, als Abordnung nach Friederichsruh zu fahren. Politisch war auch seine Mutter sehr interessiert. Dem Kaiser war auch sie nicht grün wegen der Absetzung des großen Kanzlers. Onkel Karl behauptete, dass in dem Kladderadatsch auf dem Blatt „Auszug der Nörgler die Großmutter vergessen worden sei. - Also ein Draufgänger war der Onkel. Eines Tages kam er als Junge klatschnass nach Hause und bekam seine Prügel, sagte aber nichts. Es stellte sich bald heraus, dass er ein Schifferkind gerettet hatte, indem er einen Kopfsturz von der Mühlheimer Brücke zwischen zwei Schiffen durch gemacht und das Kind glücklich noch gefischt hatte. - Beide Söhne Karl und Fritz hatten den unverwüstlichen Humor ihrer Mutter geerbt, während Anna, die ältere Schwester nicht das Geringste davon hatte. Sie war sehr hübsch und intelligent, anfänglich der Liebling des Vaters. Als sie aber mit 40 Jahren als arbeitsunfähig wieder heim kam, entstand eine volle Antipathie zwischen den Beiden. Sie war 20 Jahre Leiterin eines sehr vornehmen großherzoglichen Pensionats in Baden-Baden gewesen, die Vergötterung ihrer Schülerinnen, und in vollkommne Hofallüren hineingewachsen. Dann konnte sie sich in die bürgerlichen Verhältnisse und das Joch ihres Vaters nicht zurückfinden. Sie ist bis in ihr hohe Alter wegen ihrer Intelligenz von Besuchern gern gehört worden aber wegen ihrer Hersch- und Hasssucht für die Familie unausstehlich. Die Großeltern hatten noch drei Kinder gehabt, von denen 2 an Scharlach und eins an galoppierender Schwindsucht früh starben. Diese Krankheit der kleinen Emmy, die sonst ein ganz kräftiges Kind gewesen war, kam von der Heilmethode der damaligen Ärzte, die mit Blutschröpfen fast alles behandelt. Also sechs Kinder, oft auch sechs interne Schüler, dazu, wie das damals möglich, war zwei mitwohnende Dienstmädchen, das war schon ein ganz stattliches Haushalt. Und wenn nicht die Großmutter mit Nähen und Flicken die halbe Nacht Großvater bei seinen Schreibarbeiten Gesellschaft geleistet hätte, wäre es kaum gegangen. Aber so konnten sie nicht nur ihre Kinder studieren lassen, sie hatten bald ein eigenes Haus und hinterließen später ein ansehnliches Vermögen (gut dass sie nicht erlebt, dass die Inflation 1923 alles vernichtet). Erholungsreisen gab es nur nach Rees, das Eldorado meines Vaters, vor allem wegen des riesigen Obstgartens. Eine zweite Quelle großer Freunde waren die Zusammenkünfte mit Freunden zu guter Hausmusik. Mutter hatte eine sehr schöne Stimme und Großvater begleitete sie. Auch alle anderen Familienmitglieder waren sehr musikalisch. Der Vater lernte kein Instrument auszuüben, da sein Vater aus Mangel an Zeit den Unterricht seiner Tochter übergab. Von seiner Schwester wollte sich der Junge nicht sagen lassen, was er später sehr bedauert. Was lässt sich weiter berichten? Das Ende war tragisch. Onkel Karl baute ein Haus für die Eltern und sich in Bochum, heiratete plötzlich, sehr spät eine Frau aus einer ehemals reichen, aber degenerierten Familie. Sie war nicht nur die Ursache zu seinem frühen Tod, sondern auch dazu, dass das Leben seiner alten Eltern in tiefes Unglück geführt wurde, bis es schließlich gelang die Frau zu entmündigen und in eine Anstalt zu bringen. Ihr Sohn hatte die besondere Intelligenz seines Vaters aber auch die Charakterschwäche seiner Mutter geerbt. Dazu kam, dass er ebenso eine unerträgliche Frau aus altem Adel heiratete, die die Prätention auf das Recht vom vornehmen nichts tun hatte. Auch er ging früh zugrunde.

    Es blieb von unserer Familie kein männlicher Nachkomme. Auch die Linie von Fritz Werth in Wesel ist ausgestorben. Der einzige Sohn hatte drei Töchter. Aber Robert Werth hatte zwei Söhne, beide sehr intelligent, überstrebsam, ganz amusisch. Sie heirateten beide viel Geld. Albert starb kinderlos. Alfred hatte zwei Söhne, von denen der älteste charakterlich sehr schwierig war, man kann sogar sagen abnormal. Der Jüngste hatte die gewinnende Liebenswürdigkeit der Mutter geerbt. Er fiel im letzten Krieg und hinterließ einen Sohn und eine Tochter. So ist Hans-Hermann Werth der letzte dieses Namens. Aber durch die neue Inflation sowie die Anfeindungen und sadistischen Prozesse seines Onkels Alfred ist er so arm, dass er Arbeiter werden wird. Es fehlt ihm aber auch an Strebsamkeit. Das ist das Ende des stolzen in drei Generationen aufgehäuften Reichtums.

    Die Familie meiner Mutter hieß Dallwig. Sie stammte aus Kurhessen. Es war eine alte Pfarrersfamilie, von denen nach langer Generationsreihe mein Großvater als erste die juristische Laufbahn einschlug. Nichtsdestoweniger war er sehr religiös. Im Gegensatz zu seinem Vater, der aus dem rationalistischen Zeitalter stammte, schloss er sich der streng lutherischen, pietistischen Bewegung an. So sehr wie er fanatische Althesse und Antipreuße war, so streng orthodox religiöse war er und erzog danach seine sieben Kinder, die folglich im Gegensatz dazu fast ganz areligiös wurden. Ich vergaß vorher zu erzählen, dass ein Onkel von ihm sich schon gesträubt hatte, das Pfarramt anzutreten. Aber erst nach dem Tod seines Vaters machte er sich frei und wanderte mit Mutter, Frau und Kindern nach Amerika aus. Von dort hat uns der letzte Dallwig einmal besucht und uns, da er ein wohlhabender Mann war, in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mehrmals Esspakete geschickt. Wie gesagt, mein Großvater war ein Stockhesse. Er lernte als junger Akteur am kurfürstlichen Hof den negativen Wert seines Fürstenhauses reichlich kennen. Aber dass die Preußen sein Land einfach ausgelöscht hatten, konnte er nicht verwinden. Er hat auch den angebotenen Orden abgelehnt. Das Niederwalddenkmal aufzusuchen, trotzdem er auf eine Reise daran vorbei kam, konnte er nicht über sich gewinnen. Er war ein kleines, brummiges Männchen. Aber zwischen ihm und mir bestand ein ganz sympathisches Verhältnis. Auch seine zweite Frau, die Schwester der früh verstorbenen Ersten, geborene Collmann, konnte ich gut leiden. Sie war stets gütig, und opferte sich für ihre Stieftöchter. Auf die Schulbildung der Töchter legte der Großvater, nach alter Mode, keinen Wert dagegen sehr auf ihre häusliche Ausbildung und eine ausgezeichnete Aussteuer. Aber die berufliche Ausbildung seines Sohnes Ernst lag ihm sehr am Herzen. Dieser hat es aber nur zum Apotheker gebracht. Dazu brauchte man früher kein Abiturium. Dafür war aber die praktische Ausbildung genauer. Fabrikmäßig hergestellte Medizin gab es nicht. Es musste jegliche Mixtur selbst hergestellt wird. Darum suchte sich der Onkel Heilpflanzen und Heilwurzeln im Feld selbst zusammen, probierte selber aus und half auch manchen Bauern mit seinem ausprobierten Heilmitteln oder Giften für das Vieh und das Ungeziefer. Er war sehr gewissenhaft und fleißig wie sein Vater, aber von Depression sehr gequält, sodass er sich später das Leben nahm. Sein Sohn Fritz war ihm auf gleiche Weise vorangegangen. Diese quälende, selbst zerstörende Seelenverfassung muss wohl ein Teil der mütterlichen Familie Collmann gewesen sein, von denen bestimmt einer (August), wenn nicht zwei in einer Nervenheilanstalt endeten. Von den Schwestern des Großvaters scheinen alle geistig und körperlich sehr auf der Höhe gewesen zu sein. Eine Großtante Friederike in Kassel hat es nach dem Tod ihres Mannes kaufmännisch zu Wohlhabenheit gebracht. Ihr einziger Sohn, Martin Klepper, der zum großen Teil mit den Cousinen Dallwig erzogen wurde, war sehr begabt und fleißig. Er saß im Kasseler Gymnasium neben dem späteren Kaiser Wilhelm II, mit dem ihn Freundschaft bis zum Tode verband. Er war zuletzt Landesgerichtspräsident. Eine Tragik war für ihn der Charakter seines einzigen Sohnes Otto, eines hervorragend intelligenten Jungen, der aber durch die schwache Erziehung und das Charakterteil seiner energielosen Mutter frühzeitig der Faulheit, Verschwendungssucht und Liederlichkeit verfiel. Es ist ein Zeichen seiner Leistungsfähigkeit, dass er in den zwanziger Jahren zum Finanzminister berufen wurde, nach Absetzung durch die Nazis erst in China, dann in Amerika wieder zu bedeutenden Stellungen brachte. Aber der Kummer über seine Lebensart war der Grund zu dem frühen Tod seines Vaters.

    Was aus den Töchtern des Großvaters wurde? Marie heiratete nach Kassel. Sie starb mit 95 Jahren und hinterließ einen Sohn, Heinrich Klepper, der Pfarrer in Harle bei Wabern in Hessen wurde. Ihre beiden Töchter hießen Hanna und Liesel. Sie leben heute noch bei dem Nachfolger ihres Bruders im Pfarrhaus zu Halle, da ihr Haus in Kassel den Kriegsbomben zum Opfer fiel. Auguste war die zweite Tochter des Großvaters Dallwig. Sie verheiratete sich mit Pfarrer Stippich. Drei Söhne und zwei Töchter sind uns wenig bekannt. Die Tochter Luise war krank und blieb zu Hause. Charlotte erklärte zum Schrecken der Großmutter, dass sie den Beruf als Schwester ergreifen wollte. Es galt damals als nicht standesgemäß, die Töchter selbstständig werden zu lassen. Die werden sagen, ich als Stiefmutter triebe dich aus dem Haus. Sie ist dann aber doch Krankenschwester geworden, hat lange Jahre in San Remo in Oberitalien deutsche Schwindsuchtkranke gepflegt und im Ersten Weltkrieg den Isonzo Feldzug gegen Italien mitgemacht. Sie hat sich bei Typhuskranken infiziert, wurde schwer geheilt und wieder zur ungarischen Front geschickt, wo sie mit einem verwundeten Offizier als Pflegling bei Kriegsende eine tolle Flucht unternahm. Dann ist sie aber sehr kümmerlich zu Hause gestorben. Tante Mathilde, die liebenswerteste und auch wohl die intelligenteste der Töchter heiratete sehr gegen den Willen ihres Vaters ihren Vetter Ludwig Baur. Seine Mutter war auch ein Collmann. Das Ehepaar Baur lebte 30 Jahre in Hale in der Nähe von Manchester in England und brachte es zu Wohlhabenheit, bis der erste Weltkrieg hereinbrach. Dann wurde der Onkel auf der Insel Man gefangen gehalten und die Tante ausgewiesen. Nach Jahr und Tag kam Onkel Ludwig sozusagen als todkranker Mann auf Krücken zurück. Aber nach einem Jahr und der pekuniären Hilfe der Loge konnte er wieder anfangen zu arbeiten. Als er mit seiner Frau nach langen schweren Jahren wieder zu einem Häuschen und guten Lebensbedingungen gekommen war, traf eine Bombe das Haus. Sie flohen nach Eisenach. Und als sie nach aber vielen Jahren von den Russen zurückgelassen wurden, waren sie alt und gebrechlich und arm wie Kirchenmäuse. Ihr restliches Haus war vom Lumpenpack besetzt und ihre Sachen gestohlen. Um im Winter heizen zu können, sammelte der Onkel Holz im Klettenbergpark und trocknete es im Schlafzimmer auf dem Ofen. Die dadurch entstandenen Dünste vergifteten das Blut und der Onkel starb. Aber Tante hat sich wider Erwarten erholt und wirtschaftet bis heute noch mit ihren 92 Jahren alleine. Sie ist sehr klein und ein geschrumpft, aber quicklebendig.

    Es bleibt noch die jüngste Tochter von Großvater dadurch, Tante Bertha. Sie hatte in der Inneren Mission gearbeitet und hat in späteren Jahren ein Diakon geheiratet, der nach dem Ersten Weltkrieg eine Anstellung im Kreuznacher Diakonissen Haus fand. Jetzt haben die beiden ein eigenes Häuschen mit Garten und leben glücklich zusammen und helfen einander über die Altersgebrechen hinweg. Ich glaube, dass trotzdem die Familie auf dieser Heirat sehr herunter sah, die beiden noch die glücklichsten geworden sind. Er ist jetzt 80 und sie 86 Jahre alt.

    Kinder Fantasie und was daraus folgt.

    Dunkel, in fantastischen, schwarzen Gestalten ziehen die Wolken über die Juli Landschaft. Da steht wieder vor der Erinnerung die Westerwälder Heimat mir ihren Stürmen, wilden Wetterbildungen und Gespensterfantasien.

    Märchen, Hexen, Zauberer und wunderbare Wandlungen waren für mich absolute Wirklichkeiten. Des Nachts stiegen die Hexen auf ihrem Besen über die Türangeln in mein Bett und quälten mich. Aber am Tag lag der Zauber der lebendigen Märchenwelt in jeder Blume. Sie lockte als Fata Morgana aus jedem Zukunftsbild. Die harte, oft hässliche Gegenwart war der zu überwindende Traum. Die Menschen der Gegend neigten stark zu allerlei Aberglauben. In jedem Wäldchen lebt ein Spuk, in jeder Heidequelle ein Kiezchen. Im Erzählen von Mord- und Gespenstergeschichten war besonders meine Freundin Anna Limbach groß. Wir hockten dann in irgend einem halb finsteren Versteck, in einer Scheune oder hinter dem Spritzenhäuschen am Markt und sie erzählte die grausigsten Dinge, während ich mit großen Augen und Herzklopfen zuhörte und alles glaubte.

    Luise Werth 7 Jahre

    Die Größeren machten sich gerne einen Spaß mit meiner Leichtgläubigkeit. Einmal hatten sie mich zu einem Nachbardorf mitgenommen. Wir hatten zum „Doppelnspiel" Schafsknöchlein geschenkt bekommen und ich war stolz auf dem Besitz. Als wir dann im Halbdunkeln heimmarschierten, behauptete einer, im nächsten Kieferwäldchen sei ein Weiher, der gebe alles wieder, was man mit einem Zauberspruch hinein warf. Zum Beweis schwenkten sie alle nacheinander ihre Schafsknöchlein, brummten ihr Sprüchlein, ahmten das Aufklatschen der Doppel auf dem Wasser nach und zeigten mir die zurück gezauberten Knöchlein in der Hand wieder. Ich wunderte mich sehr. Sie drängten mich, meinen Schatz doch auch zu werfen, da er ja wiederkäme. Noch Zweifel im Herzen, aber aus Angst vor dem Spott der anderen, warf ich meine Schafsknöchlein wirklich in den Weiher und war sehr erschrocken, als sie sich nicht wieder zeigten, was natürlich das Hohngelächter der Kameraden zur Folge hatte.

    Viel größere Angst musste ich ausstehen, als mich, wie so häufig, der Vater einmal mitnahm in das weit jenseits der Hochebene Filialdorf Kircheip. Auf dem Rückweg fing es an zu dämmern. Weit und breit nur Heide, Moor und die wie dunkle Schattenmännlein darin wachsenden Wacholderbüsche. Aber schließlich kamen wir auch an einem Fliederbusch vorüber. Dahinter stand eine Hütte, die so klein war, dass sie unter den angestellten Bohnenstangen fast verschwand. Geh schon weiter! sagt der Vater. Ich muss hier zu einer armen, kranken Frau. Ich kann dich nicht mit hinein nehmen. Darauf verschwand der Vater im Hüttchen. Ich habe trottete langsam den Wacholdervater weiter bis jenseits der Moorstelle. - Der Vater kam noch lange nicht. Die Nacht sank. Wolken hoben sich hinter der Hütte und reckten sich lang und drohend zu mir herüber. Da stand ich mit meinen fünf Jahren klein und allein in der weiten Heide und Gespensterwelt. Aus dem Moor stiegen Dünste und schoben sich wie eine Trennwand zwischen Heide und Haus unter dem Flieder. - Immer noch kam der Vater nicht. Eine quälende Angst befiel mich. Jetzt stieg noch gar Rauch aus dem fernen Hüttenschornstein auf. Da packte mich die Angstvorstellung: Der Vater ist zu einer Hexe geraten und nun brät und frisst sie ihn. Welch eine Erlösung, als sich das kurze Klappern von Vaters Stock im Dunst hörte und ihn bald selbst bei mir auftauchen sah.

    Lange habe ich diesen furchterregenden Märchen glauben nicht ablegen können. Aber beim Anfang der Schulzeit hatte ich zu viel Sport zu ertragen, um nicht auch bald mit der Kritik anzufangen. Da machte ich einen Versuch, der allerdings mit einer schmerzlichen Wahrheit endet. Um die Weihnachtszeit sollte ich ein Briefchen mit Wünschen an das Christkind schreiben, den zwischen Fenster und Holzladen stecken, dann käme ein Engel und holt den Zettel ab. Ich tat das auch heimlich, ohne die Eltern davon zu benachrichtigen. Am anderen Morgen war auch der Zettel wirklich nicht mehr da. Es gibt kein Christkind sagten die Schulkinder. Das musste bewiesen werden. Und dann freute ich mich, als der Wunschzettel doch auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Aber meine Freude war von kurzer Dauer. In der Schule Pause sah ich die Schulkinder sich zusammen rotten, laut lachen und mit dem Finger auf mich zeigen. Sie riefen mich heran. Das Blut schoss mir zum Herzen: denn ich sah meine heimliche Korrespondenz mit dem Christkind in ihren unheiligen Händen. Der Wind hat den Zettel ausgerechnet auf den Schulhof getragen. Hast du das geschrieben? war die herausfordernde Frage. Und ich gestehe, ich versuchte durch hartnäckige Lügen die Schmach von mir abzuwenden. Aber sie glaubt mir nicht. So was Dummes konnte nur ich noch glauben. Dieses Erlebnis war einer von vielen quälenden Stacheln, die ich nie überwand.

    Die Schulzeit ist ein notwendiges Übel, dass man mit Würde durchmachen muss. So war es früher, als sich Lehrer und Schüler wie zwei unpersönliche Komplexe gegenüberstanden. Ich freute mich über Lernen und Wissen, aber ein persönlicher Kontakt mit den Lehrern bestand nicht und die Schule war eine Zwangsanstalt. „Heute freut sich der faulste Bengel von 16 Jahren, der Tag und Nacht der Flak dienen muss (1939-1945), wenn zweimal in der Woche der alte Lehrer erscheint und ihm richtigen Unterricht gibt so erzählte mir ein Studienrat neulich. „Wir wollen alles tun, um wieder beizukommen versicherten die Mädel mir, die aus einem sehr vernachlässigten Lager kamen. - Aber eins war wohl der schönste Traum eines Schulkindes, dass die Schule einmal abbrenne. Nun dieser Traum hat sich in unseren Industriestädten in diesem Krieg reichlich erfüllt. Aber anno 1893 stand auf dem Westerwald die steinerne Dorfschule bombenfest und zwei Lehrer führten nach altem Stil hartes Regiment. Gleich in den ersten Schultagen bekam ich das zu verstehen. Ich hatte mit meiner Freundin Anna Limbach geschwänzt und musste nachsitzen. Da waren wir zwei Winzilinge ganz alleine im Schulsaal. Mir ging das arg ans Gemüt und ich kratzte eifrig: „Rauf, runter, rauf, runter Pünktchen drauf! Aber Anna fand das langweilig. Sie sprang ans Fenster und unterhielt sich mit den Kindern unten. Kommt doch runter! riefen sie. Das wollte sie auch umgehend, aber die Türe war verschlossen. Was tun! Schreiben war zu langweilig. Da entdeckte sie den Stock. Schnell hatte sie ihn erwischt, sprang über die Bänke und ärgerte mein Eifer so lang bis ich aufhörte und mit ihr Schule spielte. Plötzlich klangen Tritte auf der Treppe und wie der Wind saßen wir eifrig kratzen mit gesenkten Kopf über der Schiefertafel. Der Schlüssel knarrte und nun dachte ich, käme das Strafgericht - aber nein - wir durften nach Hause gehen. Dann kam das Nachspiel und dazu die Erkenntnis, dass Nachsitzen die schrecklichste Blamage der Welt sei. Ich habe dann im Laufe meiner Schulzeit noch zweimal nachgesessen: einmal weil ich in der Handarbeitsstunde statt des grauweißen Extremadura Stricklappens heimlich an einem bunten Pferdezügel arbeitete und zweitens wegen des großen Einmaleins, das nach meiner Meinung der Teufel erfunden hatte. Wenn du nur nie vergisst, wie schrecklich die Blamage ist, wenn man nachsitzen muss" sagte ich mir mit schwer belastetem Herzens. Aber wenn ich später einen ganz verstockten Schüler doch nachsitzen ließ, war ich immer erstaunt, wie er sich nicht so ausmachte. Also Ehrgeiz muss doch wohl bei mir existiert haben. Ich saß 2. Reihe und war stolz dass meine Schrift genauso schön, wie die von Gertrud Prangenberg, die in der 1. saß und angesehen wurde. Gertrud war überhaupt ein Muster, zu der ich bewundernd aufsah. Sie hatte am Samstag ihr Schürzchen so rein wie am Montag, was nicht versäumt wurde, mir von meiner Mutter vorgehalten zu werden. Ich hätte es auch als eine große Ehre angesehen, wenn Gertrud mit mir gespielt hätte. Aber das war ihr streng untersagt, denn ich war evangelisch. So beschränkte sich unser Verhältnis auf wetteifern in der Schule und Bildertausch in der Pause. Da wurden vor allen Heiligenbildchen vertauscht. Weil ich aber solche Herrlichkeiten nicht hatte, schnitt ich die schönsten Bilder aus einem christlichen, von unserem verehrten Onkel Karl geschenkten, Bilderbuch und tausche die gegen die kitschigsten aller Heiligenbilder. Die Enthüllung dieser Schandtat hat mich beim nächsten Besuch des Onkels Blut vor Angst schwitzen lassen. Aber das Lachen des guten Onkels erlöste gar bald.

    Noch einiges über die Gepflogenheiten in der Schule. Wir mussten mit verschränkten aufgestützten Armen sitzen und den Arm beim Aufzeigen nur so hochheben, dass der Ellenbogen auf der Bank blieb. Wenn sich jemand umdrehte, hatte der Hintermann das Recht, ihm eine Ohrfeige zu geben. Dies war besonders schlimm für uns in der obersten Mädchenbank, da hinter uns Jungen saßen und sich ein Vergnügen machten, uns einen schönen Schlag ins Gesicht zu geben. Darum saßen wir wie die Ölgötzen. Aber einmal hatten wir auch ein Fest. Das war die 25. Wiederkehr der Schlacht bei Sedan. Ich weiß mich aber nur zu erinnern, dass wir Schulkinder im Saal der Wirtschaft Göttner an langen Tischen saßen, Kaffee und Streuselkuchen bekamen und dazu jeder einen Federhalter, Bleistifte, Gummi und ähnliche praktische Kostbarkeiten. Lange dauerte die Schulzeit nicht, denn einmal wurde ich sehr krank durch Diphtherie (an der damals mein zweijähriges Schwesterchen starb. Das schon erfundene Serum war noch nicht freigegeben) und dann fand mein Großvater, ich lerne zu wenig. Wir hatten eine Auswahl von strafversetzten Lehrern und außerdem mehr Kreuz schlage Übungen beim katholischen Pfarrer als geregelten Unterricht. Darum bekam ich in Rechnen und Rechtschreiben Nachhilfeunterricht bei meinem Vater, um bald auf die höhere Schule zu kommen.

    „Adieu, Werth!" war das letzte Wort meines Lehrers oben von der Schultreppe herunter. Ich hatte sogar damals das Gefühl, er hätte wenigstens dann ein persönliches Abschiedswort zu mir kleinen Neunjährigen finden können. Und der Abschied war ohne Trauer.

    Westerwälder Wintererinnerungen

    Hier sitze ich in der leuchtenden Sonne des südlichen Elsass, sehe über rotbraune Schindeldächer der Nachbarscheunen den wolkenlosen tiefblauen Himmel - und will vom Westerwald schreiben, von dem ich keinerlei Sommererinnerungen habe. Winter, nur Winter steht vor mir im Gedächtnis. Unser kleines, vorne mit weißen Brettern und den mit immer klappern Schiefer verschaltem Haus sehe ich halb vergraben im Schnee. Unser kleines Küchenfenster hatte meist nur eine Oberlichtecke, die schneefrei war, wenn der Schneeflucht dem katholischen Pfarrer die Straße nach Limbach zur Messe glatt gepflügt hatte. Wir mussten dann einen Graben, der so hoch wie unserer Haustür war, durchstechen um vom Flur auf die Straße zu kommen.

    Zu der Zeit war die Schule fast leer, da die Kinder, die von auswärts kamen, nicht durch den tiefen Schnee konnten. Aber Schlittenfahren gab es wie nirgendwo. Von der Schule ausging die Straße am Katholischen Krankenhaus und Kloster vorbei stark abwärts und rechts wie links der Chaussee fiel steil eine Böschung in einen Bach hinunter. Ich hatte einen schönen, eisernen Stuhlschlitten. Darauf war ich stolz. Aber er wurde mir einmal zum Unglück. Beim Hinunterrutschen auf der Straße sah ich den Holzschnitten von Paul Jähn, dem Apothekersohn vor mir links ab auf den vereisten Bach stürzten. Ich dachte noch eben „der Paul ist doch ungeschickt", da rutsche ich an derselben Stelle nach über ihn. Der Eisenschlitten war über meinem Kopf und es ist ein Wunder, dass ich unten auf dem Eis lebendig ankam. - Mit dem Schlitten machten wir überhaupt rechte Purzelfahrten. Vor allem der Pferdeschlitten, der uns um die Weihnachtszeit mit Vater ins Filialdorf brachte, hatte durch die Schneewehen auf der Hochebene sehr an sich umzukippen und die ganze Familie mit Strohsäcken, Fußsäcken und Wärmeflaschen sanft umzulegen. Trotzdem waren diese Christfestfahrten besonders beliebt bei uns Kindern. Erstens war die Fahrt selbst herrlich durch die Winterwelt. Und dann kam die Bescherung im alten Schulhaus in Kircheip. Da war ein riesiger Christbaum, darunter dicht gedrängt die kleinen, blonden, rundköpfigen Westerwald Kinder mit ihren erwartungsvollen, blauen Augen. Im Forum waren die Väter und Mütter der Gemeinde, der Vater und der Lehrer. Dann standen da noch die verheißungsvollen Mangelkörbe mit Äpfeln, Nüssen und Bergwerk sowie kleinen Geschenkssachen für uns. Ja, das war herrlich. Solche Äpfel und Nüsse gab es zu Hause sicher nicht. - Und dann die nächtliche Heimfahrt, bei der Vater uns die flimmernden Sterne erklärte - bis zum nächsten Umsturz in den Schnee.

    Ein Ereignis ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, da es viel Tränen kostete und auch von der großen Kälte da oben zeugte. Meine Bücher sollten eine ordentliche Mappe haben. Ein Ledertornister war für unsere Verhältnisse zu kostbar. Ich bekam einen Taler und sollte mir bei Meurers, dem Hotel Mengelberg gegenüber, eine Stofftasche kaufen. Es war an einem Abend um die Neujahreszeit. Dunkel war es draußen und der Schnee fiel dicht. Als sich kaum aus der Türe war, fiel mir der Taler aus der Hand und war nicht mehr zu finden. Weinend lief ich ins Haus, aber erbarmungslos hieß es: „du suchst den Taler wieder!" Ich rannte also wieder vor die Türe, zerwühlte den Schnee, fand aber nichts. Schließlich kam unser gutes Trinchen mit der Laterne und suchte mit, stundenlang Straße auf, Straße ab. Der Taler blieb verschwunden. Auch eine Frau kam vorbei, Frau Strutz, die wegen ihres lebhaften Mundwerkes bekannt war. Die half auch mit und das verkürzte die Zeit, machte mich etwas ruhiger und systematischer Suchen. Mit dem Besen wurde Quadratmeter um Quadratmeter abgekehrt. Und da fand ich den Taler, schon mehr als ein Daumen dick unter dem Eis eingefroren. –

    Luise Werth 10 Jahre

    Über Siedlungen und Wandlungen.

    Ich war neun Jahre alt, als ich aus dem Gebirgsdörfchen in die Kohlenstadt Bochum kam. Und ich freute mich über den Wandel, als wenn ich vom Zwang in die Freiheit hätte gehen dürfen. Der Menschenkreis, die ich verließ war nicht groß: da war voran der Vater, der alles wusste und so gut erzählen konnte. Dann war da die Mutter, die fleißig für Küche, Keller und Kleider sorgte, aber sonst für die Kinder nur da war, wenn es Schelte oder Schläge gab. Im Haushalt war unser Trinchen, von der ich gar keine Erinnerung habe, als dass ihr Gesicht wie Holz geschnitzt war und dass sie brav und in schweigender Selbstverständlichkeit arbeitete. Die Geschwister waren noch sehr klein und ich hatte nur meine Not mit ihnen, wenn sie sich zankten oder nicht aus dem Badewasser wollten. Da half meinerseits nur endloses Geschichtenerzählen. Außerhalb des Hauses, oben am Markt wohnte die Küsterin Caroline Willach, kurz Kanine genannt. Sie gehörte auch zu uns und verwöhnte mich. Bei ihr gab es Butterbrot mit Apfelkompott und Zucker obendrauf. Und lustig erzählen konnte sie auch. Die Leute verstand sie anzuführen, dass man sich halb tot lachen konnte. Aber einmal ging ihr Haus in Flammen auf. Ich sehe noch das Bettzeug durch die Fenster fliegen und die schauerlichen Flammen darüber. –

    Neben ihrer Wohnung war eine Wirtschaft, vor der an Bänken und Tischen unter großen Kastanien die Gäste lärmten. Da wohnte meine Freundin Anna Limbach. Meine Eltern hatten nicht gerne, dass sich dahin ging. Einmal wegen der Wirtschaft und dann weil da die Kinder mit den Kleidern ins Bett gelegt wurden. Dat ewige Us und Aangedons wird mer so leidig… sagte Frau Limbach. Und das wirft auf ihrer Ausführung ein merkwürdiges Licht. Dann starb da die älteste Tochter, ein sehr schönes Mädchen, an der Schwindsucht. Aber mich konnte das alles von Anna nicht trennen. Wir waren uns in den wildesten Fantasieerlebnissen und -Erzählungen sehr einig. Nur einmal erinnerte ich mich, dass wir uns gerauft und gekratzt haben. Das war aber der Zank der Schwestern Frieda hüben und Käthchen drüben Schuld, wobei jede von uns leidenschaftlich die Partei der Schwestern nahm. Das hinderte aber weiter nicht, denn außer den Geschichtenbüchern von Hoffmann war und blieb Anna mein einziger Umgang.

    Meine Übersiedlung nach Bochum brachte zunächst innerlich wohl keinen großen Wandel zustande. Die Schule war und blieb bis zum Schluss der zehn Jahre ein Pflichtobjekt, zu dem kein Gemütston gehörte. In meiner Erinnerung ist die ganze, lange Zeit für mich ein vollkommenes blanko. Nur Begleitumstände oder gänzlich abseitiges blieb haften. Meine Zeugnisse waren immer besser als ich sie mir selbst gegeben hätte, worüber ich stets wieder erstaunt war. So konnte ich trotz größter Anstrengungen und vieler Schellte, es in Aufmerksamkeit nie auf eine eins bringen. Da die Großeltern, bei denen ich lebte, keine Kinder Unruhen haben konnten, lebte ich still ein Fantasieleben mit dem Puppen. Dass ich in Wirklichkeit nicht war, was ich war, sondern eine Prinzessin, die durch Verwechslung in dies traurige Leben geraten war und dass das eines Tages entdeckt würde, war mir klar. Die Puppen ersetzten mir die ganze verloren gegangene Wunderwelt. Für sie war mir ein Spielkämmerchen im Keller eingerichtet. Ich malte ihnen die Stuben, strickte Teppiche und Decken mit selbst erfundenen Mustern, schrieb für sie eine ganze Bibliothek von winzig kleinen Geschichtenbändern, machte ihnen einen Blumengarten auf dem Schuttabhang des richtigen Gartens zu einem schwarzen, modrigem Zechenbach hinunter und baute ihnen eine heimliche Schlosshöhle in den Berg. Doch da ich den Eingang mit zwei Ziegelsteinen sichtbar verschloss, waren am andern Tag die Püppchen gestohlen. Auch mit den großen Puppen nahm es ein tragisches Ende. Der Kellerraum war feucht. Und so lösten sich die Haare und Bälge meiner Prinzessin in Schimmel und Fäulnis auf. Allmählich sei ich auch zu groß für Puppen, wurde ich vertröstet. Aber das war ein schmaler Trost, denn dieses Spiel war der ganze Gemütsinhalt meines kahlen Lebens.

    An ihre Stelle schob sich jedoch allmählich etwas anderes: das Klavierspielen. Was zunächst auch nur Pflicht war, wurde zum Inhalt. Stundenlang konnte ich im kalten Salon am Klavier sitzen und - nicht nur üben, sondern auch Zorn, Sentimentalität und alles was es an erregten Gemütsbewegungen gab, in Fantasieren auslassen. Das mag nicht immer schön gewesen sein, aber man ließ mir das Ventil. Überhaupt war Großvater ein Künstler im Pädagogik. Er brauchte fast nie was zu sagen und alles geschah nach seinem Willen. Niemand hätte gewagt, etwas selbstständig zu unternehmen. Meinem Vater ist bis in sein hohes Alter seines Vaters Lebenseinstellung ein unverrückbarer und vorgeschriebener Weg gewesen. So selbstständig er auf wissenschaftlichem Gebiet war, so vollkommen abhängig war er in Lebensfragen. Die Großmutter war neben dem ernsten Mann die Impulsivität und Liebenswürdigkeit selbst. Sie neckte mich, wo sie nur konnte, blies zum Beispiel gerne mir mitten in der spannendste Lektüre die Petroleumlampe aus und tanzte heimlich mit mir im Flur. Aber sie konnte auch ganz plötzlich zornig werden. Wenn ich mich ins Unrecht versetzt glaubte, gab ich Widerworte. Das war das Schlimmste. Dann bekam ich rechts und links eine schallende Ohrfeige. Dann riss Großmutter die wippte auf den Zehenspitzen und in blitzenden Zorn um die Türkante und schlug mir die Türe vor der Nase zu. Aber in kürzester Zeit war bei ihr aller Ärger wieder verflogen. Nur ich konnte solch eine Abfuhr schlecht verschlucken. Bei uns wohnte auch noch der gute Onkel Karl. Wir gingen zusammen zur Schule und ich versuchte mit seinen weit ausgreifenden Beinen Schritt zu halten. Dies sah die Großmutter mit Entsetzen. Mädchen müssen kleine Schritte machen, mehr tippen, auch nie mit den Armen schlenkern. Ich tat, was man mir beibrachte und bin deshalb später oft ausgelacht worden. - Also mein Onkel Karl passte nicht ganz in den altmodischen Haushalt und ging seinen Junggesellengewohnheiten nach. Wenn seine Mutter, um zu wissen, wie spät er nach Hause kam, die Lampe im Flur brennen ließ, ließ er sie bei seiner Rückkehr bis zum Morgen weiter brennen, sodass der Flur ganz verrauchte. Er war in der freien Art seines Tons und seiner Lebensauffassung für mich ein Wunder, zu dem ich bewundernd aufsah. Ich hatte immer vor irgendetwas Angst, aber er konnte sich mit Lachen oder Wüten über die mir so schwer erscheinenden Dinge wegsetzen. Mit Geld war er sehr freigiebig. Während sonst um jeden Groschen, den ein neues Heft kostete, ein großes Gericht gehalten wurde, ob die Anlage nötig wäre (das war Großvater Prinzip), griff der Onkel manchmal in die Tasche und schenkte mir den ganzen Rest von seinem Kleingeld. Mit dem Plunder könne er sich nicht befassen. Auch in der Schule war er mehr Mensch als unnahbarer Lehrer wie die anderen. Er fiel daher bei der kleinlichen Leitung oft sehr aus dem Rahmen. Oft macht er Ausflüge mit den Oberklassen, wobei es sehr lustig herging. Ich durfte immer mit, war aber doch die abseitige Kleine, die im Grunde nicht dazu gehört. Doch das Glück des Zusammenlebens dauerte nur ein Jahr. Dann heiratete der Onkel und eins der schwärzesten Kapitel meines Lebens begann.

    Die Tanzstunde und was damit zusammenhing.

    „Ich habe immer sehr bedauert, nicht tanzen gelernt zu haben. Darum soll das Kind in einer Tanzschule gehen. sagte Onkel Karl. Die Großmutter stimmte zu. Selbst die prinzipielle Ablehnung von Großvater von allem, was nicht Arbeit hieß, wurde überwunden. Nur Feste und die Schlussfeier wurden von vornherein ausgeschlossen, weil es mit dem Lernen des Tanzes genug war. Wenn sie zur Tanzstunde soll, dann so früh wie möglich, damit noch nicht von Posieren die Rede sein kann sagte der Onkel. Neben der alten Schule in der Humboldtstraße war die Loge. Dort hatten die reichsten Familien Bochum für ihre Kinder eine Tänzerin engagiert, eine bildhübsche, schlanke Dame mit schwarzen locken, großen, goldenen Ohrringen, bezwingender Liebenswürdigkeit und einem französischen Ehemann. Sie hieß Madame Lorrain. Leider kam mein Onkel auf die Idee, mich in diesem Tanzzirkel anzumelden. Nicht dass ihn die Vornehmheit angezogen hätte. Kindertanz war für ihn Kindertanz. Aber für mich war das nicht gleich. Sofort bei der Anmeldung merkte ich, dass da ein Haken war. Man musste erst bei Frau Barre fragen, ob ich mit tun durfte. Die Antwort fiel bejahend aus, - wohl einmal, weil durch mich das 12. Paar voll wurde und dann war mein Onkel eine stadtbeliebte Persönlichkeit. Das Tanzen war für mich eine Freude, nach der ich mich die ganze Woche sehnte. Und da wir alle im Alter von 10-12 Jahren waren, kam der Standesunterschied zunächst wenig infrage. Nur dass ich stets in demselben kompakt soliden blauen Cheviot Kleid mit den weißen Litzen erscheinen musste, während die anderen wechselnde leichte Battist- oder Seidenkleidchen trugen. Das war etwas bitter. Da ich aber am besten tanzte und mit Hans Baré vortanzen durfte, verwischte das zeitweilig den Eindruck der Minderwertigkeit. Mir schien überhaupt, die Tanzlehrerin zöge mich vor. Darum liebte ich sie sehr. Noch jahrelang hatte ich sie als einen überirdisch schönen und guten Engel in Erinnerung. Bis ich sie eines Tages als fette Matrone mit ihren langen goldenen Liege Ohrringen in Düsseldorf auf der Straße wieder sah und sie verdächtigt den Eindruck von verlebter Halbwelt machte. Da war der Schwarm zu Ende. Damals aber war es anders. Ihr ist es auch zu danken, dass ich zwar nicht in den Monatskränzchen, aber bei der Schlussfeier mitmachen durfte und sogar ein weißes Wollkleid bekam. Die Tanzstunde brachte noch ein ungewohntes mit sich: ich, die ich weder mit Mädchen noch mit Jungen Umgang hatte, außer in der Schule, in der ich sieben Jahre neben dem braven Mariechen Träger saß, wurde nun jeden Tanzabend von einem „Herren, dem zwölfjährigen Sohn eines Arztes, Karl Everding, nach Hause gebracht. Es war weiter nichts dabei, als dass ich eben nach Hause geführt wurde, wie es der Tanzstundenanstand verlangte, und dass er mir auf dem Weg von A bis Z von seinen persönlichen Tüchtigkeiten vor erzählte. Immerhin war alles rund um das Tanzen so neu und so sehr Kopf und Gemüt beherrschend, dass die Schulleistung zurückging. So sagte man nämlich. Es war aber gegen meine Überzeugung. Das böse Französisch wurde ein schwacher Punkt im Zeugnis. Nur 3-4, kaum genügend stand da mitten zwischen den guten Noten und ganz gegen alles Hergebrachte. 3-4 wie sollte ich die Schmach überwinden, die vor die Augen des Vaters kommen. Den Onkel schien das nicht zu kümmern. Da die Eltern inzwischen nach Waldböckelheim an die Nahe gezogen waren, nahm er mich zur Ferienreise mit. Als wenn nichts geschehen wäre, kaufte auf dem Bonner Markt einen Korb mit den schönsten Früchten, saß mit mir in Boppard in der Laube des Jägerhauses und trank vor einen guten „Bopparder Hamm", als wenn die Welt nur aus Rhein, Lust und Wein bestände, während mir die 3-4 nicht von der Seele wich. Auch bei der Rheinfahrt sehe ich mich mit meinem schweren Alpdruck am Schiffskiel sitzen und von den Bergen nur pflichtgemäß Notiz nehmen, während der Onkel stets einen lebhaften Kreis von Menschen um sich hatte, dem er lustige Rheinerlebnisse zum Besten gab. Wie konnte man nur lachen, wenn einer dabei saß, der 3-4 im Französisch hatte! Nun zu Hause war das Gewitter wohl schnell vorüber, denn ich erinnere mich weiterer Trübsal nicht. Nur die Fahrt bleibt mir wegen des Schuld- und Angstzustandes in ewiger Erinnerung.

    Der Onkel verheiratet sich.

    Wir hatten eines Tages einen Vortrag in der Schule von einem richtigen Türken. Ich erinnere mich, dass er sehr komisch sprach und dass er erzählte, es sei ihm unheimlich zumute gewesen, als er zum ersten Mal nicht mit untergeschlagenen Beinen, sondern mit hängenden Füßen auf einem Stuhl gesessen habe. Nach dem Vortrag rannte ich in der ganzen Schule herum, um mein Onkel zu suchen. Endlich sagte mir ein Lehrer: „Dein Onkel war nicht bei dem Vortrag. Er hat sich verlobt. Geh nur alleine nach Hause! Ich hielt das für einen Witz. Es war jedoch Wahrheit. Ich wurde mit finsteren Gesichtern empfangen, eiligst sie mein Sonntagskleid gesteckt und mit zum Haus der Braut genommen. - Da war es verblüffend vornehmen. Ein langes Einfamilienhaus mit einer breiten Terrasse dahinter, von dem man eine breite Freitreppe hinunter in einen parkartigen Garten hinab stieg. Große, alte Baumalleen verdeckten das dahinter liegende Fabrikgelände - kurz, ein reicher Besitz mitten in der Industriestadt! Auch die Menschen waren ganz anders als in unserem Zuhause. Zehn Geschwister und die dazugehörenden Verwandten ergaben ein stattliches kommen und gehen. Sie waren alle sehr frei und lustig, sehr gut zu mir und zueinander. Ich wunderte mich über Ihre Ausdrucksweise. Sie sagten „Liebchen und „Schätzchen zu einander. Mutter sagte zu Hause zum Vater nur „Fritz. Nun gab es hier ein Üppiges nach dem anderen und mir wurden die Augen groß und staunend über all die Herrlichkeiten, die ich sah. Dann kam bald eine Riesenhochzeit in der Loge mit chargierten Abgeordneten der Burschenschaft Frankonia aus Bonn, die Onkel mit gegründet hatte. Eine langweilige Tischrede gab es auch von dem langweiligsten Prediger vom Bochum. Zum Schluss gab es Baumkuchen und ich durfte mit meinem Direktor, einem großen, breiten Mann tanzen.

    Danach kam die Tante ins Haus. Sie war hübsch, hatte kohlschwarze Flechten oben auf dem Kopf und schmeichelte um mich herum. Aber irgendwas an dem reichen schmeicheln war mir unsympathisch - und ich entzog mich ihr, wo eben ich nur konnte. Die Aussteuer der neuen Tante war sehr üppig, aus Eiche, aber in dem geschmacklosen Stil der damaligen Zeit, dem Jugendstil. Auch die Hochzeitsgeschenke waren auffallend: große silberne und goldene Tafelaufsätze unter anderem. Wie sich nachher herausstellte, war alles billige unechte Ware. Gar bald nach der Hochzeit war äußerste Verstimmung im Haus. Man versuchte die Gründe zu verstecken. Soviel aber verstand ich, dass es mit dem Reichtum nicht weit her war. Später erfuhr ich, dass die Firma der Familie der Frau zusammenbrach. Das ausschweifende Leben von zehn nicht arbeitenden Geschwistern hatte das Lebenswerk ihres Vaters vernichtet. Mein Onkel zahlte Hochzeit und Aussteuer und hatte eine degenerierte Familie und eine unmögliche Frau dazu bekommen.

    Schwere Jahre.

    Es war einige Tage vor Weihnachten, dass mitten in einer Gesellschaft die Tante von ihren Wehen überrascht wurde. Die Gesellschaft floh auseinander und ich musste schnell noch am selben Abend mit dem Mädchen einen Waschkorb mit Kinderwäsche im Geschäft holen. Es war nichts da. Die Tante hatte ihren Zustand, obgleich er natürlich und keineswegs über früh zur, stets verheimlicht durch Schweigen und Schnüren, da sie es peinlich fand, ein Kind zu bekommen. Zum Stolz des Onkels wurde es ein Junge. Aber die Tante kümmerte sich wenig um ihn und zum Nähren musste zur allgemeinen Familienplage eine Amme genommen werden, die schließlich wegen Trunkenheit und schlechter Behandlung des Säuglings vom Onkel an die Luft gesetzt wurde. Das war ein gefährlicher Eingriff in die Entwicklung des kleinen Oskar. Aber er war kräftig genug es zu überwinden.

    Für mich brachten die Aufregungen ein Weihnachtsfest ohne Christbaum. Ich sei alt genug, um ohne die Spielereien auszukommen, meinte der Großvater, dem jeder Sinn für Feste abging. Ich bekam eine Kiste von zu Hause auf den Tisch gestellt und eine Kerze dazu, um sie in „weihnachtlicher" Beleuchtung aufmachen zu können. So verliefen in der Folge immer meine Weihnachtsfeste, denn nach Großvatersprinzip reist man im Winter nicht nach Hause. - Aber bitter war diese Abgewöhnungskur von solch einem Zauberfest wie Weihnachten für mich doch. Ich hatte aber nach 10-12 Jahren Weihnachtslosigkeit später kein Gefühl mehr für die Christnacht. Dagegen hatte ich mir ein eigenes, heimliches Feierstündchen eingelegt. Das war der Übergang von einem Jahr zum anderen, die Abrechnung mit Schuld und Freude des alten Jahres und das Hineinträumen in den Nebel und die Wunderfragen des neuen, die geschlossene, innige Zweigemeinsamkeit mit der Ewigkeit, meine einzige und erlösende Gemeinschaft. Damals bedauerte ich lange, nicht katholisch zu sein, weil man dann Nonne werden konnte und nur für sich und mit seinem Gott alleine leben durfte. Aber leider war ich allzu sehr an die Welt gebunden, die nie erfreulich war. Oft weinte ich, damit man es nicht hörte, in die Federn hinein, untröstlich, weil ich nirgendwohin und niemandem zu gehören glaubte. Weder hier noch dort war ich zu Hause. Von Zeit zu Zeit war dieser Zustand des Unglücksseins so unerträglich, dass ich zu einem seltsamen Hilfsmittel griff. Ich hatte gehört, dass es bei alten griechischen Philosophen gab, die man Stoiker nannte, und die das höchste Glück darin sahen, jedes Gefühl für Freude und Schmerz in sich zu töten. Das versuchte ich mit aller Energie und brachte es dabei zu solch einer Fertigkeit, dass ich innerlich wie ein Stein wurde. Als ich aber einmal bei meinem Geburtstag ebenso freudlos meine Geschenke hinnahm, waren die Eltern sehr enttäuscht und glaubten, mir nicht genug geboten zu haben. Dies veranlasste bei großer Reue eine Umkehr für eine Zeit lang zum lebendigen Leben, bis ich mich wieder gezwungen sah, zu der alten Stoikerübung zurückzukehren.

    Die Gründe zu dieser Umkehr ließen nicht lange auf sich warten. Onkel Karl starb nach kurzer, unglücklicher Ehe und dann merkte ich bald, was man mir bis dahin verheimlicht hatte, dass nämlich die Tante dem Trunk ergeben war und Schulden machte. Ich sah den sonst so ausgeglichenen Großvater weinend die Hände ringen: Mein guter Name! Der Ruf der Familie! Alles wird von diesem Weib in den Abgrund gebracht! rief er aus. Und die sanguinische Großmutter hatte so heftige Auseinandersetzungen mit der stets in ihrem schlimmen Zustand herunterkommenden Frau, dass ich entsetzt hinter die Kellertür floh, wo ich stundenlang mit auf das Herz gedrückten Händen stand und nicht wagte, in die Schreckensatmosphäre zurückzugehen. Lange Jahre dauerte dieser trostlose Zustand, bis eines Tages gelang, die Frau zu entmündigen und in eine Anstalt zu bringen. Nun kam der kleine Oskar zu uns. Es war ein aufgeweckter Junge und wir verstanden uns gut. Ihm wurde die Erziehung der alten Leute auch zu einer Fessel wie mir, der es unmöglich war, gegen Vorschriften zu leben. Er tat, was er wollte. Besonders erstaunlich war dies bei der bei uns lebenden Tante Anna. Sie war Vorsteherin eines vornehmen, großherzoglichen Pensionates in Baden-Baden gewesen, wo die Töchter des hohen Adels unterkamen. Ich sollte genaue nach Hofetikette erzogen werden. Jeden Tag musste ich 1 Stunde mit der Tante im Park spazieren gehen, wobei ich ihren Lehren über das höfische Benehmen zuhören musste. Die Tante war krank und überempfindlich. Man wusste nie, ob man etwas Unrechtes gesagt hatte. Und so lernte ich das absolute Schweigen, weswegen ich in der Familie für Verschlossen galt. Oskar dagegen machte sich nichts aus Rügen. Er arbeitete nur das allernotwendigste in kürzester Zeit. Und bei seiner außerordentlichen Begabung schadet das ihm in der Schule gar nicht. Dann verschwand er zu seinen zahlreichen Freunden, bei deren Auswahl er nicht wählerisch war. Endlich ging meine Schulzeit zu Ende und ich musste zu meinem Kummer auf das Seminar. Viel lieber wäre ich Krankenschwester geworden. Die Schule war für mich der im Begriff der Zwangsjacke. Vorne ein Brett und hinten ein Brett und dazwischen ein gefesselter Mensch. Das sollte mein Lebensziel sein?!

    Luise mit Oskar Werth etwa 1908

    Eine Begegnung.

    Als ich aus der höheren Töchterschule entlassen wurde, war das Seminar das derselben Schule angegliedert werden sollte, noch nicht bewilligt. Ich verbrachte daher die Zeit von Ostern bis Mitte Juli in Waldböckelheim, half in Haus und Garten, zog mit der hölzernen Schultafel der Schwestern auf dem Welschberg und malte vom 5:00 Uhr morgens bis in den späten Nachmittag hinein. Die Schwestern hatten ihre Kreise für sich. Sie waren auch viel jünger. Auch machte ich mich unbeliebt dadurch, dass ich den Privatunterricht des Vaters vertreten sollte, wozu sie keine Lust hatten. Außerdem versuchte ich immer ihren Krach untereinander zu steuern, den ich nicht verstand, die für sie aber eine ganz natürliche Lebensäußerung war und der keinerlei schlimme Gründe hatte. Eines Tages versuchte ich Hilde zu gewinnen. Sie war zunächst eher ablehnend. Schließlich aber sagte sie: „Willst du auch meine Schwester sein?" Ich fand die Frage komisch, da ich doch immer ihre Schwester nach meiner Meinung gewesen war. Da erzählte sie mir, dass die Leute glaubten, meine Mutter sei meine Stiefmutter, da sie mich doch aus dem Haus geschickt

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1