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Anekdotisches aus dem Leben von Christoph von Campenhausen: Aufgeschrieben in den Jahren 1919 bis 1923
Anekdotisches aus dem Leben von Christoph von Campenhausen: Aufgeschrieben in den Jahren 1919 bis 1923
Anekdotisches aus dem Leben von Christoph von Campenhausen: Aufgeschrieben in den Jahren 1919 bis 1923
eBook533 Seiten6 Stunden

Anekdotisches aus dem Leben von Christoph von Campenhausen: Aufgeschrieben in den Jahren 1919 bis 1923

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Über dieses E-Book

Christoph von Campenhausen (*1936) war Professor für Zoologie (Neurobiologie) an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz (1972-2004). Diese Sammlung von noch unveröffentlichten Texten dokumentiert sowohl persönliche Erlebnisse aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg wie auch wissenschaftliche Überlegungen aus dem Grenzgebiet zwischen Natur- und Geisteswissenschaften.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum6. Feb. 2024
ISBN9783758334047
Anekdotisches aus dem Leben von Christoph von Campenhausen: Aufgeschrieben in den Jahren 1919 bis 1923

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    Buchvorschau

    Anekdotisches aus dem Leben von Christoph von Campenhausen - Christoph von Campenhausen

    Inhalt

    Vorbemerkung

    1. Einschulung 1942 und der Kater Mulle

    2. Autounfall und das holländische Dienstmädchen Beppi in Heidelberg

    3. Moorfelde (1943-1945)

    4. Kriegspropaganda ein Jahr vor dem Ende des 2. Weltkriegs (April 1944)

    5. Einzelheiten aus dem Leben in Heidelberg vor und nach dem Kriegsende 1945

    6. Nordheim im Grabfeld (1944/45)

    7. Marisfeld (1945)

    8. Das Ende des Rittergutes Nordheim in Stein’schem Familienbesitz

    9. Die Flucht von Nordheim nach Wehrda / Kreis Hünfeld und die Heimkehr nach Heidelberg im Juli 1945

    10. Fallada

    11. In Heidelberg verblasste Erinnerungen an die nur lückenhaft dokumentierte Wiedereröffnung der Universität nach dem 2. Weltkrieg

    12. Episoden aus der Nachkriegszeit in Heidelberg 1945-1957

    13. Man staunt, was 1949 ein 13-jähriger durfte und konnte

    14. Unzeitgemäße Betrachtungen – Genealogische Heimatkunde, ein Bildungsgut aus tiefer Vergangenheit

    15. Früher war alles anders: Hauswirtschaftslehrling Gabriele Sartorius in Hügelheim 1954/5

    16. Philosophikum 1959 – Eine Prüfung unter schlechten Vorzeichen

    17. Ruth und Eddie Hughes. Vom Glück der Freundschaft mit einem schlimmen Geheimnis, über das man nicht sprechen durfte

    18. Farbfernsehen: Ein Lehrstück über öffentliches Ansehen und privaten Erkenntnisgewinn durch Wissenschaft

    18.1 Einführung: MIFF = PIFC

    18.2 Ein Fall von schnell vergänglicher Berühmtheit

    18.3 Vier Fälle von privatem weitergehendem Erkenntnisgewinn

    18.4 Die Vorstellung, Farbentüchtigkeit existiere nur, damit wir Farben sehen können, greift zu kurz

    19. Der Abschied von Köln 1972

    20. Mainzer Verwurzelungen

    21. per aspera ad astra. Gesammelte Einzelheiten aus meinem glücklichen Dasein an der Johannes- Gutenberg-Universität in Mainz (1972-2004)

    21.1 Warnung

    21.2 Der Mainzer Anfang

    21.3 Die Habilitation von Klaus Peter Hoffman – der Skandal von 1974

    21.4 Angenehmere Einzelheiten aus meiner Mainzer Universitätszeit

    21.5 Unvollständige Anmerkungen zu einigen Kollegen in Mainz

    21.6 Das Mainzer Studium Generale, die deutsche Wiedervereinigung und die Cecil-Rhodes-Stiftung

    21.7 Unvollendete Sammlung von Erinnerungen an Mitarbeiter und Studenten in Mainz

    21.8 Mainzer Institutsgenossen, die meine Erinnerungen immer wieder besuchen

    21.9 Das Naturwissenschaftlich-Philosophisches Kolloquium (Nat.-Phil.) und einige seiner Gäste

    21.10 Das Ende meiner Mainzer Universitätszeit

    22. Das politischen Wendejahr 1989 und einige Kontakte zu auswärtigen Wissenschaftlern in Lettland und Georgien

    22.1 Lettland

    22.2 Georgien

    23. Laurentiuskirche in Halle. Anmerkungen zur Vor- und Nachgeschichte einer Brandkatastrophe am 14. XI. 1984 im geteilten Deutschland

    23.1 Unsere freundschaftlichen Verbindungen nach Halle

    23.2 Das Telegramm vom 16. XI. 1983

    23.3 Wiederaufbau der Laurentius-Kirche

    23.4 Anhang zu unseren Erlebnissen mit der Laurentiuskirche in Halle

    23.5 Das Holzkreuz der Kirche St. Georgen in Halle im hinteren Foyer des Bretzenheimer Gemeindezentrums

    24. Hans von Soden: Ein Blick in die Vergangenheit

    25. Echtheitsbeweis durch Intuition oder ‚Wer hat das Bild gemalt?‘

    26. Ich laufe jedem Vogel nach. Der größte sitzt mir unterm Dach.

    27. Gedanken über Religion

    28. Anhänge

    28.1 Gabriele Sartorius: Bericht über die Zoologische Exkursion 1958 nach England (CGA K1)

    28.2 Übergabe des Erinnerungssteins für die ehemalige Grabstätte von Hermann v. Eichel in Marisfeld am 20. IX. 2015

    30. Literaturverzeichnis

    31. Abkürzungen

    32. Personenverzeichnis

    Im Verlag BoD erschienen auch:

    Vorbemerkung

    Es unterhält mich gut, frühere Erlebnisse in Erinnerung zu rufen, aber ich habe vieles vergessen, und es kommt mir oft so vor, als ob sich meine Erinnerungen jedes Mal, wenn sie mir bewusst werden, irgendwie verändert hätten. Auch meine Kinder behaupten, dass ich dieselben Geschichten immer wieder anders erzähle. Im Zweifelsfall ist es schwierig zu entscheiden, wer sich wann richtig erinnert. Erfahrungen wie diese machen persönliche Lebenserinnerungen nicht nur für den Autor, sondern auch für die Leser uninteressant. Überlegungen dieser Art haben mich davon abgehalten, zusammenhängende Lebenserinnerungen zu verfassen, obwohl ich Zeit dafür gehabt hätte.

    Erinnerungsberichte sind einigermaßen zuverlässig, wenn sie spezielle Ereignisse beschreiben, die archivalisch bestätigt werden können. Weil ich nicht für alles, was mir wieder einfällt, sichere Belege wie Briefe, Tagebücher oder andere Dokumente auftreiben kann, überliefere ich nur Teile, für die ich Quellen gefunden habe, und bemühe mich nicht um das Ganze meiner Vergangenheit. Bei der Auswahl der Einzelheiten habe ich mit Mut zur Lücke den Zufall walten lassen. So entstanden die voneinander unabhängigen Kapitel unterschiedlicher Länge.

    Eine subjektive Färbung der Darstellung ist schon wegen meiner Auswahl der Einzelheiten und ihrer Einordnung in die erzählerische Reihenfolge unvermeidbar. Man wird kritisieren können, dass meine Frau und Nachkommen nur erwähnt werden, wenn es weitergehende Gründe dafür gibt. In einer Autobiographie hätte ich selbstverständlich stolz und ausführlich von meiner Familie und mir selbst berichtet. Das entspricht aber nicht der Absicht dieser Text-Sammlung. Ich wollte an Tatsachen und Geschehnisse erinnern, die zwar von mir bezeugt werden können, aber auch ohne Verbindung zu meiner Person wissenswert sind. Über die Johanniter, denen ich in mancherlei Funktionen gedient habe, findet man in dieser Sammlung kaum etwas, weil meine Archivalien zu diesem Bereich bereits in Nieder-Weisel lagern.¹ Angestrebt ist, Fragen zu beantworten, die Kinder und Enkel und Freunde bereits gestellt haben oder vielleicht noch stellen werden. Was aufgeschrieben ist, kann warten, bis es vielleicht einmal jemand lesen will.


    1 Wer will, kann Einiges über meine Erlebnisse bei den Johannitern nachlesen in: von Campenhausen, Christoph (2010). Warum ich Johanniter bin

    1. Einschulung 1942 und der Kater Mulle

    Als ich mit meiner Mutter von der Pestalozzischule in der Heidelberger Kaiserstraße nach Hause kam, miaute ein kleines Kätzchen auf der Straße vor unserem Haus, und wir nahmen es auf. Daraus wurde der sehr große Kater Mulle, der bei uns lebte, bis er in der Hungerzeit 1945 von einem nächtlichen Ausflug nicht mehr nach Hause kam. Er wird wohl als sogenannter „Dach-Hase" in einem Kochtopf sein Ende gefunden haben.

    Mir ist eine Feier im Schulhof in Erinnerung geblieben, bei der die Schüler in einem mehrreihigen Quadrat um den Rektor Lenz aufgestellt waren. Wir sangen „Deutschland, Deutschland über alles … und „Die Fahne hoch … und riefen im Sprechchor: „Wir grüßen unsern Führer Adolf Hitler. Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil!, wobei wir den rechten Arm jedesmal bei „Heil zum Hitler-Gruß erneut ausstreckten. Hitlerjunge bin ich nicht mehr geworden. Dazu war ich noch zu klein. Aber die abgelegten Uniformen, das Oberteil hieß „Kluft", von meinem Vetter Adolph von Wangenheim aus Waake und wahrscheinlich auch von meinem Bruder Peter waren in der Zeit des Mangels auf Jahre hinaus unsere wichtigsten Kleidungsstücke.

    2. Autounfall und das holländische Dienstmädchen Beppi in Heidelberg

    Am 29. IX. 1943 wurde ich von einem Militär-PKW in der Rohrbacher Straße, nahe der Haus-Nr. 60 an- oder überfahren. Ich rannte hinter der vorbeifahrenden Straßenbahn über die Straße, hatte aber nicht damit gerechnet, dass dahinter ein Auto in Gegenrichtung kommen würde. Ich nahm nur einen Knall wahr. Erinnerungen kamen später: Ich sah mich aus der Vogelschau auf der Straße liegen, von Menschen umstanden, von denen die Mutter von Hanni Obermarck mit ausgestrecktem Arm auf mich nach unten deutete und sagte: „des isch der Grischtof von Cambehause." Der Soldat soll mich beschimpft haben und dann weitergefahren sein. Man holte Beppi (das holländische Dienstmädchen: Elisabeth van Manen), die mich ins Haus führte. Meine Mutter lag, wie in diesen Jahren oft, krank im Bett und Beppi wollte sie nicht beunruhigen. Fräulein (wie man damals sagte) Dr. Claus stellte eine Hirnerschütterung aber keine Brüche fest. Nach meiner Erinnerung hatte ich großflächige Schürfwunden und heulte vor Schreck ohne Ende. Es gibt ein Protokoll von Onkel Oswald von Campenhausen, dem Rechtsanwalt, vom 5. X. 1943 in CGA K2 Mappe gelb.

    Beppi war im Krieg aus Liebe einem deutschen Soldaten aus Holland nachgereist und lebte bei uns als Dienstmädchen. Sie war beliebt, heulte aber manchmal untröstlich und laut in der Küche, weil sie wusste, was mit ihr geschehen würde, wenn sie sich noch einmal in der Heimat sehen lassen würde. Ich weiß nicht, ob und wie sie überlebt hat.²


    2 Mein Bruder Axel hat sich in den 1990er Jahren einmal in Holland mit ihr verabredet und auf einem Bahnhof mit ihr geplaudert. Sie hatte nicht den deutschen Soldaten, sondern einen Holländer geheiratet.

    3. Moorfelde (1943-1945)

    ³

    Mit diesem polnischen Gut verbinden wir und unsere Campenhausen’schen Verwandten in Rotenburg⁴ an der Fulda schöne Erinnerungen aus der Zeit des 2. Weltkriegs. Für Nachgeborene wird es nicht leicht sein, zu verstehen, warum und wie wir dorthin gekommen sind. Darum: etwas zur Vorgeschichte.

    Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939 wurden die in ihrer Heimat verbliebenen Deutschbalten sehr plötzlich, noch Ende 1939, mit ihrem Hausrat im Zuge einer Umsiedlungsaktion der deutschen Reichsregierung aus Lettland und Estland abgeholt. Die meisten wurden in den neu geschaffenen „Reichsgau Wartheland, d.h. in einen Teil des gerade eroberten Polen eingewiesen. Meine Großmutter (Gomi) Lilli von Campenhausen, geb. von Löwis of Menar, und ihre unverheiratete Tochter Adline vC. gerieten so von dem Restgut Orellen in Lettland nach Murka im Kreis Schrimm, das damals in „Moorfelde umbenannt worden war. Das geschah im September 1939 und damit während des 2. Weltkriegs, gleich nach der Eroberung Polens und noch vor Beginn des Feldzugs gegen Dänemark und Norwegen (April bis Juni 1940), der Eroberungen im Westen (Belgien, Niederlande, Frankreich, Mai bis Juni 1940) und des Afrika-Feldzugs ab September 1940. Im Sommer 1941 begann der Balkan- und der Russlandfeldzug. In den Jahren 1942-1944 war der „Warthegau, wie man damals sagte, weit entfernt von allen Kriegsgebieten im Osten, Westen, Norden und Süden und darum für die deutschbaltischen „Umsiedler zunächst ein sicheres Aufenthaltsgebiet.

    Vom Wiener Kongress 1815 bis zum Versailler Vertrag von 1920 hatte das Gebiet des Warthegaus zur preußischen Provinz Posen und damit zuletzt auch zum Deutschen Reich gehört. Die Bevölkerung war aber immer überwiegend und nach 1920 fast vollständig polnisch. Die Hitlerregierung vertrieb viele Polen und wies die baltendeutschen „Umsiedler in die gerade von den Polen zwangsweise verlassenen Besitztümer ein. Was berechtigte die deutschbaltischen Flüchtlinge dazu, polnisches Eigentum in Besitz zu nehmen? Die Antwort ist kompliziert. Die sogenannte Umsiedlung fand unter Kriegsrechtsbedingungen statt, und ein Dach über dem Kopf benötigte jeder. Einzelheiten der „Umsiedlung wurden durch Behörden der Reichsregierung veranlasst. Die meisten Männer waren bereits zum Kriegsdienst eingezogen worden, und auch Frauen wurden dienstverpflichtet. Die landwirtschaftliche Produktion war insbesondere im Krieg wichtig. Die endgültigen Eigentumsübertragungen sollten erst später im Zusammenhang mit der Entschädigung der Deutschbalten für die in Lettland und Estland zurückgelassenen Besitztümer durch das Deutsche Reich geregelt werden. Den Anspruch auf Entschädigung wollte niemand verspielen.

    Meine Großmutter und Tante Adline waren zur Übernahme des Gutes Moorfelde nicht berechtigt, weil sie keine ausgebildeten Landwirte waren. Mein Großvater war 1920 noch im Baltikum von Bolschewiken ermordet worden. So fand man einen Kompromiss: Der entfernt verwandte Onkel Otto von Klot aus Hasenwinkel in Brandenburg wurde als Leiter der benachbarten Domäne Mühlheim und als landwirtschaftlicher Berater meiner Großmutter für Moorfelde dienstverpflichtet. Durch diese vorläufige Regelung konnten meine Großmutter und Tante Adline in Moorfelde leben und das Gut bewirtschaften. Ihre Entschädigungsansprüche gegen das Deutsche Reich blieben erhalten. Dass sie Moorfelde als nur vorübergehenden Aufenthaltsort ansahen, beweist ihre Entscheidung, die Orellen’schen Möbel und sonstigen Hausrat nicht nach Moorfelde, sondern nach Wehrda/Kreis Hünfeld in Hessen zu schicken.

    Die polnischen Vorbesitzer des Guts Moorfelde hatten, wie mir Tante Adline später erzählte, in den Jahren, bevor sie dorthin kam, mehrfach gewechselt. Zum letzten bestand kein Kontakt. Auf benachbarten Gütern gab es Verbindungen zu den verschleppten polnischen Vorbesitzern durch das Netzwerk des polnischen Untergrunds. Auf diesem Wege konnten manche Vorbesitzer unauffällig unterstützt werden. Die Polen, die auf dem Hof und bei Tante Adline im Haus arbeiteten, kooperierten mit meiner Großmutter und der Tante und waren auch zu uns Kindern sehr nett. Sie blieben auch nach dem Krieg noch mit Tante Adline in Kontakt. Davon wird noch berichtet werden.

    Tante Adline war nach dem Tod ihrer Mutter in Moorfelde am 1. VII. 1942 das, was sie früher und später nie sein konnte, aber wohl immer sein wollte: Leiterin eines Gutes. Ihr zur Hand ging als Gutssekretärin „Fräulein" – wie man damals sagte – Irmela Zoege von Manteuffel, die 1945 während der Flucht das Kommando übernahm. Verwalter des Gutes waren der Pole Nowotnik (?) und der Vogt Kriwitzki. Stasia (Stanislawa Jankowiak) war das treue und liebevolle Hausmädchen. In der Küche herrschte Trudka (Gertruda Staszak), die nach dem Krieg den Gärtner (Cestano Jankowski) heiratete, der auch für das Geflügel zuständig war.

    Das Herrenhaus in Moorfelde war nicht schön, aber stattlich (Abb. 1abc). Es hatte wie der ganze Gutbetrieb keinen elektrischen Stromanschluss. Zur Beleuchtung dienten Petroleum-Lampen. Die landwirtschaftlichen Maschinen wurden über Treibriemen von einer Dampfmaschine oder über das Schwungrad eines Bulldogs angetrieben. Rüben und Kartoffeln wurden auf Schienen mit großen Loren eingefahren, die von jeweils vier Pferden gezogen wurden. In einem Brief an meine Mutter vom 13. III. 1944 zählte ich den Viehbestand in dieser Zeit auf: 48 Kühe, 45 Kälber und Stärken, 1 Bulle, 5 Ochsen, 127 Schweine, 5 Hähne, 4 Truthähne, 9 Truthühner, 48 Hühner, 25 Pferde, 1 Dienstpferd [?], 4 Katzen, 3 Hunde, 1 Haushund (Pütz), 1 Eber, 25 Enten, 9 Gänse. Die andernorts erwähnten 5 Perlhühner hatte ich in dieser Liste vergessen. Tante Adline berichtete in einem Brief an die Familien ihrer Brüder vom 7. III. 1944 erstaunlich ausführlich über die Pferde, deren Kankheiten, Namengebung, Zukäufe und Fohlen. Sie genoss es, Gäste zu haben: „Man muss es ausnutzen, so lange man ein Haus hat – ganz schlicht ein paar Berliner können einem ja jeden Tag das Privatleben ruinieren und die Möglichkeit nehmen, Gästen einen angenehmen Aufenthalt zu bieten."

    Abb. 1a: Herrenhaus in Moorfelde (Murca)/Kreis Schrimm, Vorderseite

    Abb. 1a: Herrenhaus in Moorfelde (Murca)/Kreis Schrimm, Vorderseite

    Abb. 1b: Herrenhaus, Rückseite

    Abb. 1b: Herrenhaus, Rückseite

    Abb. 1c: Herrenhaus, Parkseite (a,b,u.c in CGA K: Adline Freiin von Campenhausen)

    Abb. 1c: Herrenhaus, Parkseite (a,b,u.c in CGA K: Adline Freiin von Campenhausen)

    Im Juli 1943 wurden mein Bruder Axel und ich für die Sommerferien nach Moorfelde eingeladen. Zunächst brachte man uns nach Rotenburg an der Fulda zu unserer Tante Henriette („Henner") von Campenhausen, geb. von der Malsburg, der zweiten Frau des ältesten Bruders meines Vaters Balthasar vC., der schon am 14. X. 1941 gefallenen war. Diese Tante Henner brachte uns zusammen mit ihren vier Kindern für die Sommerferien nach Moorfelde. Vor der Abreise kam ein anderer Bruder meines Vaters, Onkel Oskar vC. aus Wehrda, für einen Tag seines Heimaturlaubs mit seinem Sohn Ulrich nach Rotenburg (ungefähr am 12. VII. 1943). Er veranstaltete dort mit allen Kindern ein fabelhaftes Kriegs-Geländespiel, bei dem er zuletzt selbst auf eine Landmine trat (ein in den Weg gekratztes X), deren Explosion er mit einem gewaltigen Luftsprung simulierte und damit das Spiel beendete.

    Auf dem Weg nach Moorfelde blieb unser Zug wegen eines Luftangriffs vor Leipzig im Dunklen stehen. Wir sahen brennende Häuser. Der Anschluss von Leipzig über Cottbus nach Posen kam in Leipzig nicht mehr zustande, was zu einem nächtlichen Umweg über Berlin führte. Da sind wir zum ersten Mal mit einer U-Bahn gefahren, vom Anhalter Bahnhof (?) zum Bahnhof Friedrichstraße. Der nächste Zug war überfüllt, vor allem mit Soldaten. Die Türen waren von innen mit Gepäck zugebaut. Aber in der 2. Klasse fanden wir Klappsitze auf dem Gang. Tante Henner erzählte mir Jahrzehnte später, dass ich ihr in ihrer Not mit den vielen Kindern im überfüllten Zug mit einem philosophischen Satz aufgeholfen hätte: „Ein überfüllter Zug kann nur leerer werden. Das ist besser als ein leerer Zug, der immer voller wird." Schlichte Wahrheiten sind fast immer tröstlich. Von Posen nach Schrimm fuhren wir in einem altmodischen Wagon ohne Abteile mit einer umlaufenden hölzernen Sitzbank an den vier Wänden.

    In Moorfelde fand ich meinen Vetter Hannes von Campenhausen aus Wehrda vor. Wir rannten fröhlich im Park umher, „der Dicke und der Dünne", wie noch lange erzählt wurde. Damals fing unsere erstaunliche, bis heute ungetrübte Freundschaft an. Das Glück währte damals leider nur einen Tag, weil Hannes zuhause zurückerwartet wurde. Mein Bruder Peter war schon vor uns einmal mit unserem Vater in Moorfelde gewesen⁵, als unsere Großmutter (Gomi) vC. noch lebte, die dort am 1. VII. 1942 mit dem Pferdewagen tödlich verunglückt war. Im Sommer 1943 war unsere oft kranke Mutter wieder in der Klinik. Tante Marline von Trott zu Solz, geb. Riedesel, hatte mit einem Brief vom 24. VI. 1943 angeboten, die Geschwister Lilli und Peter in Imshausen aufzunehmen.

    Moorfelde war für Ferienkinder wunderbar. Täglich ging man zum großen See zum Baden. Der kleine See, der den Gutshof zu einem Drittel umschloss, galt als zu sumpfig. An der Badestelle übten wir ein komisches Theaterstück über das Nibelungenlied ein, das die Rotenburger mitgebracht hatten. Otto als Siegfried trat gegen Axel auf, der den Hagen spielte, und griff bei der Probe auf einer Wiese zu den Worten „… und schlage ich dir Lumpenschwein, hiermit deinen falschen Schädel ein in einen Haufen Kuhscheiße, mit dem er zum Gelächter der anderen Axel bewarf. Ingeborg war Krimhild, Ursula Brunhild und Drache, Billo Gunter und ich musste als Pfaffe zwei Paare verheiraten mit den Worten „bei diesem Glockengeläute, segne ich diese zwei Bräute.

    Bei einem Abendessen auf der Terrasse durfte Tante Adlines Reitpferd Ali frei im Park herumlaufen. Ali fand heraus, dass er seinen Kopf über das Geländer und über die Schultern der Kinder strecken konnte, um sich etwas von den Tellern auf dem Tisch zu holen. Tante Adline verbot uns, ihn immer wieder dazu zu ermuntern. Weil wir enttäuscht waren, erklärte sie, dass Ali alles vom Tisch essen dürfe, wenn er auf die Terrasse heraufkäme. Das war höchst unwahrscheinlich wegen der drei Treppenstufen. Moorfelder Pferde kannten keine Stufen. Aber der kluge Ali kam trotzdem auf die Terrasse. Als Tante Adline aus Versehen ein Bündel von Löffeln klirrend zu Boden fallen ließ, verschwanden alle Köpfe der wohlerzogenen Kinder zum Aufsammeln unter dem Tisch. Als wir wieder auftauchten, stand Ali auf der Terrasse hinter Tante Adline und biss in einen Stapel von Brotscheiben. Als sie versuchte, für ihn Milchsuppe in einen Suppenteller zu füllen, kam er ihr zuvor und trank bereits aus der Schöpfkelle. Zur Empörung der Kinder wurde dann doch einiges vom Tisch geräumt. Nun aber scheute Ali vor den drei Stufen und wagte den Abstieg nicht mehr, obwohl wir ihn mit Brot lockten. Schließlich sprang er in einem Satz von der Terrasse in den Park.

    Am Ende der Sommerferien kehrten wir nach Heidelberg zurück, wo die Schule trotz häufigem Fliegeralarm noch einigermaßen regelmäßig stattfand. Mein zum Militär eingezogener Vater bekam 1943 Weihnachts-Urlaub. Die Eltern beschlossen, meinen Bruder Axel und mich 1944 wieder nach Moorfelde zu schicken, um unsere Mutter zu entlasten. Am 23. Januar 1944 (Axels Geburtstag war am 22. I. vorgefeiert worden) brachte mein Vater am Ende seines Heimaturlaubs Axel und mich nach Moorfelde, wo wir bis Ende Juli blieben. Auf der Hinfahrt übernachteten wir einmal bei dem verwitweten Vater unserer Heidelberger Hausgehilfin Käthe Zimmer, einem Volksschullehrer i.R. in Breslau. Er wurde von einer älteren Tochter versorgt. Aus dem Volksempfänger dort kamen Pfeiftöne, die der auf Urlaub befindliche Bruder von Frl. Zimmer fachmännisch als feindliche Störmanöver interpretierte. Durch die Züge gingen fortwährend die sogenannten Kettenhunde, d.h. Feldjäger mit Stahlhelm und einem an einer Halskette hängenden halbmondförmigen Blechschild vor der Brust, und kontrollierten die Papiere aller Soldaten, so auch bei unserem Vater, dessen Marschbefehl den Umweg über Moorfelde zuließ.

    Ein halbes Jahr lang plagte mich in Moorfelde das Heimweh, obwohl die Briefe aus dieser Zeit zu beweisen scheinen, dass es uns gut ging. Ich lebte in ständiger Angst vor Tante Adline und Axel. Das hat sich erst im höheren Alter geändert. In der Schule unterrichtete Frl. Franz alle acht Klassen gleichzeitig in einem Raum. Die etwa 30-köpfige Schülerschaft bestand aus Kindern der ortsansässigen deutschen Bauern und schwarzmeerdeutschen Flüchtlingen, sowie aus evakuierten und/oder ausgebombten Berlinern. Das Bildungsniveau war so unterschiedlich, dass die Schüler im Unterricht nicht nach Alter, sondern nach Könnerschaft gruppiert wurden. Für Polenkinder gab es keine Schule. Lore und Uso Walther kamen jeden Tag zu Fuß von Mühlheim zur Schule. Ihr Vater, der Physiker Dr. Roland Walther⁶, war irgendwo mit kriegswichtigen Entwicklungsarbeiten beschäftigt. Er besuchte seine Familie manchmal in dem von Bomben verschonten Warthegau. In der großen Pause rannten wir mit den Walter-Kindern zu Tante Adline, die uns zu einem zweiten Frühstück mit Perlhuhn-Eiern empfing.

    Auch in Nordheim besuchte ich 1945 noch eine Ein-Zimmer-Volksschule mit nur einem Lehrer. Schüler im Alter von 6 bis 14 Jahren kann man offensichtlich in einem Raum gleichzeitig unterrichten.⁷ Ich habe unter dieser Schulform nicht mehr gelitten als unter der Volksschule in Heidelberg mit ungefähr 40 gleichaltrigen Schülern in einem Raum. Schlimmer war jedenfalls Tante Adlines Ehrgeiz, uns täglich eine Strophe eines Chorals aus dem Gesangbuch oder einen Abschnitt aus Luthers Kleinem Katechismus lernen zu lassen. Axel war dazu verurteilt, den Kleinen Katechismus mit Erklärungen für mich in Schönschrift in ein Notizbuch zu schreiben. Tante Adline hörte uns nach den Hausaufgaben für die Schule ab und ließ uns nicht ins Freie, wenn wir beim Aufsagen steckenblieben.

    Beglückend, wenn auch eigentümlich, war das Reiten nach Tante Adlines Anleitung. Kinder bekamen keinen Sattel und keine Steigbügel, sondern nur eine Schabracke, die mit einem Gurt um den Bauch des Pferdes befestigt wurde. Nur zu oft rutschte die Schabracke beim Reiten zur Seite, so dass sie zuletzt nicht mehr auf dem Pferderücken lag, sondern unter dem Bauch baumelte. Tante Adline lehrte uns das Reiten, indem sie in der Mitte stehend, Ross und Reiter an der Leine um das kreisrunde Blumenbeet vor dem Hause traben ließ. Die Fußspitzen mussten eng an die Flanke des Pferdes gedrückt werden, was aus anatomischen Gründen längerfristig kaum möglich ist. Als pädagogisch wertvoll galt die Regel, dass man, wenn man vom Pferd fiel, ein Goggelmoggel⁸ bekam, was den Gegensatz zwischen Tröstung und Belohnung irgendwie geheimnisvoll überbrücken sollte.⁹ Nach einiger Übung durfte man mit Tante Adline ausreiten und später auch allein auf dem Pferderücken bis nach Mühlheim zu Walthers unterwegs sein. Das erfüllte mich mit Stolz aber auch mit Angst: Was sollte ich tun, wenn die Schabracke verrutscht oder wenn ich vom Pferd falle? Aufsteigen konnte ich bei meiner kindlichen Körpergröße ohne Steigbügel nur, wenn mir jemand half. Hätte ich das Pferd zu Fuß nach Hause führen sollen? Tante Adlines Antwort war gnadenlos unmöglich: Stelle das Pferd in einen Graben und klettere dann drauf. Dass das gar nicht möglich sein würde, war für mich offensichtlich, eigentümlicherweise aber nicht für Tante Adline. Es ist schon ein Problem, ein Pferd in einen Graben hinunterzulocken und wieder hinaufzubringen. Der Abstand vom Grabenrand zum Pferderücken wäre, selbst wenn es gelungen wäre, trotzdem unüberwindbar groß geblieben. Vieles blieb also beängstigend rätselhaft.

    Im Frühjahr herrschte eine entsetzliche Hungersnot in den Ställen von Moorfelde. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen war: War es ein Planungsfehler, war das Futter von der Wehrmacht beschlagnahmt worden, war die Vorjahresernte schlecht gewesen?¹⁰ Die Pferde litten ganz besonders. Maschka, eine sanfte Stute, auf der ich gerne ritt, hatte sich einmal im Stall losgemacht und war beim Versuch, das Tor zwischen Gutshof und Park aufzudrücken, zwischen den Flügeln eingeklemmt hängengeblieben. Im Park fing das Grass gerade an zu wachsen. Maschka wurde befreit und durfte die ersten grünen Halme im Umkreis eines Pflocks, an den sie angebunden wurde, fressen. Nach kurzer Zeit war der Boden um den Pflock braun. Sie hatte auch die Wurzeln aus der Wiese herausgezogen. Bei dem Versuch, die Pferde mit Stroh und irgend einem Mischfutter zu ernähren, wurden viele krank. Ich weiß, wie gesagt, nicht wie es zu dieser Hungersnot kommen konnte.

    Erwähnenswert ist der Fischkasten, eine im See schwimmende Holzkiste mit einer durch ein schweres Schloss gesicherten Klappe auf der Oberseite. Darin wurden riesige Hechte und große dicke Karpfen gehältert, die einmal im Jahr von einem professionellen Fischer im kleinen Moorfelder See gefangen wurden. Bei Bedarf erhielt der Gärtner den Schlüssel und holte mit einem Käscher je nach Auftrag der Küche einen Hecht oder einen Karpfen oder für jeden eine Schleie heraus. Einmal erlebten wir den Fischfang, der an dem flachen Ufer am Ende des Sees im Dorf anfing und aufhörte. Zwei Boote wurden dort von einem Pferdefuhrwerk abgeladen und ins Wasser geschoben. Sie wurden hintereinander bis ans andere Ende des Sees gerudert, von wo sie entlang der beiden Ufer zum Ausgangsort zurückkehrten. Zwischen ihnen wurde ein Netz ausgespannt, das alle Fische an das flache Ufer trieb, wo es dann von Fischen wimmelte. Die Fischer aber auch Tante Adline und wir wateten in Gummistiefeln zwischen den Fischen herum, die in verschiedene Bottiche sortiert wurden. Da gab es viele gold-gelbe Karauschen, aber auch Schleien und Barsche. Die größten Hechte und Karpfen kamen in den Fischkasten, wo sie das ganze Jahr über frisch blieben.

    In Moorfelde gab es viele Gäste. Sogar unser Großonkel Oswald vC, der Heidelberger Rechtsanwalt, hatte sich zu einem Besuch in Moorfelde angesagt. Tante Adline schickte eine Kutsche zur Bahnstation nach Schrimm, obwohl mit seinem Kommen kaum noch zu rechnen war, weil gerade die Invasion der Alliierten in der Normandie (6. VI. 1944) begonnen hatte. Erstaunlicherweise war der Großonkel trotzdem aufgebrochen, so dass die Kutsche nicht leer zurückkam. Am 13. VI. schrieb ich nach Hause, dass Axel und ich täglich mit ihm zum Schwimmen im großen See gingen. Er blieb bis zum 28. Juni 1944. Einmal kam auch noch unser Onkel Oskar vC aus Wehrda auf dem Weg zum Fronteinsatz nach Moorfelde. Zu meiner Enttäuschung trug er nicht mehr die Uniform eines Oberleutnants. Die Zeit, in der er diesen Rang wegen seiner Russisch-Kenntnisse als Sonderführer bekleidet hatte, war vorbei. Jetzt war er wieder ein einfacher Soldat.

    Während seines Besuchs donnerte einmal ein riesiges militärisches Flugzeug im Tiefflug über das Haus. Onkel Oskar erklärte uns, dass es ein Gigant war. Von unserem Mainzer Freund, dem General der Transportflieger Helmut Schwarz, lernte ich später, dass der Gigant während des 2. Weltkriegs zunächst als Lastensegler entwickelt und dann noch mit sechs Motoren zum Transportflugzeug ME 323 weiter ausgebaut worden ist. Er transportierte 11 t. Bei doppeltem Kargo-Gewicht brauchte er beim Start Unterstützung durch ein vorgespanntes Flugzeug, um hochzukommen. Besuchsweise weilten Onkel Burchardt und Tante Hella von Klot, geb. Löwis of Menar, in Mühlheim bei ihrem Vetter Otto von Klot. Der Jurist Burchardt Klot war im Krieg während der Deutschen Besetzung Lettlands als Deutscher Verwaltungsbeamter in Riga beschäftigt.

    Zu den Sommerferien kamen 1944 noch ein letztes Mal die Rotenburger Kusinen und Vettern mit Tante Henner vC und brachten unseren Bruder Peter vC mit. Am 26. VII. 1944 schrieb er aus Moorfelde nach Nordheim im Grabfeld, wo sich meine Mutter mit Lilli und Frl. Zimmer befanden. Peter erinnerte sich später, dass unsere Abreise von Moorfelde wegen schlechter Nachrichten von der Ostfront überstürzt stattfand. Wir drei Brüder wurden jedenfalls noch (ungefähr) am 29. VII. 1944 nach Nordheim gebracht, wo wir den Rest der Ferien mit den Wehrdaer Vettern und Kusinen und unserer Mutter mit Lilli und Frl. Zimmer verleben durften. Anfangs war auch noch mein Vater auf Urlaub dabei.¹¹

    Zum Ende von Moorfelde ist Folgendes zu berichten. Obwohl die Ostfront immer näherkam, durfte Tante Adline vC Moorfelde nicht verlassen. Am 28. XII. 1944 schrieb sie mir noch einen Brief aus Moorfelde, den die Post noch immer ordnungsgemäß bis nach Nordheim beförderte. Sie berichtete: … „wir fahren den Eisberg zusammen, 23 cm dicke Kristallplatten" vom Moorfelder See. Das Eis wurde wie jedes Jahr im Park in einer Kuhle unter Bäumen gelagert und mit Erde bedeckt, um im Sommer die Milchkannen zu kühlen, die täglich im Morgengrauen in einem Pferdewagen nach Dolzig gebracht wurden.

    Tante Adline brach schließlich am 20. I. 1945 bei -15°C auf vereisten Straßen mit Tante Else von Haffner, der Moorfelder Lehrerin Frl. Franz, der Gutssekretärin Irmela Zöge von Manteuffel und dem polnischen Kutscher Janek Borowczyk mit einem Pferdewagen auf. Vier von Berlin nach Moorfelde evakuierte Kinder aus dem Dorf, deren Mutter verreist war, baten mitgenommen zu werden und wurden zuletzt auch noch auf dem Wagen untergebracht. Ein erster Fluchtwagen mit Pfarrer von Ungern-Sternberg, seiner Frau und vier Kindern war mit dem Kutscher Sobik zuerst losgeschickt worden. Die Moorfelder Polen nahmen unter Tränen Abschied. Frl. von Manteuffel übergab dem Verwalter ihren Schlüsselbund. Der polnische Eigentümer des Gutes war schon auf dem Hof, wie mir Tante Adline später erzählte, zeigte sich aber nicht. Die Polen blieben mit Briefen noch jahrelang mit Tante Adline in Verbindung. Auch ich bekam Postkarten vom Zimmermädchen Stasia.¹²

    Auf der benachbarten Domäne Mühlheim ging Onkel Otto v. Klot am selben Tag wie Tante Adline auf die Flucht. Zu seinem Treck gehörte auch die Familie von Onkel Burchardt und Tante Hella v. Klot mit fünf Kindern, ferner die Familie des baltischen Physikers Roland Walter mit Frau und vier Kindern und noch andere. Am 28. I. kam sein Treck mit dem von Tante Adline auf seinem Besitz Hasenwinkel in Brandenburg für einige Tage zusammen, bevor sie die Flucht einzeln fortsetzen mussten. Das erste Ziel von Tante Adline war davor der Bahnhof Neu-Bentschen gewesen, wo es am 23. I. gelungen war, Tante Else Haffner, Frl. Franz, die Berliner Kinder und Ungerns in einem mit Flüchtlingen vollgestopften Eisenbahnzug unterzubringen. Der Kutscher Sobik kehrte mit einem Wagen nach Moorfelde zurück.

    Mit Janek gelangte Tante Adlines Treck über 805 km bis nach Wehrda. Frl. von Manteuffel schrieb dort einen detaillierten Bericht¹³ über alle Schrecklichkeiten der Flucht in Eis, Schnee und Regen, bei Hunger, auf verstopften Straßen, mit einem Pferdewagen ohne Bremsen, die auf dem flachen Land um Moorfelde nicht üblich waren, im Mittelgebirge aber dringend benötigt wurde (man behalf sich mit Bremsschuhen unter einem der Hinterräder), in elenden Nachtquartieren, bedroht durch Fliegerangriffe, abgedrängt von deutschen Militärtransporten und – last not least – mit der russischen Front im Rücken. Das schlimmste war, wie uns Frl. von Manteuffel Jahrzehnte später im Beisein von Tante Adline erzählte, dass die Tante in einen Erschöpfungszustand geriet und nicht mehr aufstehen und weiterfahren wollte. Da übernahm Frl. von Manteuffel die Leitung des Trecks.¹⁴ Sie erreichte mit Janek Wehrda am 9. III. 1945. Tante Adline war krank in Rotenburg /Fulda bei Tante Henner vC zurückgeblieben. In meinem Archivkasten mit Tante Adline´s Papieren befinden sich noch vier weitere, Fluchtberichte aus dieser Zeit.

    Der Kutscher Janek wäre am liebsten in Deutschland geblieben, wurde aber nach dem Krieg von der Militärregierung gezwungen, heimzukehren. Ihm blieb glücklicherweise das grausame Schicksal vieler Repatriierter in den Sowjetrepubliken erspart. Er wurde nicht in ein Arbeitslager deportiert, sondern brachte es zu Hause bis zum Direktor der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft Moorfelde. Tante Adline beauftragte mich, 1978 mit ihrem letzten Geld sechs silberne Schnapsbecher für Janek mit ihrem Namen anfertigen zu lassen als Zeichen der Dankbarkeit für seine Treue. Bruder Hans hatte in Imshausen gerne versprochen, das Geschenk persönlich zu überbringen, tat es aber dann doch nicht. Auf mein Drängen beauftragte er später eine Vertrauensperson in Polen damit. Tante Adline bekam noch einen Dankesbrief.


    3 Quelle sind Briefe in CGA K2 Mappe blau I und der Archiv-Kasten Adline Freiin v. Campenhausen

    4 Das sind die Nachkommen des Bruders Balthasar vC. von meinem Vater und dessen zweite Frau Henriette (Henner) vC, geb. von der Malsburg.

    5 von Campenhausen Hans (2005), S.212. Nach Verhandlungen vor dem Einsteigen durfte Peter im Militärzug, der für meinen Vater kostenfrei war, mitfahren.

    6 Ungefähr 1953 besuchte ich Walters in Hamburg am Harvestehuder Weg. Herr Walther nahm mich damals in das Nachrichtentechnische Institut, in dem er beschäftigt war, zu einer experimentellen Fernseh-Übertragung mit. Da sah ich, lange bevor man Fernsehapparate kaufen konnte, in einem technischen Laboratorium einen alten Kinofilm auf einer Bildröhre. Roli Walther hatte das ehemals Ritterschaftliche Gymnasium in Birkenruh bei Wenden (Cesis) besucht. Dasselbe traf auf den Paläontologie-Professor Gross zu, den ich 1963 in Tübingen kennen lernte, als ich zur Beschleunigung meiner Promotion alle Ordinarien der Naturwissenschaftlichen Fakultät in Tübingen besuchen musste. Er war gerade irgendwie aus der DDR geflohen. Er sagte, er sei als Schüler kurze Zeit mit meinem Vater in Birkenruh zusammen gewesen, was ich zurückwies, weil mir nicht bekannt war, dass mein Vater jemals dort zur Schule gegangen war. Es stellte sich aber heraus, dass er tatsächlich einmal kurze Zeit dort war. In den Murren ist das nicht erwähnt. Aber als Erstes fragte Prof. Groß nach Tante Adline. Er wusste alles. Er schenkte mir sein Büchlein über das Kirchspiel und Pastorat Roop. Ein anderer ehemaliger Birkenruher war Rudolf (Rudi) von Hoyningen-Huene, den wir 1963 in Pasadena kennenlernten. Er betrieb dort eine Firma zur Herstellung mineralogischer Dünnschliffe für mikroskopische Untersuchungen in Unterricht und Forschung. Er schrieb gerade einen Brief an Roli Walther und freute sich, von mir grüßen zu können. Huenes haben uns auch noch in Mainz besucht (siehe Kapitel 17 „Ruth und Eddy Hughes…")

    7 Obwohl Walter Kempowsky seinem Roman „Heile Welt (4. Aufl. 1998) die Mitteilung „Alles frei erfunden voranstellt, beschreibt er die Kunst, acht Klassen gleichzeitig in einem Raum zu unterrichten, nicht nur sehr unterhaltsam, sondern

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