Geschichten für die Familie
Von Daniela Westphal
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Über dieses E-Book
Daniela Westphal
Kurzer Lebenslauf Geboren 21.5.1932 in Dresden. Als Kleinkind Elternhaus in Hellerau, aufgewachsen in Stettin, von wo wir Anfang Februar 1945 nach Hamburg flüchteten. Vater Stadtplaner, daher im Elternhaus ständig Kontakt zu Planern und Künstlern. Abitur in Hamburg 1954, nachdem ich nach der 10.Klasse eine dreijährige Schneiderlehre (Geselle 1952) machte. Danach Studium der Gebrauchsgrafik in Hamburg und Basel bis 1956. Kunsthistorische Studien: Bei Prof. Joseph Gantner (Universität Basel) und Prof. Georg Schmidt (Kunstmuseum Basel) Einblicke in den Museumsbetrieb u.a. auch in Restauration und Qualitätsbeurteilungen. Seminar im Kölner Wallraf-Richartz-Museum bei Prof. von der Osten. (Universität Köln) Grafikstudium: Kurz in Hamburg in der Kunstschule Alsterdamm, danach Studium an der Allgemeinen Gewerbeschule Basel (auch Kunsthochschule) bei Prof. Donald Brun Grafik, bei Emil Ruder Typographie, und bei Walter Bodmer Zeichnen Ausstellungen: Einzel- Ausstellung 1959 mit freien, malerischen und angewandten Arbeiten im Foyer des Thalia-Theater, Hamburg. Gemeinschafts-Ausstellungen: Deutsche Künstler sehen Europa, Kunstamt Reinickendorf, Berlin. Die Frau im modernen Leben 1969 - Junge deutsche Maler -¬ Städtische Galerie, München. Grafik der GEDOK im Thalia-Foyer und der Bücherhalle Altona. Wettbewerb: 1. Preis im Tibesti-Teppich-Wettbewerb. Eine Schweizer Firma sucht neue Entwürfe für Moderne Naturwoll-Teppiche. Naturfarbene Schafwolle läßt sich für rechteckige Muster in Leinenbindung verweben. Ich probierte am Webstuhl geschwungene Linien und gewann. Familie: Im Oktober 1956 Heirat, drei Töchter und einen Sohn. Berufliche Tätigkeiten: Von 1959 bis 1965 Konzeptionen, Entwürfe und Gestaltung von mehreren Sonderschauen mit Frauenthemen im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der Hamburger Frauenverbände für die Publikums-Messe Du-und-Deine-Welt. Ansonsten Beratung und Betreuung von Unternehmen - Flughafen, Banken, Versicherungen, Versicherungsmaklern und auch Handelsfirmen mit: Geschäftsberichten Drucksachen, Anzeigen, PR-Arbeiten (Presse) und Veranstaltungen. Dazu gehörte das Redenschreiben genauso wie die Konzeption von verschiedensten Veranstaltungen. Ehrenämter: 2008 wurde ich zur Ehrensenatorin der European Business School ernannt, in Würdigung meines persönlichen Engagements für die Hochschule und das private Hochschulwesen. Auf Grund meiner fünf Ehrenämter erhielt ich 2015 die Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes vom Hamburger Senat.
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Buchvorschau
Geschichten für die Familie - Daniela Westphal
Motivation Juliane!
Ohne Julianes Ermunterung und Kritik wären diese Ausführungen bzw. „Geschichten" aus einem langen Leben wohl gar nicht in Angriff genommen worden!
Im Zusammenhang mit dieser Arbeit denke ich an acht gute Geister!
Für ihre Geduld und freundliche, gütige Kritik danke ich:
Dorothee Gerike, Magdalena Müller Beißenhirtz,
Sabine Schmidt, Helga Blume, Haike Hartmann,
Thies Reichow und Jürgen Westphal
Für ständige Ermunterung, Verbesserungen und Redaktion:
Juliane Westphal
Inhalt
Kindheit
Er war noch Fünfzehn
Vom ersten Teesieb bis zur Superküche
Das wachsende Haus
Unser alter Ahornbaum
Warum ich Grafikerin werden möchte
Mein Vater
Workoholic
Vorwort seines Katalogs
Greifswald
Heimat
Ängste
Lehre
Magdalena fragt nach Geschwistern…
Theater Egmont
Drei Jahre Lehrzeit sind lang – glücklicherweise unterbrochen durch sommerliche Reisen!
1950 Reise Schweden
England 1952 – Eine Reise ins Unbekannte
Rückkehr in die Schule
Musik
Grafikstudium
TIBESTI-Wettbewerb
Das Vielzweckhaus
Vom Wunsch bis zur Verwirklichung…
Erinnerung an die Sonderschauen „Du und Deine Welt"
1965 „Dein Beruf – Freude und Erfolg"
Ein später Dank
Noch eine Ausstellung?
Von der Grafik bis hin zur Unternehmens-PR
Alltag in meinem Büro – Kein Tag glich dem anderen
Segeln
Margrit erinnerte mich!
Segeln als Netzwerkhilfe
Mode
Jürgens Kommentar
Die Freundschaft mit Hilda
Eine wachsende lebhafte Familie
Cornelia und der Lesekreis
Willkommen im Klosterstieg – so hieß Ulrikes und Julianes Straßenfest
Kleine Retrospektive nach zwölf Tagen Reise – Daniela und Jürgen mit Cornelia und Florian 1982
Südafrika und Zandkraal
Messe in Sant‘ Ambrogio
Die Freundschaft mit Liselotte von Rantzau
Zurück zum Projekt Zandkraal
Reisetagebuch Januar 1977
Notizen über die Parlamentseröffnung am 21.1.1977
Ablauf der Eröffnung
Englisch will gelernt sein!
Silberhochzeit
Die Geschichte einer Wachsblume – Erinnern in Dankbarkeit!
Mutter Reichows 85. Geburtstag am 13. Oktober 1992, Glückwunsch-Rede von Daniela
DDR – Kurze Tagebuchnotizen
Der aufregende Mauerfall – und wie wir gänzlich überrascht wurden
Wendezeit
„Besuch in Hoppegarten" und andere Gutachten
Reisen in den äußersten Südosten Deutschlands – die Oberlausitz
Fastentuch
ZONTA ist Begegnung
Einige ZONTA-Ereignisse, an die ich mich besonders erinnere
Treffpunkt Odessa
Es kamen 17 interessierte Zuhörer und die Autorin von „Wer ist Martha"
Magdalena – Eine früh begonnene Freundschaft
Vorschulreisen
Wandern mit den Enkelinnen
Eine besondere Freundschaft: Begegnung mit „Mutter Liese"
Ehrenämter - warum Ehrenamt?
25 Jahre später
Radfahren ist schön!
Neugier hat uns zu etlichen interessanten Reisen verführt
Goldene Hochzeit
Diamantene Hochzeit
Andere Feste
Corona Zeiten im Jahr 2020…
Der witzigste Flohmarkt des Jahrhunderts
Später Fund
Zum 21. Mai 2021 – Danielas 89. Geburtstag
Kurzer Lebenslauf
Fotonachweis
Vorwort
Die Aufgabe, die ich mir für diesen Weg gestellt habe, lautet:
Erinnerung.
„Kartoffelkäferzeit hieß das Buch über die Nachkriegszeit, das meine Enkelin Magdalena ihrer Klasse vorstellen musste. Das genau war die Anregung für mich, der Familie aus meiner „Kartoffelkäferzeit
zu erzählen und dies meinen Enkeln Magdalena, Clara und Guillaume zu widmen.
Die Mehrzahl meiner Erlebnisse und Erfahrungen sind – wie bei jedem – ins Vergessen zurückgefallen. Denn das Gedächtnis sondert das „Eine aus und setzt „Anderes
an dessen Stelle, oder neuere Einsichten und Eindrücke überlagern früher Erlebtes.
Blicke ich zurück, drängt eine Flut von Bildern heran, alle ungeordnet und zufällig.
Im Augenblick des Geschehens verband sich kein besonderer Gedanke damit, und erst nach Jahren kam ich dazu, die verborgenen „ Wasserzeichen" in den Lebenspapieren zu entdecken, womöglich zu lesen und zu verstehen! Auf den Reisen in die Vergangenheit suche ich nach Sinn und Wahrheit. Ist das möglich?
Kindheit
Dies ist ein Sprung in die Vergangenheit weit vor der Flucht aus Stettin im Jahre 1945.
Mein Geburtsort Dresden war mir im Grunde genommen nur aus Erzählungen und Fotos bekannt. Da gab es ein Foto, auf dem meine Mutter mit meinem Bruder Dirk und mir auf den Treppen zum Festspielhaus Hellerau sitzt. Von dem Elternhaus dort besitze ich keine Fotos. Jetzt sind die restaurierten Häuser an der Einfahrt hilfreich für die Vorstellung, wie das Elternhaus einmal gewesen sein muss. Man hat im Jahre 1936 den größten Teil der Künstlerhäuser abgerissen und durch Kasernenbauten ersetzt. Was war Hellerau? Eine pädagogische Provinz
sagt Peter de Mendelssohn, der aus seinem Hellerau schon 1934 flüchten musste. Über die Bedeutung von Hellerau habe ich das Meiste erst nach der Wende gelesen.
Damals, wenn ich in Dresden zu tun hatte, habe ich den Taxifahrer – vom Flughafen Klotzsche kommend – um eine Schleife durch Hellerau gebeten. Daher sind mir Restaurierungsfortschritte immer zum Bewusstsein gekommen, besonders weil der Festspielhaus-Komplex noch lange von Russen besetzt war. Jetzt erst, nach dem Jahre 2000, kann man wieder von einer Nutzung durch kulturelle Aktivitäten sprechen. 2005 hatte der Chef des Frankfurter Balletts die Hälfte seiner Aktivitäten dorthin verlegt. Hellerau, die erste deutschen Gartenstadt (1907), hat nach der Wende endlich auch in Westdeutschland Beachtung gefunden. Inzwischen ist die kulturelle Evolution, die mit dieser Gartenstadt verbunden war, häufig beschrieben worden.
Von Dresden wird immer behauptet, es sei rückwärtsgewandt. Wie anders war das aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es gab die Wiener Werkstätten erst wenige Jahre, als in Hellerau die deutschen Werkstätten gegründet worden sind. Der gleiche Wolf Dohrn, der den „Deutschen Werkbund" mit gegründet hatte und dessen erster Geschäftsführer er war, hat in Hellerau außerordentlich stark gewirkt. In die Wiederbelebung des Festspielhauses – nach dem Scheitern des Bewegungsinternates Dalcroze – hat er sogar sein Privatvermögen eingebracht. Vieles von dem Reformgeist Helleraus hat meine Eltern geprägt. Wir besaßen dort erworbene Möbel, an die ich mich aus unserem Hause in Stettin erinnere; meine Mutter hat geschildert, was ihr in Hellerau besonderen Eindruck gemacht hat. Dazu gehörten vor allem Persönlichkeiten wie der Schriftsteller Schnack, der Künstler und Verleger Jakob Hegner und der Schauspieler Erich Ponto, der dort Zaun an Zaun mit uns wohnte.
Jetzt erst habe ich die sozialen Reformen, die Hellerau ausmachten und die gute Arbeit der Architekten begriffen. Sie bauten kleine Reihenhäuser für die Arbeiter der Deutschen Werkstätten. Jeder hatte seine eigene Haustür und einen Minigarten. Winzig, aber stilistisch gut sind sie heute wieder wie Schmuckstücke anzuschauen. Mich hat es sehr bewegt, als ich 1984 bei einem ganz flüchtigen Besuch in dem gänzlich heruntergekommenen Hellerau begriff, was diese Künstler und Handwerker damals 1909 wollten, als sie die künstlerischen Formen auch in der handgefertigten Serie von Möbeln zu produzieren gedachten. Heute kann man vor Ort viele Informationen über die Geschichte von Hellerau bekommen.
Ein schönes Erlebnis hatte ich zusammen mit Enkelin Magdalena auf der Vorschulreise, die ich mit ihr nach Dresden unternommen habe. Wir kamen mit der Straßenbahn nach Hellerau. Es war zufälligerweise der 90. Geburtstag des Festspielhauses und der wurde mit Filmen und Vorträgen gefeiert. Magdalena kann sich nun auch vorstellen, wie der Ort war, wo das inzwischen zerstörte Elternhaus ihrer Großmutter gegenüber von dem Festspielhaus gestanden hat. Sie wollte auch alles fotografieren und bei den jungen Mädchen, die die Cafeteria an diesem Tage betreuten, mithelfen.
Natürlich habe ich mich oft gefragt, warum unsere Familie nur so kurze Zeit in Dresden gelebt hat. Nicht nur Peter de Mendelssohn, sondern auch der Chef meines Vaters, der hoch geschätzte Stadtbaurat Konert, wurden beide nach 1933 aus politischen Gründen entlassen. Mein Vater wollte ohne diesen reformorientierten Chef nicht in Dresden bleiben. So ging er für zwei Jahre als Städtebauer nach Braunschweig. 1936 wurde er Stadtbaurat in Stettin. An die Zeit in Braunschweig erinnere ich mich nur wenig. Wir wohnten im Zuckerbergsweg.
Um das Eckhaus herum ging es zu Nachbarn, die das kleine vierjährige Kind niedlich fanden und immer Süßigkeiten zur Hand hatten. Meine Mutter fand dies schlecht. Da ich aber nicht ablehnte, vielleicht aus Schüchternheit, hängte sie mir ein an einem Silberkettchen angebrachtes Stück Knäckebrotkarton um den Hals auf dem stand: „Ich darf nichts annehmen." Lesen konnte ich damals noch nicht, aber vielleicht wusste ich doch, was erwartet wurde.
Ob ich mich darum kümmerte?
Im Herbst 1936 zogen wir übergangsweise nach Stettin- Finkenwalde in ein schönes Haus zur Miete, mit Garten und mindestens einem Kachelofen. Mein Vater suchte zu der Zeit ein Grundstück zur Bebauung. Finkenwalde war für uns zwei Kinder, Dirk und mich, auch deswegen von Bedeutung, weil wir viel miteinander spielten. Dabei hatte ich allerdings ziemliche Angst, in eine mit Brettern überdachte Höhle zu kriechen. Sie hätte ja einstürzen können.
Tat sie aber nicht. Einmal rannte ich zu schnell zur hinteren Küchentür. Es gab einen starken Windstoß, und ich verlor die Gewalt über die Tür. Diese knallte zu, und meine Finger wurden im Rahmen gequetscht. Großes Geschrei! Der Arzt musste schienen – und noch heute ist mein kleiner rechter Finger verunstaltet. Außerdem war die Zeit dort bedrückend. Ich erinnere mich daran, wie meine Mutter die Nachricht vom Krebstod ihrer Mutter am Telefon erhielt. Sie hatte damit gerechnet, aber es war dann doch ganz schrecklich! Im August 1937 kam Dorette zur Welt, drei Wochen bevor wir in das neue Haus in Gotzlow einziehen sollten. Für uns Kinder war das aufregend, für meine Mutter aber sehr anstrengend, zumal das neue Haus beileibe noch nicht fertig war. Ich selber habe das später in ähnlicher Weise ja auch erlebt, ein zweites Mal beim Umzug in den Klosterstieg mit vier Kindern!
Finkenwalde war sehr waldreich. In der Nähe war die Buchheide mit dem tief eingeschnittenen Herthasee. Dort wohnte auch die Familie Dohrn, über die ich im Laufe meines Lebens viel gehört habe: ob in Hellerau über Wolf Dohrn oder in Finkenwalde, wo wir ja in dem ersten Stettiner Jahr in der Nähe des Gutes der „Zuckerdynastie" Dohrn wohnten, die in Stettin Wohltäter waren und deren Sohn Heinrich Dohrn seine umfangreichen Kunstsammlungen dem Städtischen Museum überließ. Später, auf einer unserer vielen Italienreisen, begegnete die Familie mir wieder in Neapel, wo der Meeresbiologe Anton Dohrn ein berühmtes wissenschaftliches Institut baute und in dieser Forschungsstätte sogar Fresken des Münchner Malers Hans von Marées hinterließ. Diese Familie war in unserer Familie oft Gesprächsstoff.
Nun wohnten wir also auf dem Berge in Stettin-Gotzlow mit weitem Blick über die Oder in das pommersche Land hinein. Sechzig Stufen führten zum Hohlweg herunter. Ich musste meiner Mutter helfen, die Rabatten beiderseits der mühsam angelegten Treppe mit Steingartenpflanzen zu schmücken. Sonst konnte ich mich von den schweren Gartenarbeiten fernhalten. Wir Kinder, Dirk und ich, mussten überall kräftig mithelfen, auch beim Rasenmähen.
Es wurden Hecken gepflanzt, leider zu spät für Dorette, die mit ihrem Kinderwagen den ganzen Hang heruntersauste und erst vor der Garagenwand zum Stocken kam. Neben der Garage mussten wir mittags Wache sitzen: das Tor öffnen und erst wieder schließen, wenn mein Vater mit seinem DKW (Deutscher Kleinwagen) in der Garage war. Als hoher Beamter kam er oft schon mittags nach Hause, was aber nicht Feierabend bedeutete. Am Nachmittag bis spät in die Nacht ging es in seinem Arbeitszimmer weiter.
Von 1937 bis 1943 lebte ich in diesem schönen Zuhause. Wir spielten viel, lernten im eigenen Schwimmbad schwimmen, liefen im Winter im zehn Minuten vom Haus entfernten hügeligen Gelände Ski mit Schneepflugbogen oder wir liefen auf den überschwemmten Wiesen Schlittschuh. Dabei wäre ich einmal fast ertrunken. Es waren Schollen auf der Oder, die ganz tragfähig aussahen. Jedenfalls war es tollkühn, von den Wiesen auf den Fluss zu gehen und nicht genügend auf die Schollen zu achten. Kurz vor dem Yachthafen passierte es. Die Scholle zerbrach, ich tauchte empfindlich tief ein, bis ein alter Fischer mich vom Uferrand aus an den Zöpfen herauszog. Triefend und mit einem gewaltigen Schreck in den Gliedern rannte ich nach Hause. Das dauerte zwanzig Minuten. Die Trainingshosen waren nass und schwer. Ich erhielt einen strengen Empfang von meiner Mutter. Sie steckte mich schnellstens in warmes Badewasser. Ich war eigentlich wütend, dass sie so herbe mit mir war. Aber es war ja strengstens verboten, von den Wiesen auf den Fluss zu gehen, da man wusste, dass die Fahrrinne immer offen gehalten wurde.
[Stettin-Gotzlow 1939]
An den Kriegsanfang am 1. September 1939 erinnere ich mich noch gen au. Offenbar war von der Verwaltung bereits einiges für die Bevölkerung vorbereitet! Schon in den ersten Kriegstagen musste ich vor dem Tor des Ortsamtes warten, wo meine Mutter die rosa Lebensmittelkarten für uns holte. Ich weiß noch genau, wie diese Karten aussahen und könnte sie aufzeichnen. Das Mittelfeld mit den Namensangaben, links Abschnitte für Fleisch, oben für Butter und auch noch ein Abschnitt für Kleidung. Später hatten die Karten wechselnd verschiedene Farben. Nur die ersten waren rosa gehalten, die gleiche Farbe übrigens wie unser schönes Haus, das inzwischen wieder voller wurde. Im März 1941 kam Detlef zur Welt, eine Hausgeburt. Die Kinderschwester ließ uns Geschwister morgens zu unserer Mutter und dem Baby hinein. Mein Vater rief aus Hamburg an, wo er gelegentlich städtebaulicher Gutachter war.
Das Haus musste nun noch weiter ausgebaut werden. Dirk bekam ein riesiges Zimmer mit schrägen Wänden im Obergeschoss. Zur Seite der Oder wurde ein kleines Bullauge zur Beobachtung ein- und auslaufender Schiffe eingerichtet. Ein Schiffsregister und ein Fernglas gehörten später zu Dirks Inventar. Außerdem wurde in den Abhang zum Walde, der „Julo" hieß, im Jahre 1942 ein Luftschutzbunker oder - stollen eingebaut. Von oben führten Treppen in das Tal und unten im Tal, vom Bach aus, ging man ebenerdig in den Schutzraum, der zwanzig Meter gewachsene Erde über sich hatte. Wie oft mussten wir da hinein! Bei Voralarm schnell warm anziehen, durch den Garten zum Waldausgang und schnell die vielen Treppen hinunter. Auch an Notstrom da unten erinnere ich mich. Dieser Bunker wurde wohl erst 1943 fertig, nach dem schweren Luftangriff auf die Innenstadt von Stettin am 20. April 1943.
Dieses Datum brachte auch für mich eine entscheidende Veränderung. Wegen der Gefahr weiterer Bombenangriffe mussten sich zwei Tage später alle jüngeren Oberschüler im Zentrum von Stettin einfinden, um von dort aus in die sogenannte Kinderlandverschickung verbracht zu werden. Mit meinen noch nicht einmal elf Jahren kam ich mit meinem Rucksack und einem Bündel nach Sellin auf Rügen. Wir, die Kinder der unteren Klassen, wurden in einer Art Familienpension einquartiert. Unser Viererzimmer, das „Schwatzkästchen" getauft wurde, hatte Aussicht auf die Stubbenkammer. Zwar hatten wir jeden Morgen Schulunterricht, aber ich erinnere mich mehr an Geländespiele und Ausflüge, die wir reichlich unternahmen. Trotz Verbots rutschten wir gerne das Steilufer hinunter und dachten uns wenig dabei. Ich fand die Zeit eigentlich sehr schön und mochte die Achtzehnjährige, die die Aufsicht über uns hatte. Die Lehrer waren die gleichen wie in Stettin. So war ich ein bisschen enttäuscht, als ich von meinen Eltern im Spätsommer zurückgerufen wurde, und nach Hinterpommern zu meiner dort lebenden Großmutter geschickt wurde. Was meine Eltern daran besser fanden, als den Aufenthalt auf Rügen, habe ich niemals herausgekriegt. Gefragt wurde ich jedenfalls nicht.
Belgard, heute Bjelograd, ist eine kleine Kreisstadt, etwa zwei D-Zug-Stunden östlich von Stettin gelegen. Nicht mehr mit meinen Klassenfreundinnen, sondern mit zwei alten, schnarchenden Damen, meiner Großmutter und meiner Tante Berta zusammen zu schlafen, war ungewöhnlich und fiel mir schwer. Die beiden Damen wohnten in einer Dreizimmerwohnung, deren Salon weder im Sommer noch im Winter bewohnt wurde. Ein Bad gab es nicht. Das Klo war außerhalb der Wohnung, eine halbe Treppe tiefer und im Winter eiskalt.
Die Schule ließ ich über mich ergehen. Nett war es, mit den Kindern aus einer Schule zusammen zu sein, die von Bochum nach Belgard verlagert worden war. Das waren immerhin Großstadtkinder, und einige aus Berlin kamen dazu. Diese Schule zog ich der Mädchenschule vor, die ich anfangs einige Monate lang besuchte.
[Oma Reichow; 1953]
[Daniela an Mutti; 1944]
Im Spätsommer 1944 hatte Tante Berta gehört, dass es in Kolberg in einem großen Kaufhaus Kleider zu kaufen gäbe. Also nahm sie mich mit auf die „aufregende einstündige Fahrt mit dem Bummelzug in das früher so berühmte Ostseebad. Wir erstanden wirklich zwei Sommerkleider: eines, das ich gleich anprobierte und ein gleiches, nur etwas kleiner, für meine Schwester Dorette. Wir waren richtig stolz und konnten noch kurz einen Blick auf die herrliche, noch sommerliche Ostsee werfen, bevor unsere Rückreise fällig wurde. Die Kleider haben wir noch nach dem Krieg im Jahre 1945 getragen, im Kinderheim „Haus Erlenried
in Groß-Hansdorf (während Mutti im Krankenhaus lag).
Kolberg machte mir damals großen Eindruck, während die Kleinstadt Belgard an Attraktionen zu wünschen übrig ließ. Ich erinnere mich freilich an einen Freund meiner Eltern, den Bildhauer Joachim Utech. Auf meinem Schulweg lief ich durch einen Park, an dem sein Haus lag. Morgens saß er gelegentlich auf der Terrasse und spielte wunderschön auf seiner Querflöte. Mittags hörte ich die spitzen Töne von Hammer und Meißel, mit denen