Familien-Erinnerungen von Gustav Scharschmidt: Eine Lebensgeschichte im Deutschland des 19. Jahrhunderts
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Buchvorschau
Familien-Erinnerungen von Gustav Scharschmidt - epubli
Familien-Erinnerungen
von
Gustav Scharschmidt
geboren 14.12.1831
Aufgezeichnet im Dezember 1900
Übertragen und bearbeitet von
Ilse Sonnenschein geb. Scharschmidt
*27.11.1906 †Mai 2001
Herausgegeben und bearbeitet von
Elmar Sonnenschein
Inhalt
Einleitung
Vorwort der Enkelin
Vorwort des Ururenkels und Herausgebers
Meine Vaterstadt
Mein Vaterhaus
Das Jahr 1848
Die Bewegung 1858-1870
In Stollberg 1870
Meine Vorfahren
Mein Vater
Meine Mutter
Meine Geschwister
1. Amalie Auguste Wilhelmine
2. Laura
3. Karl
4. Karl Wilhelm
5. Richard Wilhelm
6. Laura Otilie
7. Emil Oskar
8. Waldemar
9. Ottilie
10. Alwine Hulda
11. Eugenie Selma
12. Ottilie Clementine
Meine Lebensgeschichte
Schluss
Impressum
Einleitung
Ein Jahrhundert - reich an Entdeckungen, Erfindungen, Kolonie Erwerbungen in fremden Erdteilen, an gewaltigen politischen Ereignissen, wie die Niederwerfung Napoleons I, die Besiegung Frankreichs und Napoleons II, die Entstehung des deutschen Reiches, die Schaffung einer deutschen Flotte - naht seinem Ende.
Alle diese Entdeckungen, Erfindungen und Ereignisse haben unserem deutschen und unserem engeren Vaterland, Sachsen, einen allgemeinen Wohlstand gebracht, gegenüber der großen Armut, wie sie in den letzten Jahrhunderten bis in die Mitte dieses Jahrhunderts herrschte.
Der Handwerker und Arbeiterstand kann sich jetzt zu seiner Lebensführung einen Aufwand gestatten, der sogar dem bemittelten Bürger in früherer Zeit ganz unmöglich war. Die Lebensweise aller Stände kann gegen damals in Bezug auf Nahrung, Wohnung, Verkehr und Schutz eine behäbige, üppige genannt werden.
Der Bürger ist zu Wohlstand gelangt und errichtet sich in den Umgebungen der Städte prächtige Landhäuser mit Garten und Parkanlagen. Ackerbaudörfer verschwinden in der Nähe der Großstädte vom Boden um schönen Villenorten Platz zu machen.
Der Verkehr zu Land und See hat sich durch die Dampfkraft so gestaltet, dass der ärmere, ebenso wie der reiche Mann eine Reise unternehmen kann. Durch die Dampfkraft werden die Lebensmittel in so ausreichendem Maße beschafft, dass ein Teuerungs- und Notstandsjahr nun zu den Vorgängen der Vergangenheit gezählt werden darf.
Es ist mir vergönnt gewesen, einen großen Teil dieses Jahrhunderts zu durchleben; auch einige Jahrzehnte der Armut und der tiefsten Entbehrungen habe ich mit tragen dürfen.
Auf den Wunsch meines lieben Sohnes versuche ich, meine Erlebnisse, so wie sie mir im Gedächtnis haften geblieben sind, niederzuschreiben.
Diese Erinnerungen widme ich einzig und allein meinem Sohn, sie sind nur für ihn bestimmt.
Vorwort der Enkelin
Ich möchte diese Aufzeichnungen der Nachwelt, also meinen Nachkommen weitergeben. Ich werde solche Abschnitte auslassen, von denen ich annehme, dass mein Großvater sie nicht für andere Zeitgenossen bestimmt hat. Alles was für die Charakteristik dieser Zeit zwischen dem Dezember 1831 und 1900 interessant ist, möchte ich erhalten.
Da die Lebenserinnerungen in deutscher Schrift niedergelegt sind, sind sie für meine Enkel und auch schon meine Kinder nicht lesbar, aber wichtig zu erkennen, wie damals gelebt wurde, und dankbar für das heutige Leben zu sein; zu begreifen, dass jede Generation ihre Zeitschwächen erkennen muss und versuchen, die Qualität des Lebens zum Guten zu wandeln.
Dieses Buch ist durch eigenartige und kriegsbedingte Umstände aus einer Mülltonne, von einer fremden Frau meinem Vater gesandt worden, da sie ihn durch seine leitende Tätigkeit bei der Firma Krupp in Essen dem Namen nach kannte. Daraus nahm ich auch die Erlaubnis, sie abzuschreiben und meiner Familie zugänglich zu machen. Ich habe sie auf dem wirren Weg meines Lebens wie einen Schatz bewahrt und hoffe, dass auch meine Kinder und Enkel in diesen Aufzeichnungen ein Vermächtnis sehen.
Ilse Sonnenschein, geb. Scharschmidt
*27.11.1906, †Mai 2001
Vorwort des Ururenkels und Herausgebers
Schon als ich die Aufzeichnungen meines Ururgroßvaters vor ungefähr 20 Jahren zum ersten Mal gelesen habe, war ich fasziniert von seiner Schilderung der Lebensumstände im 19. Jahrhundert. Wenn überhaupt, dann kennt man diese Zeit als Abfolge von Fakten in Geschichtsbüchern. Aber darüber, wie die Menschen in dieser Zeit gelebt und ihre Gegenwart wargenommen haben, erfährt man selten etwas und wenn, dann nur in zusammenhanglosen Bruchstücken.
Dieses Buch dagegen beinhaltet die Lebenserinnerungen meines Ururgroßvaters, die er im Dezember des Jahres 1900 im Alter von 69 Jahren aufzeichnete. Es sind also keine Tagebuchaufzeichnungen, aber aus meiner Sicht macht gerade diese zurückblickende Betrachtung einen wesentlichen Reiz dieses Erinnerungen aus, denn seine Lebenserfahrung ermöglichte es ihm, die auch uns heute noch bekannten historischen Ereignisse dieser Zeit zu kommentieren und mit seinem Lebenslauf zu verknüpfen.
Neben dem Rückblick auf geschichtsträchtige Begebenheiten schildert das Buch vor allem auch das tägliche Leben und Überleben der Menschen im vorvorigen Jahrhundert, beginnend mit den Vorfahren Gustav Scharschmidts bis zu seinem Lebensabend. Und auch hier wird immer wieder die geschichtliche Entwicklung deutlich und lebendig, z.B. als der Übergang von Kleinstaaten zu einem vereinten Deutschland mit dem Fall der Zollgrenzen sich direkt auf das Leben der Familie Scharschmidt auswirkt.
Vor kurzem fiel mir über meine Eltern das Dokument mit diesen Aufzeichnungen wieder in die Hände. Und da die moderne Technik das Erstellen und Veröffentlichen von Büchern heutzutage so viel einfacher machen, entschied ich mich, es einer größeren Leserschaft zugänglich zu machen, denn ich glaube, dass viele diese Lebensgeschichte als einen interessanten Einblick in die damalige Zeit sehen werden.
Gerade auch für junge Menschen, für die Bildung, Krankenversicherung, Elektrizität, fließend Wasser, Internet, Handy und vieles mehr heutzutage selbstverständlich scheinen, kann dieses Buch vielleicht ein lesenswertes Fenster in eine frühere Zeit darstellen.
Meine Bearbeitungen dieses Buches beschränken sich auf Formatierungen und Korrekturen von Fehlern, die bei der manuellen Übertragung aus dem Altdeutschen durch meine Großmutter entstanden sind – damals gab es noch keine Computer mit Rechtschreibkorrektur, sondern nur eine einfache Schreibmaschine. Und die mittlerweile wohl fast verlorene Fähigkeit, handgeschriebene deutsche Schrift zu entziffern.
Außerdem habe ich einige der im Text erwähnten historischen Personen und Begebenheiten mit Endnoten versehen, die auf weiterführende Informationen im Internet verweisen, so dass interessierte Leser die entsprechenden Themen vertiefen können.
Ich widme dieses Buch meiner Großmutter Ilse Sonnenschein, geborene Scharschmidt, die das Manuskript bewahrt und für die Nachwelt verfügbar gemacht hat.
Elmar Sonnenschein
Juni 2014
Stadtplan-Chemnitz-um-1885Stadtplan von Chemnitz um 1885
Meine Vaterstadt
Chemnitz zählte im Jahre 1830 eine Bevölkerung von 12.000 Köpfen. Der Ort hatte noch ziemlich das Aussehen einer mittelalterlichen Festungsstadt. Bis zum Jahr 1845 war der innere Stadtteil von einer starken Mauer mit festen Türmen fast vollständig umgeben und dadurch von den Vorstädten getrennt.
Außerhalb der Mauer befand sich der etwa 20 m breite und 6 m tiefe Wall, oder Stadtgraben, der nur an den Hauptstraßen, sowie nach der Bürgerschule und dem Stadttheater zu, ausgefüllt war.
An einigen Eingängen zur inneren Stadt standen noch die finsteren Warttürme, großenteils jedoch ohne Torflügel, die ich nur noch an dem Tore nach dem Kastberge gesehen habe. Diese Flügel wurden des Abends geschlossen.
Von Wasser angefüllt habe ich den Stadtgraben trotz seiner Tiefe nie gefunden. Nur in der Mitte floss das sich sammelnde Wasser in einer schmalen Vertiefung ab. An manchen Stellen waren von den Besitzern der Nachbargrundstücke Gemüse- und Blumenbeete angelegt, die ihm ein freundliches Aussehen verliehen. Stufen führten dazu hinüber.
Jeder Stadtturm hatte seinen Namen. Der nahestehende war das Chemnitzer Tor und stand am Ausgang zur Annaberger Straße. Die anderen nannte man das Nicolai-Kloster und Johannis-Tor. Nach diesen Benennungen hatten die Teile der äußeren Ringstraße um den Stadtgraben herum ihre Namen, wie der Chemnitzer Nicolai-Kloster und Johannis-Graben erhalten und heißen wohl noch so.
Die Räume in den Türmen wurden zu Gefängnissen verwendet, ein Gefängniswärter wohnte in einem Häuschen außerhalb des Turmes. Das Tor nach dem Kastberge zu hatte keinen Turm.
Die Ausfüllung des Stadtgrabens durch Schutt ging in den 30er und 40er Jahren nur schrittweise vor sich, sie ruhte oft lange Zeit. Erst später, als Privatgebäude in den Graben gebaut wurden, wurde die Zuschüttung eifriger betrieben.
Über den Chemnitzfluß führten hölzerne Brücken, die nach der Zwickauerstraße war mit Wänden und Dach versehen, man nannte sie die „hohle Brücke". Über den Gablenzbach nun, zwischen der inneren Stadt und der Dresdner Straße befand sich eine steinerne Brücke mit einem Bogen, über den man von der einen Seite hinauf und auf der anderen Seite hinunter gelangte. Da die Brücke schmal war und nur ein Fuhrwerk passieren konnte, so mag es