Der Vorgang Benario: Die Gestapo-Akte 1936-1942
Von Robert Cohen
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Über dieses E-Book
Robert Cohen hat die zweitausend Blatt umfassende Gestapo-Akte zu Olga Benario studiert und daraus ein ergreifendes Buch gemacht. Unumwunden offenbart sich das Vorgehen der Nazis im Zusammenhang mit dem Schicksal ihrer in Gestapo-Haft geborenen Tochter, sind die Versuche, sich über Prestes' Vaterschaft Gewissheit zu verschaffen, oder die detektivische Überwachung von Frauendelegationen aus England und Frankreich, die sich in Berlin um die Freilassung Olga Benarios bemühten, bloßgelegt. Das erste Buch aus der 70 Jahre nach Kriegsende endlich zugänglichen Sammlung der »Trophäendokumente« gibt einen ungeheuerlichen Einblick in das Räderwerk der NS-Menschenvernichtung.
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Buchvorschau
Der Vorgang Benario - Robert Cohen
Seghers
Vorwort
Dass die Vorstellungskraft erlahmt vor dem Ausmaß der Menschenvernichtung durch die Nazis, diese Erfahrung haben die Späteren immer aufs Neue zu machen. Können wir uns also den Holocaust nicht vorstellen? Die historisch-wissenschaftlichen Untersuchungen der Judenvernichtung, nachprüfbare Fakten, Zahlen, Daten, Namen und Orte liefernd, machen das Geschehen rational fassbar, aber nicht vorstellbar. Anders die Berichte von Opfern und Überlebenden. Was am Schicksal von Millionen nicht nachvollziehbar ist, offenbart sich am Schicksal Einzelner, an denen es sich vollzog. Doch musste für die Opfer im Räderwerk der Vernichtung manche für die Vorstellbarkeit zentrale Frage unbeantwortbar bleiben: Warum? Wie konnte es dahin kommen? Was trieb die Täter an? Welche Ideologien, Zwänge, Mechanismen, Organisationen und Strukturen? Die Antworten können nur die Täter selbst geben. Sie werden sich hüten?
Am 29. April 2015 fand im Museum der Streitkräfte in Moskau, im Beisein hoher russischer und deutscher Persönlichkeiten, ein feierlicher Eröffnungsakt statt. Anlass war die Onlinepublikation von bisher nicht zugänglichen Akten des deutschen Reiches aus russischen Archiven. Russisch-deutsches Projekt zur Digitalisierung deutscher Dokumente in den Archiven der Russischen Föderation lautet der vollständige Name der Website. Eingeladen hatten russische historische Institute, gemeinsam mit der Max Weber Stiftung und dem Deutschen Historischen Institut Moskau. Der Bestand dieser sogenannten Trophäendokumente, achtundzwanzigtausend Akten, gegliedert in fünfzig Findbüchern, umfasst rund zweieinhalb Millionen Blatt, die bis 2018 schrittweise digitalisiert werden sollen. Unter den Tausenden von bereits digitalisierten Dokumenten findet sich ein Dossier von acht Akten der Gestapo – gegen zweitausend Blatt – zu einer einzigen Person: Olga Benario. Ein schon mit Blick auf den Umfang vergleichsloses Dossier. Der von der Gestapo sogenannte ›Vorgang Benario‹ ist die vielleicht umfassendste Sammlung von Dokumenten zu einem einzelnen Opfer des Holocaust. Zugleich bilden diese Dokumente – unvermeidliche Dialektik – eine umfassende Selbstdarstellung der Täter und der Ideologien, Zwänge, Mechanismen, Organisationen und Strukturen, die sie leiten. Indem sie den ›Vorgang Benario‹ beinahe Tag für Tag aktenmäßig verhandeln, tun die Täter, was sie nicht wollen können: Sie geben Auskunft über sich selbst.
Wie kam gerade dieses Opfer zu solcher Aufmerksamkeit?
Olga Benario
Münchnerin, Jüdin, Mitglied des Kommunistischen Jugendverbands, in der Sowjetunion militärisch ausgebildet, Agentin der Komintern, Lebenspartnerin des schon in den 1920er Jahren weltweites Aufsehen erregenden brasilianischen Hauptmanns Luiz Carlos Prestes. Im Frühjahr 1936 zusammen mit Prestes nach einem misslungenen Volksaufstand in Rio de Janeiro verhaftet. Im siebten Monat schwanger an Nazideutschland ausgeliefert. Im Gestapo-Gefängnis in Berlin gebiert sie eine Tochter. Es folgen eineinhalb Jahre Haft in Berlin, dann zwölf Monate im KZ Lichtenburg und drei Jahre im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Im April 1942 in Bernburg südlich von Berlin vergast. Prestes verbringt fast zehn Jahre in Einzelhaft in Rio. Bis 1941, wenige Monate vor Olga Benarios Tötung, sind die beiden im Briefkontakt. Die Auslieferung der schwangeren Jüdin und Kommunistin an Deutschland und die Geburt ihrer Tochter, aber auch das Schicksal ihres Lebenspartners, führen zu internationalen Kundgebungen und Aufrufen, das zeigen die von der Gestapo aufbewahrten Zeitungsberichte und Protestschreiben an Heydrich, Himmler und sogar an Hitler.
Deutsche, Jüdin, Kommunistin, militärisch ausgebildet, Geliebte, Kominternagentin, prominente Gefangene der Gestapo, Mutter, KZ-Insassin, Vergasungsopfer. Was wissen wir damit über sie?
So erzählen wir ihr Leben.
12. Februar 1908 lautet das Geburtsdatum von Olga Benario, der Ort ist München, Haydnstraße 12. Am selben Tag wird auch Simone de Beauvoir geboren, startet in New York das erste Automobilrennen rund um die Erde, und in Deutschland regiert Kaiser Wilhelm II. Die jüdische deutsche Familie Benario besteht aus dem Vater Dr. Leo Benario, einem Rechtsanwalt, der Mutter Eugenie, geborene Guttmann, und dem sieben Jahre älteren Bruder Otto. Eugenie Benario wird 1943 in Theresienstadt getötet werden, der Bruder 1944 in Auschwitz. Olga wächst in der Jakob-Klar-Straße 1 auf, besucht die Höhere Mädchenschule in der Luisenstraße, das heutige Luisengymnasium. Was immer sie dort lernen mag, das eigentliche, das folgenreiche Lernen findet im Elternhaus statt. Der Vater, ein Sozialdemokrat, verteidigt vor Gericht Bedürftige, Proletarier und Arbeitslose. Die Fälle werden auch in der Jakob-Klar-Straße verhandelt, mit entgegengesetzter Wirkung auf Mutter und Tochter. Eugenie Benario sieht ihr gesellschaftliches Ziel, von der Münchner High Society akzeptiert zu werden, schon durch ihr Judentum kompromittiert. Nun also dieser Ehemann, der aus der konservativen Zunft der Rechtsanwälte ausbricht. Bei Eugenie Benario-Guttmann führt das zu einem Bann gegen alles Linke, der am Ende selbst die im Gewahrsam der Gestapo sich befindende Tochter und die Enkeltochter trifft. Aber auch wenn Eugenie Benario sich von ihrem Judentum und von allem Linken distanziert, dem Schicksal der Tochter entgeht sie nicht. Nicht nur von Herzlosigkeit wäre zu reden, sondern auch von der Heillosigkeit der Zeit.
Auf Olga haben die Berichte Dr. Leo Benarios über die Weimarer Klassenjustiz eine sehr andere Wirkung. Im Alter von fünfzehn Jahren tritt sie dem illegalen Kommunistischen Jugendverband bei, wenig später ist sie Funktionärin. Im Mai 1925 lebt sie in Berlin im Stadtbezirk Neukölln mit dem acht Jahre älteren Otto Braun zusammen, der für den sowjetischen Geheimdienst arbeitet. Sie wird Mitglied der Bezirksleitung der Kommunistischen Jugend Neukölln, ein Jahr später der Bezirksleitung von ganz Berlin. Braun verschafft ihr eine Stelle als Stenotypistin in der sowjetischen Handelsvertretung, da kommt sie direkt mit dem sowjetischen Geheimdienst in Berührung. Sie ist achtzehn, als ihre Karriere eine jähe Unterbrechung erfährt. Am 2. Oktober 1926 wird sie verhaftet, sie soll mit ihrer politischen Tätigkeit die Republik gefährdet haben. Olgas Vater bietet an, die Tochter zu verteidigen. Aber von einem Sozialdemokraten, und sei es der eigene Vater, will sie sich inzwischen nicht mehr helfen lassen. Zwei Monate später kommt sie dennoch frei: Ihre Inhaftierung war nur ein Vorwand, das Interesse der Justiz gilt Otto Braun, der zusammen mit ihr festgenommen wurde.
Zwei Jahre später, man schreibt den 11. April 1928, die spektakuläre Aktion: Mit der Pistole in der Hand befreit die inzwischen Zwanzigjährige, gemeinsam mit Genossinnen und Genossen aus der Jugendgruppe, Otto Braun aus der Justizvollzugsanstalt Moabit. (In den Gestapoakten zum ›Vorgang Benario‹ spielt die junge Frau bei dieser Aktion nur eine Nebenrolle. Wo ist die Wahrheit?) Die Aktion wird in der Weimarer Republik notorisch, sogar in einer Passage von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz ist sie erwähnt. Aber die Polizei lässt sich nicht von einer frechen jungen Frau verhöhnen. Fotos der beiden Untergetauchten auf Litfasssäulen und Kinoleinwänden. Der Oberreichsanwalt setzt für die Ergreifung eine Belohnung von 5.000 Reichsmark aus. Sie haben Olga Benario damals nicht erwischt.
Anfang Juli erreichen die beiden Flüchtlinge Moskau. Im September leitet Olga Benario bereits die Abschlussveranstaltung des fünften Weltkongresses der Kommunistischen Jugendinternationale, sie wird ins Zentralkomitee gewählt. 1929 (oder 1930) erhält sie in Borissoglebsk, fünfhundert Kilometer südöstlich von Moskau, eine zehn Wochen dauernde paramilitärische Ausbildung. Sie erlernt den Umgang mit leichten und schweren Waffen, lernt Reiten usw. Die körperlichen Strapazen während dieser Ausbildung hält sie aus, seit frühester Jugend treibt sie Sport, bei der Jugendgruppe in München war sie für körperliche Ertüchtigung – so hieß das damals – zuständig, auf den Wiesen vor der Stadt trainierte sie mit den Kameraden Fußball. Sie liebt Bewegung, sie hält sich fit wie eine Leistungssportlerin. Im Frühjahr 1930 reist sie im Auftrag der Komintern nach Frankreich und England, wo sie verhaftet und nach Moskau abgeschoben worden sein soll. 1931 trennt sie sich von Otto Braun. Es mehren sich Ungewissheiten und Lücken in ihrem Lebenslauf, das entspricht dem Wesen konspirativer Tätigkeit. Von der Komintern dafür ausgewählt, nimmt sie an einem Fallschirmspringer- und Fliegerkurs an der Luftwaffenakademie Schukowski in der Nähe von Moskau teil. Sie kann alles, was angeblich nur harte Männer können: mit Waffen umgehen, Fallschirmspringen, ein Flugzeug pilotieren, körperliche Leiden ertragen, sie hat Mut, sie ist verwegen, unerschrocken usw. Das Bild einer heroischen Superfrau lässt sich kaum mehr steigern. Wie es vermeiden, da es doch stimmt? Und wie eine Verbindung herstellen zu jener jungen Mutter, die Jahre später machtlos in Nazigefängnissen und Konzentrationslagern auf den Tod zu warten hat?
Das also wären die Umrisse ihres Lebens, soweit wir sie kennen.
Im November 1934 – inzwischen ist ihr Vater gestorben und Hitler an der Macht – wird Olga Benario in Moskau an den Sitz der Komintern gerufen. Man stellt ihr einen schmächtigen, unscheinbaren Mann im korrekt sitzenden Anzug vor, Typ des anonymen Funktionärs, einen Kopf kleiner als sie. Das soll der brasilianische Haudegen Luiz Carlos Prestes sein, von dessen Gewaltmarsch durch das brasilianische Hinterland, zehn Jahre zuvor, und von dessen Anwesenheit in Moskau sie aus den Zeitungen erfahren hat?
Luiz Carlos Prestes
Die Gestapo hat, in Zusammenarbeit mit der brasilianischen Regierung, zahlreiche Fakten und Fäktchen über ihn zusammengetragen. Offizier, Ingenieur, Mitte der 1920er Jahre Anführer einer aufständischen Militäreinheit, seither im Volk verehrt, Kommunist, Ende 1935 wiederum Leiter eines Aufstands – wie mochten diese Identitäten zusammengehören? Endloses Werweißen und Nachforschen, ob er mit Olga Benario verheiratet gewesen sei, buchhalterisches Aufrechnen nach Monaten, Wochen und Tagen, ob er der Vater ihrer Tochter Anita sein könne.
Carlos Prestes – oder »Karli«, wie ihn Olga Benario in ihren Briefen oft nennt – kommt am 3. Januar 1898 in Porto Alegre zur Welt, der Hauptstadt des südlichsten brasilianischen Bundesstaats Rio Grande do Sul. Nach der Selbstcharakterisierung der Brasilianer ist er ein Gaúcho. Nacheinander werden vier Schwestern geboren. Der Vater stirbt früh, so wächst er in einem Haus mit fünf Frauen auf. Sie verhätscheln den einzigen Mann im Haus – und auch wieder nicht. Die Mutter, Leocádia Prestes, ist Schullehrerin, das Lehren und Lernen wird auch zu Hause betrieben, für die Mädchen ebenso wie für den Jungen. Auch die Arbeit im Haushalt wird unter allen fünf Kindern aufgeteilt. Carlos Prestes wächst auf mit Hochachtung vor der Mutter und Achtung vor den Schwestern. Er versteht schon früh Frauen – und auch wieder nicht. Ist es Scheu, ist es die spartanische Lebensweise des Militärs, ist es sein Charakter eines Asketen? Er wird mehr als fünfunddreißig Jahre alt werden, bevor er zum ersten Mal eine Beziehung zu einer Frau hat: zu Olga Benario.
An der Militärakademie in Rio de Janeiro betreibt Prestes neben der militärischen Ausbildung ein Ingenieurstudium. Er arbeitet beim Bau von Eisenbahnlinien und Militärunterkünften, es ist der Beginn einer vielversprechenden militärischen Laufbahn, sie stößt bald an Grenzen. Die höheren Dienstgrade und Posten werden mit Vertretern der Oberschicht besetzt, seit jeher. Im Herbst 1924 erreicht die Unzufriedenheit der niederen Offiziersgrade eine neue Qualität. Mehrere Militäreinheiten erheben sich, eine davon, die spätere Kolonne Prestes, schlägt in São Luís Gonzaga, in der südwestlichen Ecke Brasiliens, an der Grenze zu Paraguay, eine vielfach überlegene Armeeeinheit. Weitere Militäreinheiten schließen sich dem Aufstand an, tausendfünfhundert Mann sind es schließlich, die sich unter der Führung des jungen Leutnants Prestes auf einen Marsch durch den riesigen Nordosten des Landes begeben, um der verarmten Bevölkerung im Landesinnern politische Aufklärung zu bringen und sie für den Kampf gegen die Oligarchie zu gewinnen. Es wird ein Marsch ohne Ende. Mehr als zwei Jahre später, mehr als fünfundzwanzigtausend Kilometer später, nach kaum vorstellbaren Strapazen unter einer fühllosen Tropensonne und in der wasserlosen Ödnis des Sertão, der die Pferde nicht gewachsen sind, so dass die Rebellenkolonne meistens zu Fuß unterwegs ist, nach unablässiger Verfolgung durch regimetreue Truppen, denen die Hälfte der Kolonne zum Opfer fällt, nach der endlichen Einsicht, dass das Regime auf diese Weise nicht zu besiegen ist, nach der Erkenntnis aber auch, einen Widerstandsmythos geschaffen zu haben, der die Unbesiegbare Kolonne – auch dieser Name hat sich erhalten – überdauern wird, überschreiten die Überlebenden am 3. Februar 1927 bei