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Margarete Schneider: Die Frau des Predigers von Buchenwald
Margarete Schneider: Die Frau des Predigers von Buchenwald
Margarete Schneider: Die Frau des Predigers von Buchenwald
eBook694 Seiten8 Stunden

Margarete Schneider: Die Frau des Predigers von Buchenwald

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Über dieses E-Book

Sie wurde von allen nur Gretel genannt: Margarete Schneider, die Ehefrau des Buchenwaldpredigers Paul Schneider. Er war der erste Geistliche, der von den Nazis hingerichtet wurde, weil er nicht den neuen Führerkult predigte sondern Gott. Gretel stand treu an seiner Seite. Stark und bescheiden, gradlinig im Glauben, gefasst und doch leidenschaftlich überbrachte sie nach dem Tod ihres Mannes die gemeinsamen sechs Kinder, sein Erbe und seine Botschaft den nachfolgenden Generationen. Ihr Leben ist ein Zeugnis von dem, was Dietrich Bonhoeffer sagte: "Die letzte Verantwortung ist nicht, wie man sich heroisch aus der Affäre ziehen kann, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll."
Eine Lebensgeschichte der leisen Töne – genauso heldenhaft, genauso eindrücklich.
SpracheDeutsch
HerausgeberSCM Hänssler
Erscheinungsdatum1. März 2019
ISBN9783775174305
Margarete Schneider: Die Frau des Predigers von Buchenwald
Autor

Paul Dieterich

Paul Dieterich, geb. 1941, ist der Neffe von Gretel und Paul Schneider und befasst sich besonders mit der Frage, was Christen der "Bekennenden Kirche" uns heute sagen. Als Theologe und früherer Prälat ist er im Predigtdienst tätig, setzt sich für die Ökumene ein und arbeitet als Autor von Biografien. Er lebt mit seiner Frau in Weilheim a. d. Teck.

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    Buchvorschau

    Margarete Schneider - Paul Dieterich

    Paul Dieterich

    Margarete Schneider

    Die Frau des Predigers

    von Buchenwald

    SCM | Stiftung Christliche Medien

    SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

    ISBN 978-3-7751-7430-5 (E-Book)

    ISBN 978-3-7751-5646-2 (lieferbare Buchausgabe)

    Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

    © 2019 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

    Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

    Internet: www.scm-haenssler.de · E-Mail: info@scm-haenssler.de

    Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse

    folgender Ausgabe entnommen: Lutherbibel 1912.

    Weiter wurden verwendet:

    Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus

    in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

    Bibeltext der Schlachter Bibelübersetzung 1951.

    Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

    Titelbild: Sammlung Familie Schneider

    Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

    Inhalt

    Über den Autor

    Vorwort

    1. Mutter Marie und Vater Karl, Pfarrer und Dichter zugleich

    Station 1: Wildberg 1901–1913

    2. Hänsel und Gretel – Kindheit und Jugend im Pfarrhaus

    3. »Wozu? Kann selber in den Dreck fallen.« Ein selbstständiges Persönchen.

    Station 2: Weilheim 1913–1926

    4. In stolzer Trauer. »Wer heult, muss in die Küche.« Die Pfarrfamilie im Ersten Weltkrieg.

    5. Ein Student und die »junge, dumme Gans«

    6. Wingolf, Examen und Hörde. Was Paul Schneider an Gretels Eltern geschrieben hat.

    7. »Kommen Sie sofort!« Wie es zur Verlobung kam.

    8. Briefe aus dem »Kloster« und Eindrücke im Krankenhaus

    9. Scharfer Wind aus Berlin. Auseinandersetzung mit einer anderen Frömmigkeit.

    10. Glück und Verzweiflung

    11. Oder doch Mazdaznan? Gretel wusste alles.

    12. »Wo du hingehst, da will ich auch hingehen.« Hochzeit der Auslandsschwäbin.

    Station 3: Hochelheim 1925–1934

    13. Schwabulierende Pfarrerin im Preußenland

    14. Wieder Sterben in den Sielen. Horch, was kommt von draußen rein. Das Pfarrhaus als Gasthaus.

    15. Sie hat das Ordinationsgelöbnis ihres Mannes mitgeheiratet

    16. Nicht auf Rosen gebettet – zwei Keulenschläge

    17. Warum sie aus Hochelheim gehen mussten

    18. Goebbels-Häme, Maulkorberlass und Abschied in Hochelheimer Tracht

    Station 4: Dickenschied 1934–1940

    19. Es ging gut – trotz des »himmlischen Sturms Horst Wessel«

    20. »An Nahrung soll’s ihm mangeln nicht.« Das Bekenntnisschwein.

    21. Gegen die Blut-, Boden- und Rassenreligion

    22. Lebensfreude auf schmelzendem Eis. Heil Hitler?

    23. »Wie ein wüster Traum.« Streit in Derendingen. »Der Wagen läuft und die Bremse funktioniert.«

    24. »Es hat mich in der Seele froh gemacht.« Das Kanzelwort nach der Denkschrift.

    25. »Kirchenzucht« und Unfall bei Nacht und Nebel.

    26. Krankenhaus in Simmern. »Kanzelholz ist gesund.« Haft in Koblenz.

    27. Hitler hat in der Kirche Christi nichts zu sagen. Der Knochenflicker von Odernheim.

    28. Zweisames Glück – einsame Not. Baden-Baden und Eschbach.

    29. »Ich kann es tragen und will es auch, weil ich immer mehr auf Deiner Seite stehe.«

    30. »Ich weiß, dass er uns sehr lieb hat, aber doch nicht anders konnte.«

    31. Lernen, reifen, überwinden

    Station 5: Elberfeld 1940–1943

    32. »Der Vogel hat ein Haus gefunden und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen.«

    33. »Ich werde nun wohl nach Tübingen ziehen müssen.«

    Station 6: Tübingen 1943–1959

    34. »Wir sind noch einmal davongekommen. Pflüget ein Neues!«

    Die letzten zweiundfünfzig Jahre 1950–2002

    35. Gretel und ihre Kinder

    36. »Großi« und ihre Enkel

    37. Die Nahen und die Fernen

    38. »Der Prediger von Buchenwald«: Gretels Buch

    39. Zwischen Ost und West – Versöhnung statt Vereinnahmung

    40. Weimar: Gretels späte zweite Heimat

    41. Zuletzt

    Literaturliste

    Allgemeine Literaturangaben

    Bildnachweis

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Über den Autor

    PAUL DIETERICH (Jg. 1941) ist der Neffe von Gretel und Paul Schneider und befasst sich besonders mit der Frage, was Christen der »Bekennenden Kirche« uns heute sagen. Als Theologe und früherer Prälat ist er im Predigtdienst tätig, setzt sich für die Ökumene ein und arbeitet als Autor von Biografien. Er lebt mit seiner Frau in Weilheim a. d. Teck.

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    Vorwort

    Zu einem etwa achtstündigen Gespräch im »Häusle« in Dickenschied, das Margarete Schneider im Jahr 1959 gebaut hat, trafen sich am 28./29. Mai 2013 zwei ihrer Söhne, Karl Adolf und Ernst¹, mit mir, einem ihrer Neffen, dem Verfasser dieses Buches. Wir sprachen über ihre Mutter, über die Eindrücke, die ihre Söhne von ihr noch haben, und über die Frage, wie sie überhaupt zum Weg ihres Vaters, Paul Schneider, stehen, der in das KZ Buchenwald und dort zu dessen Ermordung am 18. Juli 1939 geführt hat. Wir sprachen auch über die Rolle, die seine Frau, ihre Mutter, Gretel² Schneider, dabei gespielt hat, ob sie ihren Mann nicht mit allem Nachdruck von diesem Weg hätte abbringen müssen und wie ihre Kinder später dazu standen. Und überhaupt darüber, welchen Sinn es habe, über das Geschick und die Haltung ihrer Eltern so viel später noch nachzudenken. Unser Gespräch diente der Vorbereitung von drei Vorträgen, die ich im Zeitraum vom 20. bis 22. September 2013 in der Evangelischen Tagungsstätte Löwenstein bei Heilbronn für die Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft e. V. hielt.

    Dabei kam es zu folgendem Trialog.

    Ernst:

    »Unsere Mutter war eine von vielen Frauen, die ein sehr schweres Leben glänzend gemeistert, die lehrbuchhafte Taten vollbracht haben, besonders Mütter für ihre Kinder usw. Aber: Mir ist es geradezu peinlich, dass unsere Mutter eine extreme Ausnahmestellung unter diesen verehrungswürdigen Frauen haben sollte. Deswegen habe ich eine Scheu, nach Löwenstein zu gehen. Das geht mir ganz gegen den Strich.«

    Karl Adolf:

    »Und Mutter fühlte eben auch die Verpflichtung, das Erbe und den Auftrag von Vater weiterzugeben.«

    Ernst:

    »Ich kann noch nicht einmal die Frage beantworten, ob sie es gut fände, wenn wir sie so hoch zelebrieren. Oder ob es ihr eher peinlich wäre. Ich neige dazu: halb, halb. Ich bin da ganz geteilt in meiner Meinung. Sie war ja ein bisschen extrovertiert. Aber Verehrung im Sinn von ›Du bist eine ganz große Frau‹, das hätte sie nicht gewollt. Respekt wollte sie haben, nicht Lobhudelei. Das wollte ich dir noch mitgeben auf den Weg. Die Mutter ist eine von Hunderten, von sehr vielen Frauen gleicher Kraft, gleichen Weges.«

    Karl Adolf:

    »Aber gerade für diese vielen Frauen steht das Schicksal einer einzelnen Frau.«

    Ernst:

    »Und gerade die jungen Leute müssen Vorbilder haben. Wenn sie das hergibt, ein Vorbild zu sein.«

    Paul:

    »Ein Vorbild ist für mich nie makellos. In der ganzen Bibel finde ich, etwa unter den Erzvätern und ihren Frauen, auch unter den Propheten, unter den Jüngern Jesu und den Aposteln, keinen einzigen makellosen Menschen. Heiligen- oder Heldenverehrung kennt die Bibel nicht. Wir Evangelischen haben aus gutem Grund die Heiligenverehrung abgeschafft. Nicht umsonst behandeln wir jetzt, in der Luther-Dekade³, bei Luther ungeniert auch die ganz dunklen Kapitel seines Wesens. Wir lernen von unseren Vorbildern nur, wenn wir an ihnen Licht und Schatten ohne Scheu wahrnehmen.«⁴ Warum habe ich mir die Mühe gemacht, mich mit dem Leben und Denken von Gretel Schneider zu befassen, ihre Briefe zu lesen, ihre Söhne und Töchter zu befragen, nicht wenige Menschen, die sie kannten, zu sprechen und ihr Leben zu beschreiben? Nicht nur deswegen, weil sie eine imponierende und dazuhin eine humorvoll sympathische Frau war. Sondern wohl auch darum, weil viele von uns – auch ich – eine reichlich maskuline Kirchengeschichtsschreibung gepflegt haben. Wir haben die mutigen Männer auch gerade des Kirchenkampfes im Dritten Reich geschildert, haben zwar ein paar lobende Worte für ihre tapferen Frauen übrig gehabt, aber viel zu wenig zur Kenntnis genommen, was ihre Frauen bei alledem mitgemacht haben, vollends dann, wenn sie wie Gretel Schneider Mütter zahlreicher Kinder waren. Vor allem haben wir nicht wahrgenommen, was sie nach 1945 erlebt haben, wie es ihnen mit ihrer nun ganz anders gearteten Umwelt ging.

    Freilich, wenn man auch nur ein wenig bedenkt, was viele Frauen und Mütter im Dritten Reich – in den Konzentrationslagern, auf der Flucht und auch in ihrer ganz normalen Umgebung – besonders am Kriegsende und in der Nachkriegszeit durchgemacht haben, dann steht man durchaus vor der Frage, ob es vernünftig und recht sei, eine Person so hervorzuheben. Aber sie steht für viele neben und hinter ihr, für deren Leid und deren Tapferkeit.

    So soll dieser Versuch, ein Leben zu beschreiben, an das Leben vieler Frauen erinnern, über die kaum je ein Wort verloren wird, als seien ihr Leiden und ihr Mut umsonst gewesen.

    Dieses Buch wäre freilich nicht entstanden, wenn nicht viele mir geholfen hätten, indem sie mir ihre Erinnerungen mündlich oder schriftlich mitgeteilt haben. Einige will ich hier besonders hervorheben: Gretel Schneiders Tochter Eva-Maria und ihren Mann Dr. Hans Vorster⁵, Gretels Söhne Hermann, Ernst und besonders Karl Adolf, der mir Zugang zu seinem Archiv verschafft und mir unter anderem ca. 500 Briefe gegeben hat, die teils an Gretel Schneider adressiert, großenteils von ihr selbst geschrieben waren und in denen sie ihr Erleben unmittelbar geschildert hat. Karl Adolf hat auch dieses Buch kritisch und sorgfältig durchgesehen. Herzlich danke ich Gretels Enkeln Paul Ulrich und Jürgen Schneider, Claudia Mofitt und Monica Schneider Bell in Kalifornien, nicht zuletzt für die Übersendung des Büchleins »Grandmother Remembers«, Dr. Constanze Schneider, Friederike Schneider und Bettina Schneider. Petra Schneider, die Witwe von Ernst, hat mir wesentliche Briefe aus Ernsts Kindheit und Jugend überlassen. Auch meinen beiden Schwestern Margarete und Katharina Gaier danke ich für ihre Eindrücke von unserer Tante Gretel. Ebenso meiner Nichte und Patentochter Dorothea Gaier für wertvolle Literaturbeschaffung und unserer Tochter Christina für die Beschaffung wichtiger Bücher. Ebenso meinem Schwiegersohn Bernd Rüdinger für sehr notwendige Hilfe am Computer. Auch Herrn Helmut Stepper und Frau Maria Burckhardt für wertvolle Informationen über Wildberg. Auch Frau Ruth Bender für ihre Erinnerungen an Gretel Schneider und ihrem Ehemann, Bürgermeister Karl-Wilhelm Bender, für Bücher über Dickenschied.

    Mein besonderer Dank gilt Pastorin i. R. Elsa-Ulrike Ross in Weimar, der Vorsitzenden der »Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft« e. V., deren Ehrenmitglied Gretel Schneider war. Sie hat mir nicht nur wertvolle Informationen über Gretel Schneiders Beziehung zu Weimar und besonders zur »Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft« gegeben, sondern hat mir auch wertvolles Bildmaterial verschafft. Der »Pfarrer-Paul-Schneider-Gesellschaft« danke ich auch für einen Druckkostenzuschuss. Besonders danke ich Gretels Enkel Jürgen Schneider, der mich sehr bestärkt hat, diese Biografie zu schreiben.

    Pfarrer i. R. Gerd Westermayer danke ich dafür, dass er eingehend und sorgfältig Gretel Schneider als Gemeindeglied in Dickenschied beschrieben hat. Und Paul Renkhoff für das, was er als Gretels Patenkind von ihr noch wusste.

    Frau Traudel Westermayer hat mir sämtliche Jubiläumsschriften des Paul Schneider Gymnasiums in Meisenheim überlassen, in denen ich lesen konnte, wie das Erbe Paul Schneiders dort wirksam wurde und welchen Einfluss darauf Gretel Schneider hatte.

    Dankbar bin ich meinen Eltern, Karl Dieterich und Luise, geb. Than, dass sie mir über alle die Konflikte, die Paul und Gretel Schneider in den Dreißigerjahren mit dem Dritten Reich hatten, von früh auf erzählt haben. Sie haben diese Kämpfe jeweils miterlebt und hatten auch später viel Kontakt zu Gretel. Ebenso Marie-Luise Dieterich – »Tante Mariele« genannt –, die auf meine Anregung einst die Geschichte der Familie Dieterich aus ihrem vertrauten Wissen heraus in einem Buch aufgeschrieben hat und die einen ganz wichtigen Teil des Lebens der Familie Schneider vor 1945 und nachher miterlebt und mitgestaltet hat.

    Ebenso danke ich Präses Joachim Beckmann und Präses Kurt Scharf, die mich einst in Ravensburg besucht und mir Wesentliches über den Kampf der Bekennenden Kirche und die Rolle Paul und Gretel Schneiders darin berichtet haben.

    Gern denke ich daran, wie Friedrich Hänssler mich immer wieder an die Aufgabe, das Leben von Gretel Schneider zu beschreiben, erinnert hat. Ich danke dem SCM Verlag dafür, dass er meinen Bericht in sein Programm aufgenommen hat. Frau Annalena Pabst als Lektorin für ihre gute Zusammenarbeit mit mir.

    Eine wesentliche Quelle war mir natürlich, was Margarete Schneider einst selbst im »Prediger von Buchenwald« berichtet hat und was, stark erweitert, als Buch im SCM Verlag erschienen ist.

    Vor allem danke ich meiner Frau Iris, dass sie mich immer wieder an diese Aufgabe erinnert und mir jede Hilfe dazu gegeben hat.

    Paul Dieterich

    Weilheim-Teck im Oktober 2018

    [ Zum Inhaltsverzeichnis ]

    1. Mutter Marie und Vater Karl, Pfarrer und Dichter zugleich

    Gretel, wie sie von Anfang an von ihren neun Geschwistern und bis ins hohe Alter von ihrer Familie genannt wurde, war zunächst vor allem die Tochter ihrer Eltern. Wir verstehen sie nur, wenn wir ihre Eltern und deren Lebensweg zur Kenntnis nehmen.

    Der Vater, Karl Dieterich, geb. 1856, hielt sich als Kind für einen verwechselten Prinzen. Denn in Wien am Kaiserhof hat am selben Tag wie er in Ludwigsburg eine Prinzessin das Licht der Welt erblickt, obgleich doch der Kaiser sich sehnlichst einen Sohn gewünscht hatte. Das Kind Karl in Ludwigsburg hat darüber nachgedacht, ob nicht der Storch bzw. das Engele, das in Pfarrhäusern solche Aufträge erfüllte, die beiden Kinder verwechselt und so die Fracht vertauscht habe.

    Karl lernte erst sehr spät sprechen, konnte beim Schulanfang kaum seinen Namen sagen. Umso mehr wurde er später ein nimmermüder Dichter, dem die Verse nur so aus der Feder flossen, und ein feuriger Prediger, dessen flammender Rede man sich kaum entziehen konnte. Und als er im höheren Alter, nach der schrecklichen Niederlage des Weltkriegs, sich der Ahnenforschung widmete, fertigte er säuberlich einen Stammbaum an, aus dem hervorgeht, dass sein Urururururururururgroßvater väterlicherseits, Daniel Lynker in Marburg, der Urururururgroßvater von Johann Wolfgang von Goethe war und dass sein Ururururururururururgroßvater mütterlicherseits, Johann Uschalk, Schultheiß in Pleidelsheim, der Ururururgroßvater von Friedrich Schiller war. Die beiden Geschlechter Goethe und Schiller kulminieren also in Karl Dieterich, der sich bescheiden einen Gelegenheitsdichter von Wildberg nannte. In ihm fließen die beiden Dichterströme zusammen und kommen zu ihrer letzten Vollendung. Man kann nur hoffen, dass die literaturhistorische Wissenschaft dieses Faktum auch einmal erkennt! Es ist keineswegs nur der in Weimar in Bronze gegossene Händedruck, der die beiden Geistesheroen miteinander verbindet, auch nicht ihre angebliche Seelenverwandtschaft, auch nicht, wie manche glauben, eine eigenartige Hassliebe: Endgültig verbunden sind sie durch ihren späten gemeinsamen Nachkommen, Karl Dieterich, Pfarrer und Dichter zugleich.

    Das sei erwähnt, damit der Leser von Anfang an weiß, dass Gretel, das zehnte Kind des Karl Dieterich und seiner Ehefrau Marie, geb. Rüdiger, einer Familie entstammt, die sich selbst, bei aller gebotenen Bescheidenheit, für, gelinde gesagt, ungewöhnlich hielt.

    Karl Dieterich war der Sohn eines in seiner Berufswahl aus der Art Geschlagenen. Waren doch alle Vorväter seit dem Dreißigjährigen Krieg Theologen, oder mindestens, wie sein Großvater, Kirchensenator. Karls Vater jedoch, Wilhelm, wurde Kaufmann in Ludwigsburg, hatte immer gern das Haus voller Gäste, war stets zur Hilfe für die Armen bereit, lebte großzügig und leutselig wie ein gesegneter Pfarrer, führte überhaupt seinen Kaufladen wie ein Gemeindehaus, mit der Folge, dass sein Bankguthaben stetig schmolz und die Konkurrenz sich nur freuen konnte. Spätestens seit diesem bankrottgegangenen Großvater wissen die Dieterichs, dass ihnen gar nichts anderes übrig bleibt, als Pfarrer zu werden. Sie können nichts anderes. Und den Töchtern der Familie kann man auch nur raten, tunlichst einen Pfarrer zu heiraten, was dann auch Gretel und fast alle ihre Schwestern getan haben.

    Ludwigsburg, das hieß für den Knaben Karl vor allem Soldaten und Siebzigerkrieg, Auszug der Todesmutigen zur Front, Begleitung mit Fähnchen und »Hurra« zum Bahnhof, Empfang der ruhmbedeckten Sieger, aber auch Pflege der herrlichen Helden, die ihre Wunden auskurierten. Und alles mit Militärmusik. Nichts war für den Buben Karl beglückender, als einem Militärmusiker das Notenblatt zu halten. Und die Militärstadt Ludwigsburg war für ihn zugleich deutsches Vaterland und Deutsches Reich. Wie hat er sein Vaterland und dessen Soldaten besungen:

    Sie alle zogen übern Rhein

    und jeder wollte der Erste sein

    und stürmten fort von Sieg zu Sieg …

    Mein Vaterland, wie bist du stark …

    Und dann »der kaiserliche Held« und Bismarck. »Mein Vaterland, wie bist du groß«.

    Dies schöne, starke, große,

    dies reiche Vaterland,

    schon in der Mutter Schoße

    liebt ich es unverwandt,

    im Lied hat man es oft geehrt,

    oft auf sein Wohl das Glas geleert.

    Manch edle Frau hat ihm ihr Gut,

    manch tapfrer Held geweiht sein Blut.

    Ihm bleib ich auch im Alter noch

    ein treuer Sohn, gleich tausend Brüdern,

    dem Deutschen Reich in Haupt und Gliedern,

    dem ich heut bring mein freudig Hoch!

    So trug es der Pfarrer vor beim Kriegerfest in Gomadingen-Offenhausen.

    Trotzdem war Karl nicht Offizier geworden, sondern Theologe. Denn wegen seiner Kurzsichtigkeit hat man ihn für wehruntauglich erklärt, was ihn tief gekränkt hat. Er hat damit eine Wunde empfangen, die er mit umso heftigerer Militärbegeisterung und mit umso grimmigerer Verherrlichung des Heldentodes zu kompensieren wusste.

    Der Heldentod des Vetters Ernst Leube! Die Leubes sind ja mit den Dieterichs gleich vierfach verwandt, da in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts in Ulm – nicht gerade auf einen Streich, sondern in wenigen Jahren nach und nach, einer fing damit an, die Brüder machten es ihm nach – vier Brüder Leube vier Schwestern Dieterich geheiratet haben. Der Onkel Max Leube und seine Frau, ein edles Offizierspaar, wie haben sie den Soldatentod ihres Sohnes in stolzer Trauer getragen. All das! Todesmutiger Soldat zu sein für Kaiser, Reich und Vaterland, das war für Karl Dieterich sein Leben lang die höchste Stufe sittlicher Bewährung.

    Was ist von seinem Studium in Tübingen zu berichten? Er war kein Stiftler⁸, sondern ein Einspänner. Normanne⁹ wurde er auch nicht. Die waren ihm zu vornehm. »Haltet euch zu den Niedrigen«, schreibt Paulus.¹⁰ Bier trank er pro Semester vielleicht ein Glas, sonst Sauermilch im Schwärzloch¹¹. Er schrieb versonnen Gedichte und hörte gern Johann Tobias Beck, den ebenso gelehrten wie frommen und bibeltreuen Systematiker, der vorher Pfarrer in Bad Mergentheim gewesen war. Sein Examen 1878 bestand er mit »zureichend III A«. Das war für Württemberg schon recht gut. II A gab es alle 50 Jahre einmal. Wer II B hatte, der trug den Prälatenstab im Tornister. I B oder gar I A gab es, wenn überhaupt, erst im Himmel. In Württemberg hingen die Trauben hoch. Karl Dieterich durfte nun Vikar werden.

    In Flein bei Heilbronn. Er habe da alsbald »übersteigerte religiöse Ansichten« bekommen, weiß seine Tochter Mariele¹². Sektiererische Elemente hätten ihn darin bestärkt, scheibt Marie, seine Frau. Die Methodisten hätten ihn gern gehabt, da sie spürten, dass er mit der Volkskirche nicht klarkam. Besonders die Konfirmation wurde ihm fragwürdig. Und überhaupt alles, was nach »Kirche ohne Entscheidung« roch. Welche Rolle in den Konflikten des Vikars die soziale Frage spielte, der Gegensatz zwischen einer vom König abgesicherten Kirche der Wohlhabenden angesichts der akuten Not der armen Leute auf dem Lande, das wird in den Berichten der Familie meist nur angedeutet. Man wollte ja nicht, dass der Vater womöglich in die Nähe der Sozialdemokraten gerückt würde. Er war doch nicht etwa subversiv wie Gustav Werner, vor dem das königliche Konsistorium gewarnt hat. Und der Vater habe ja doch später den Sektierern die Tür gewiesen und seine jugendliche Radikalität gegen Mutter Landeskirche revidiert. Immerhin wird berichtet, dass er – doch wohl während seiner Predigt über das Wort Jesu »Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat«¹³ – seinen Talar ausgezogen und einer armen Frau gegeben habe: »Da, näh dir a Kleid davo.« Er habe eben ein Herz für die Armen gehabt, habe dann auch den Kirchenraum verschmäht, um – wie dreißig Jahre vor ihm Gustav Werner – in einer Feldscheune zwischen den Dörfern zu predigen. Stimmt die mündliche Version, nach der die Polizei ihm die Kirche verboten, womöglich gar versiegelt hat?

    Wenn später sein künftiger Schwiegersohn Paul Schneider, statt Vikar zu werden, zu Erich Schnepels Stadtmission nach Berlin abschweifte, den künftigen Schwiegereltern landeskirchenkritische Briefe schrieb und Vater Karl Dieterich ihm gegenüber die traditionelle Landeskirche vertrat, dann sollten wir jedenfalls damit rechnen, dass der Alte sehr wohl wusste, was den Jungen umtrieb. Nur eben: Er hatte das einst selbst durchgemacht und hinter sich gelassen. Und wenn Gretel damals, 1926, entschlossen war, wenn Paul Stadtmissionsprediger würde, fast ohne Verdienst, dann würde sie in Berlin das notwendige Geld durch Nähen verdienen, dann war sie in dieser Haltung durchaus die Tochter ihrer Eltern.

    Als der Streit des Vikars Karl Dieterich mit der Landeskirche zum Sieden kam, reiste aus Ludwigsburg seine Mutter an – es war ein heißer Sommertag –, um ihren Sohn als dessen Mutter auf den rechten Weg zum Frieden mit der Mutter Landeskirche zurückzubringen. Das misslang ihr ordentlich: Der Sohn ließ sich nichts sagen. Er hatte mit der Landeskirche gebrochen. Die Mutter regte sich schrecklich auf, eilte dann über Land zum Bahnhof. Unterwegs warf sie ein Herzschlag nieder. Der verzweifelte Sohn »saß am Straßenrand und hielt sie in seinen Armen, bis ein Wagen kam und sie ins Krankenhaus nach Heilbronn führte, wo man nur noch ihren Tod feststellen konnte«.¹⁴ Das Entsetzen war groß. Besonders bei Karl. Zu seinen Selbstvorwürfen kam noch der Vorwurf der Familie: Erst bricht er mit der Kirche, dann bringt er noch seine Mutter unter die Erde. Seine Braut, eine Pfarrerstochter aus Wittlingen bei Urach, »gab ihm ihr Wort zurück«.¹⁵

    Verständlich, dass der gescholtene Sohn gleich nach der Beerdigung der Mutter in Ludwigsburg das Elternhaus mied, obgleich sein Vater die Versöhnung mit ihm suchte. Aber er, nachdem er sich der Arbeit im Weinberg der Kirche verschlossen hatte, half Fleiner Freunden bei der Weinlese in ihrem Weinberg.

    Später schickte er der Mutter die Verse ans Grab:

    Dein stilles Grab, sonst hab ich’s bang gemieden,

    heut steh ich dort im Geist in ernster Stunde,

    voll Heimweh denkend jener Schreckensstunde

    da Du in Muttersorgen jäh geschieden.

    Doch nein, was stör ich Dir und uns den Frieden,

    was rühr ich nutzlos an so böser Wunde?

    Seine Entlassung aus dem Kirchendienst hat er nun vollends betrieben. Sie wurde ihm gewährt. Eine Wiederaufnahme im Fall seiner Rückkehr wurde nicht ausgeschlossen. Aber der Heilbronner Prälat Lechler sagte ihm zum Abschied die wenig tröstlichen Worte: »Ich glaube, der Teufel hat Sie schon in seinen Krallen.«¹⁶

    Der Abtrünnige suchte jetzt eine Stelle als Hauslehrer in Bayern. Er fand eine in Ungarn bei der adeligen Rittergutsfamilie von Geyer. Aber deren drei ungezogene Knaben, die er lehren sollte, sagten meist ein schlichtes »Ick mag nit«. Und da sie dabei die Mutter auf ihrer Seite wussten, setzte der neue Hauslehrer durch, dass die drei auf ein strenges Internat kamen, weg von der Mutter. Worauf er, Karl Dieterich, dann auf eigene Faust Ungarn erkundete, die wunderbare Stadt Ofen-Pest mit ihren Prachtstraßen. Stark beeindruckt hat ihn der heiße Nationalismus der Ungarn, weniger die »fast hündische Demut der Eingeborenen«.¹⁷ Es sei bezeichnend, dass es dort keine Sozialdemokratie gebe. Ganz negativ beschreibt er den Kapitalismus der Juden, die das Volk übervorteilen würden.

    »Die Juden haben alles in den Händen, nicht nur den Handel, auch Gewerbe und Handwerk … Zwischen elenden Ungarnhäuschen stehen wahre Paläste von Juden, mit christlichem Geld gebaut … Was mir besonders leid tut für dieses sein Vaterland glühend liebende Volk, ist das Unglück, dass es ein Raub der Juden ist.«¹⁸

    Dass Karl Dieterich sein Leben lang ein harter Gegner der Juden blieb, gründet nicht nur im traditionellen Antijudaismus der Kirchen, sondern auch in diesen Eindrücken, die er von Ungarn mitgebracht hat. ¹⁹

    Ungarn war nur ein kurzes Abenteuer im Sturm und Drang des Karl Dieterich. »Nach einem halben Jahr ging er geheilt und gern wieder in den Pfarrdienst.«²⁰ Die Landeskirche hat ihn nicht gerade umarmt wie der Vater den heimkehrenden Sohn im Gleichnis Jesu, sie feierte wohl auch kein Fest, aber sie nahm ihn wieder auf und er durfte erneut ihr Vikar werden. Zunächst in Oberboihingen, dann in Klosterreichenbach. Wie verstand er seinen Auftrag? Rückblickend schreibt er:

    »Ich erklärte an der Hand des Evangeliums, dass ein Prediger nichts anderes als Sündenvergebung zu bringen habe. Das könne er aber nur, wenn er durch das Schauen des Gekreuzigten und Auferstandenen frei geworden sei von jeglicher Menschenfurcht, wenn er göttlichen Frieden und göttlichen Geist habe, er müsse sich wissen als Gesandter des Herrn.«²¹

    Nach einem weiteren Vikariat in Engelsbrand wurde ihm am 2. September 1884 »vermöge höchster Entschließung«²² die Pfarrei Gomadingen im Oberamt Münsingen übertragen. Ende September zog er in Gomadingen auf.²³ Bald darauf traf er beim Pfarrkranz²⁴ in Münsingen die 19-jährige Pfarrerstochter Marie Rüdiger aus Bermaringen, eine hübsche und durchaus selbstbewusste junge Frau, die bei aller Schlichtheit ihres bisherigen Lebens auch eine Ader für das Literarische hatte. Er hat sich sofort in sie verliebt und nach wenigen Tagen um ihre Hand angehalten. »Merkwürdigerweise«, so schreibt sie, habe sie eingewilligt. »Sie hatte ihre erste Liebe schon hinter sich und sah es nun als Gottes Willen an, dieser Werbung Folge zu leisten, zumal Karl nichts Fremdes für sie hatte.«²⁵ Ihre Eltern waren hoch erfreut, der Vater Karls, Wilhelm Dieterich in Ludwigsburg, auch. Im Mai 1885 hat sie der Vater Rüdiger in Bermaringen auf der Ulmer Alb getraut. »Wo du hingehst, da will ich auch hingehen«,²⁶ hat der Kirchenchor gesungen. Und: »Nun schlafen die Vöglein im Neste«. Es war eine große Freude für die Gomadinger, dass sie nun diese sympathische junge Pfarrfrau bekamen. Nach einem gemeinsamen Besuch bei Gustav Werner, dem Sozialreformer in Reutlingen, der einst auch in Feldscheunen gepredigt hatte, lebten sich die beiden im Gomadinger Pfarrhaus ein. Marie Rüdiger wurde das Glück, auch die große Stütze im Leben des Karl Dieterich, der das schillersche »himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt« nie ganz hinter sich lassen konnte und der in kritischen Stunden von dem »Unstern« sprach, unter dem er geboren worden sei. Und vor allem: Marie wurde die Mutter ihrer zehn Kinder.

    Was wissen wir über Gretels Mutter, die bis zu ihrem Tod im Dezember 1943 Gretels treue und immer tätige Stütze war, zu der ihre Tochter in etwa 300 Briefen so ziemlich alle Einzelheiten der Zeit ihrer Ehe mit Paul Schneider und der ersten Jahre danach niedergeschrieben hat? Es ist kein Zufall, dass Gretel, nachdem ihr Haus in Elberfeld von Bomben zerstört war, mit ihren sechs Kindern nach Tübingen zur Mutter zog.

    Was wissen wir von der Kindheit und Jugend der Marie Dieterich, geb. Rüdiger? 1937 hat sie auf 13 Schreibmaschinenseiten ihre Kindheit und Jugend beschrieben unter dem Titel: »Aus Mutters Jugendzeit«.²⁷ Ihr Leben bis zur Eheschließung war zwar längst nicht so spektakulär wie das ihres Mannes. Aber wie sie ihre Kindheit und Jugend beschreibt, das zeigt doch sehr viel von ihrer Wesensart.

    Liebevoll und farbig schildert sie ihr Kindheitsparadies in Pappelau auf dem Hochsträß, d. h. auf der Ulmer Alb, wo ihr Vater, Karl Rüdiger, Pfarrer war. Dorthin hatte er »sein um 15 Jahre jüngeres Bräutchen, Marie Schickhardt« – sie stammte aus der Familie des bedeutenden Baumeisters Heinrich Schickhardt (1558–1635) – geholt. Marie schildert geradezu ein Naturidyll mit blühenden Büschen, Kastanien, Blumen und zierlichen Rosenbäumchen, dem Dorfbrunnen, der Chaise und dem Bienenstand, den Nussbaumblättern, die sie als Taschentücher benutzten. In dieser Landpfarrhausidylle kam sie am 25. April 1864 zur Welt, als der Eltern »erstes Töchterlein«, das bald die Treppen zum Studierzimmer des Vaters hochkletterte und dort aus seinen Büchern Kirchen baute. Als zwei Jahre später ihr Bruder Ernst geboren wurde, war ihr Glück groß. Nun hatte sie einen ständigen Spielkameraden im Haus.

    Mit Vergnügen denkt sie an die Besuche der Familie in Blaubeuren, im Dekanat, wo eine Freundin ihrer Mutter sie erwartete, im Oberamt, wo die Frau des würdigen Oberamtmanns ihr das Stricken beibrachte. Oder im katholischen Dekanat, wo sie unter dem Bild des Bischofs Hefele etwas spüren konnte von der Einheit der Christen über alle Konfessionsgrenzen hinweg.

    Dass sie gelegentlich im Pfarrhaus hörte wie der Lehrer der Dorfschule Buben prügelte, störte ihren Frieden nicht. Als es in der Nacht plötzlich hieß: »Feurje, es brennt, wacht auf!« – auch das ging letztlich gut. Die Dorfbewohner bildeten eine Kette vom Brunnen zum Brandherd, reichten einander Ledereimer voll Wasser und konnten den Brand bald löschen. Honigwaben, Zwetschgen in Hülle und Fülle, Schnitzbrot, all das bestimmt ihre Kindheitserinnerungen.

    Und dann der Ruf: »’s gibt Krieg mit den Franzosen!« Der Lehrergesangverein in Blaubeuren singt zum ersten Mal »Die Wacht am Rhein«! Helle Begeisterung! Und Onkel Lukas, der als Reiterhauptmann in einem französischen Schloss hinter einer Geheimtür die halb verhungerte Familie des Schlossherrn fand. Er lud die Familie ein, doch wieder ihre Zimmer zu bewohnen, und schloss mit ihr Freundschaft. Was die Kinder, obwohl sie Franzosenfeinde waren, beeindruckte. Und das Lazarett, in dem preußische Offiziere lagen. Einer, der nur noch ein Bein hatte. Aus purem Mitleid gab die kleine Marie ihm einen Kuss. Er gab ihr ein Briefchen, für das der Vater ein goldenes Rähmchen kaufte. Offenbar hat die kleine Marie den Siebzigerkrieg von einer recht friedlichen Seite her kennengelernt. Und dann ein geschnitztes Kreuz, das sie in einer Lotterie gewann. »Das ist der einzige, aber auch der beste Gewinn meines Lebens.« Sie denkt zurück, sieht vor sich die Alpengipfel, die man bei bestem Wetter aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters sah.

    Mit scheuer Bewunderung erinnert sie sich an den Revolver, den der Vater gekauft hat, um gegen einen möglichen Überfall ausgebrochener »Turkos«²⁸ aus dem Ulmer Kuhbergverlies gewappnet zu sein.

    Herrlich im Jahr 1871 der Einzug der siegreichen Truppen in Ulm:

    »Alles war voller Fahnen und Girlanden, Soldaten mit Blumen besteckt, Sträußchen an den Spitzen der Gewehre. Die Pferde der Offiziere tänzelten, diese hatten auf ihren Säbeln Lorbeerkränze, immer regnete es Blumen auf sie herab. Auch wir warfen unsere Sträußchen, man schrie Hoch und Hurra!«

    Das Münster in bengalischem Licht, rot, grün, weiß. Ihm gegenüber ein großes Plakat mit einem Türken und einem Gedicht, das dem »Bruderherz aus Afrika« empfiehlt: »Kehr zurück zum Wüstenstrand/in dein liebes Vaterland«.

    Dann wurde der Vater nach Bermaringen versetzt. Zwar gefiel es der Mutter nicht, dass der dicke Wirt die Frauen immer »Frauenzimmerle« nannte, aber Sternblumen, Narzissen und Tulipan, Sichtrosen, Feuerlilien, Zentifolien mit ihrem herrlichen Duft gab es auch hier. Und das Kind Marie studierte auf dem Friedhof ergriffen die ausführlichen Grabinschriften auf den Grabsteinen früh verstorbener Mädchen und Frauen.

    Die große Aktion, die damals die Bermaringer und mit ihnen italienische Arbeiter beschäftigte, war die Albwasserversorgung. Jedes Haus hatte zwar einen ausgemauerten Brunnen, aber das Regenwasser, das sich in ihnen sammelte, war eine braune Brühe. Und dass der Vater jeden Morgen einige Gläser daraus trank, daran denkt Marie mit leichtem Grausen. Zur Einweihung der Albwasserversorgung kam der König persönlich. Marie lernte für diese Gelegenheit den Hofknicks, das ganze Dorf überschlug sich mit Festvorbereitungen. Doch obgleich König Karl zwar alle Blumen annahm und sie in seine Kutsche legte, war er kurz angebunden, und die Bermaringer schimpften nachher auf den unfreundlichen König.

    Schlimm war es für die Kinder, in umliegenden Gemeinden Brandkatastrophen zu sehen. In Tomerdingen, wo 50 mit Stroh bedeckte Häuser zerstört wurden. In Scharenstetten, in Asch, wo ganze Straßenzüge brannten und wo die Pfarrfamilie Rüdiger, da die Pfarrleute von Asch gerade abwesend waren, das Pfarrhaus ausräumte, um Möbel und noch einigen Hausrat zu retten. Erst beim Wiederaufbau des Dorfes wurden die Häuser mit Ziegeln gedeckt.

    Mit Liebe denkt Marie an die Brüder, die dann zur Welt kamen. An Fritzle, den der Vater zu Ehren des Kronprinzen Friedrich Wilhelm Fritz nannte. Und an ihr Brüderlein Karl, das mit einer Lähmung am Bein zur Welt kam. Sie und ihre Schwester Lina brachten sich und dem kleinen Bruder Schillers Glocke bei, die sie bald zu dritt auswendig konnten.

    Doch nach der »herrlichen Albfreiheit« kam die Zeit, in der Marie Rüdiger »ins Institut nach Korntal« musste. 120 »Töchter« zwischen sieben und 18 Jahren waren da. Die literarisch begabte Marie – der Vater hatte an langen Winterabenden oft Geschichtswerke vorgelesen – kam gut mit, besonders im Fach Religion. »Ich lernte so den Pietismus kennen, der mir vorher fremd war.« Auch den alten Blumhardt hörte sie in Korntal predigen. Die Mädchen hatten in Korntal viel zu lernen. Und Marie bedauerte, dass sie nur Französisch und nicht auch Englisch gelernt hat, dass auch ihr Klavierspiel bescheiden blieb. An ihre Konfirmation in Bermaringen und das dabei abgelegte Gelöbnis denkt sie mit Ernst zurück, bemerkt dazu gleich: »Aber ach, wie oft habe ich es gebrochen.« Noch ein Jahr blieb sie in Korntal. »Vor der Welt wurden wir dort immer gewarnt und kannten sie doch nicht – auch manches Schöne darin ist mir fremd geblieben.« Sie berichtet von ihrer stillen Liebe zu einem Vetter, der später Generalarzt in Ulm wurde. »Gottlob, dass ich nicht seine Frau wurde. Gott führte mich andere Wege.«

    Zu Hause hatte sie sich den Kirchturm »zum Träumen gewählt. Dort saß ich öfters in der Fensterluke mit dem Strickzeug, konnte gerade in unser Wohnzimmer hineinsehen, übersah aber auch die weite Ebene mit den prächtig wogenden Kornfeldern und sah den ziehenden Wolken nach, die sich in grotesken Gebilden türmten.« Gern denkt Marie an ihre Freundschaft mit der Nachbarspfarrertochter Anna Mohr, deren späterer Mann von ihnen beiden gesagt hat, sie seien die schönsten Mädchen vom ganzen Bezirk gewesen.

    Dann lernte Marie noch in der Frauenarbeitsschule in Ulm das Nähen, zugleich aber auch Französisch und eine freiere und städtischere Lebensart. Sogar ins Ulmer Theater kamen sie gelegentlich. »So wurde ich mit der ganzen Familie Leube-Dieterich²⁹ bekannt und befreundet, ehe ich meinen Mann kannte.« Wenn Marie mit einer Freundin sonntags zum Gottesdienst in das Münster ging, froren sie beide erbärmlich. Eine Heizung gab es im Münster noch lange nicht. »Der Hauch von den Leuten sah bei der Kälte fast wie Nebel aus.«

    Begeistert berichtet Marie vom 500-jährigen Münsterjubiläum im Jahr 1877. Vor allem vom prachtvollen Festzug, bei dem die Ulmer in mittelalterlichen Kostümen auftraten und die Geschichte der Freien Reichsstadt in Bildern dargestellt wurde. Manch Prominenter des Landes ließ sich da sehen. »Noch kann ich den Hofprediger und Dichter Gerok stehen sehen, mit seinen silberweißen Locken.« Das Fischerstechen, der Ulmer Spatz, der Schneider von Ulm, all das brachte der Pfarrerstochter aus Bermaringen Abwechslung. Und dass sie mit dem Vater, der Mitglied im anthropologischen Verein war, gelegentlich in eine Albhöhle kroch. Und dass sie mit ihm bei den Stiftungsfesten der oberländischen Burschenschaft Germania dabei war. Allerdings, »das Vergnügen war mäßig, ich konnte ja nicht tanzen mit den Tübinger Germanen.« Auch dass sie gelegentlich von Ulmer Verwandten zu den Familientreffen auf dem Schlösschen Klingenstein über dem Blautal geladen war, daran denkt Marie gern. Am Rande erzählt sie, dass ein junger Vetter, der aus Stuttgarter Hofkreisen kam, sich in sie verliebte. »Aber ich wusste wohl, dass ich in seine Kreise nicht passen würde, und so mussten wir verzichten – es reute mich nicht. Er kam als Attaché auf den Balkan.«

    Schließlich nahm der Böttlinger Pfarrer Hermann Dieterich, mit dessen Frau, einer Schottin, Marie befreundet war, sie mit auf einen Pfarrkranz in Münsingen.

    »Ich kam neben dem Pfarrer von Gomadingen zu sitzen, der kürzlich dort aufgezogen war. Wir kamen ordentlich ins Gespräch über die gemeinsamen Ulmer Verwandten. Und das hat ihm so einen Eindruck gemacht, dass er nach einigen Tagen mit seiner Schwester nach Böttlingen kam. Wir kamen auch noch in Münsingen zusammen, wo er mir seine Liebe erklärte und mich bat, seine Frau zu werden. Es gab für mich einen Kampf zu kämpfen. Doch sagte ich ›ich will mich nicht mehr selber führen‹ und sah es als Gottes Willen an und sagte Ja. Es war ein inhaltschweres Ja, das spätere Leben hat es bewiesen, doch mit Gottes Hilfe ist es gegangen durch gute und böse Zeit.«

    Von ihren Eltern schreibt Marie: Sie »waren erfreut, doch wäre es besser gewesen, sie hätten den Schwiegersohn vorher näher kennengelernt.« Sie hätten nicht die Freude gehabt, ihren Karl öfter zu sehen. Sie seien aufs Briefeschreiben angewiesen gewesen, »und Karl in seiner idealistischen Art hielt mich für viel vollkommener als ich war; so gab es nachher manche Enttäuschung.«

    Die Hochzeit wurde im Mai 1885 gefeiert. Dankbar denkt sie daran, wie der Vater und die Geschwister Karls ihr überall entgegenkamen. Die Hochzeitsreise machten sie mit der Kutsche über die Alb nach Laichingen.

    »Am anderen Tag war der festliche Einzug in Gomadingen. … Dort im stillen Albdorf erlebten wir einige glückliche Jahre.

    Ich musste viel lernen. Auch der Kindersegen stellte sich ein und beglückte mich. Es gab zwar da auch mit Gottes Hilfe manche Not zu überwinden.«

    Sie beschließt ihren Bericht mit den Worten:

    »Gott sei Lob und Dank für alles Erleben im Ehestand, es brachte mich näher zu Ihm. Er schenke mir auch um Christi willen ein seliges Ende, nachdem der Genosse meiner Wanderschaft nun schon über zehn Jahre auf dem Weilheimer Friedhof ruht.«

    Karls Frau Marie wurde nicht zuletzt die Mutter seiner und ihrer zehn Kinder, von denen Karl³⁰ das neunte und Gretel das zehnte war. Liest man die Namen ihrer zehn Kinder, die fast jährlich nacheinander kamen, so kann man sich wohl gar nicht vorstellen, was es ihre Mutter Marie Kraft und Mut gekostet hat, all diese Kinder zur Welt zu bringen und ihnen allen die hilfreiche und zugewandte Mutter zu sein, die sie auf ihren Wegen brauchten: Johanna (geb. 1887), Martha (1888), Konrad (1889), Marie-Luise, im Unterschied zur Mutter genannt »Mariele« (1890), Ernst (1892), Wilhelm (1893), Elisabeth (1895), Antonie, genannt »Toni« (1897), Karl (1900), Margarete, genannt »Gretel« (1904). Vor allem die drei Rundbücher, in denen Briefe enthalten sind, die die Geschwister ihrer Mutter und einander zwischen November 1927 und Januar 1937 geschrieben haben, zeigen eindrücklich, wie die zehn Kinder an ihrer Mutter hingen, wie sie ihnen Halt und Mut gab und was sie ihnen auch noch später, als fünf bereits verheiratet waren und ihre eigenen Familien hatten, bedeutet hat.

    Seine sechs Töchter waren Karl Dieterich nicht zuletzt eine sehr willkommene Hilfe in den Kirchenchören, die er in jeder Gemeinde, in Gomadingen, Auenstein, in Wildberg und in Weilheim bei Tübingen alsbald gründete und mit denen er – »es geht net, aber es muss gehen! Fördern durch Fordern!« – die erstaunlichsten Werke einübte, wie etwa Schillers Glocke, vertont von Romberg³¹, oder Joseph Haydns »Sieben Worte Jesu am Kreuz«. Schon seiner ersten Tochter Johanna hat er im Taufgedicht³² gewünscht: »eine Stimm wie’s feinste Metall, dass sie eifrig sing um d’ Wett mit der Lerch und Nachtigall«.³³ Der Wunsch hat sich erfüllt, schon mit zwölf Jahren sang sie im Kirchenchor die anspruchsvollsten Partien. Ihr folgten auch die anderen Schwestern. Warum die Mutter sich dem Dirigenten entzog? Sie schreibt, für den Sopran sei ihre Stimme zu tief, für den Alt sei sie zu unmusikalisch gewesen.

    Die Gemeinde verfolgte die Großaufführungen ihres Pfarrers nicht immer mit der gebührenden Begeisterung, doch weithin tolerant. »Mr muoß am Pfarr sei Freid lau«³⁴, sagten die einen. Ein anderer schrieb, gar nicht tolerant, dafür anonym an den Pfarrer: »Spielen Sie künftig in der Kirche kein Theater!« Verständlich, dass das den jungen Pfarrer betrübt hat.

    Wie ging es Marie, geb. Rüdiger, in ihrer Ehe? Ihre Tochter Mariele drückt es so aus: »Unsere Mutter war eine glückliche und glücklich machende Frau, welche die idealen Sprünge ihres Mannes beobachtete und besänftigte.«³⁵

    Nicht zu vergessen: Amei! Anna-Maria Mauser, die »Pfarrmagd«³⁶, die schon in Gomadingen zur Familie stieß, die aufs Heirateten verzichtete und mit vollem Familienanschluss ihr Leben lang sozusagen die Zweitmutter der Kinder war. »Sie liebte uns und wir sie zärtlich. Sie war flink, fleißig und froh. Diese drei f behielt sie ihr ganzes Leben. Als Pfarrmagd hat sie alle Umtriebe in und außer dem Haus mitgemacht, aber nie etwas unnötig ausgeplaudert«, schreibt Mariele.

    Was hat der junge Pfarrer Dieterich in Gomadingen außer dem, dass er mit großem Einsatz gepredigt hat und seelsorgerlich tätig war, sonst noch gemacht? Weil der Schultheiß ein reicher Bauer und zugleich ein Freund der Juden war und »viele ärmere Leute ganz in ihrer Gewalt« waren, gründete er einen Darlehenskassenverein mit dem Wahlspruch: »Juden naus!«³⁷(!).

    Noch ein Ereignis ist bezeichnend für das Erbe, in dem dann später auch Gretel aufwuchs. Im Juli 1889 wurde den beiden Eheleuten Karl und Marie der lang ersehnte erste Sohn geboren. Wie konnte er nur heißen? Natürlich Konrad, nach dem großen Ahnherrn Konrad Dieterich, der »unser aller Vater« ist, der im Ulmer Münster überlebensgroß auf einer Säule zwischen Martin Luther und Paul Gerhardt steht, dessen gewaltige Folianten Karl kurz vorher von einem alten Verwandten bekommen hatte. Konrad nach dem großen Gelehrten, Scholarchen und Münsterprediger in Ulm, der 1580 geboren wurde und 1639, noch im Dreißigjährigen Krieg, gestorben ist.³⁸ Der seiner Familie den Wahlspruch mitgegeben hat »in silentio et spe«, in Anlehnung an das Wort »Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein« (Jesaja 30,15). Die Taufe nahte und – Pegasus stand immer gesattelt vor der Tür, schreibt Mariele – die Verse flossen nur so aus Karls Feder. Das ganze Heroenleben des Konrad Dieterich von der Wiege über seine Geisteskämpfe bis zur Bahre wurde in Verse gepackt. Und wer immer schon etwas hersagen oder vorführen konnte, der musste mitmachen und das Leben des großen Konrad vor der Wiege des kleinen Konrad darstellen. Wie dem jungen Professor in Marburg von dem Landgrafen – von einem von denen stammte er übrigens ab; aber das konnten viele von sich sagen – verboten wurde, Luthers Lehre zu bekennen. Wie er in die lutherische Hochburg Gießen floh. Wie er nach Ulm kam und dort eine zweite, eine wirklich lutherische Reformation durchführte. Wie er im Dreißigjährigen Krieg die Sache der Armen gegen den arroganten Stadtadel geführt hat und bereit war, notfalls für die rechte Lehre und rechtes Leben sein Blut zu vergießen. Vor dem schlummernden Säugling Konrad verkündet er:

    Ich seh schon, wie aus Grabes Nacht

    des frommen Meisters Geist erwacht

    und, durch des Enkels Mund zu zeugen,

    die Münsterkanzel neu besteigen.

    Doch, liebes Kind, wie Gott es fügt,

    so nimm es an und sei vergnügt,

    wenn nur, der Welt zu Nutz und Frommen,

    des Alten Geist auf dich gekommen.

    Seine Frau Marie schreibt dazu:

    »Dass nach diesen Plänen und Hoffnungen das tragische Geschick dieses Sohnes Konrad ein großer Schmerz, ja eine große Demütigung war, ist dem liebenden Vater nicht zu verübeln. Als Kind war Konrad sehr liebebedürftig und liebevoll, der Liebling aller. Später ein stiller und folgsamer Knabe.«³⁹

    Ein begabter übrigens, der Französisch und Englisch lernte, das »Maturum« fertigbrachte und hübsch zeichnen konnte. Aber in der Vorpubertätszeit bekam er epileptische Anfälle, die dann immer härter und häufiger auftraten und die sein Gehirn sehr schwächten. Um beim Gottesdienst die Gemeinde durch seine Anfälle nicht zu beunruhigen, durfte er schließlich die Predigten seines Vaters nur noch von der Sakristei aus hören.

    Waren die Anfälle Konrads tatsächlich eine Folge dessen, dass ihn auf dem langen Schulweg durch den Wald einmal ein Hund verfolgt hat und er nun immer mehr Angst hatte? Oder spielte auch der Druck der familiären Erwartung auf Konrad eine Rolle? Was wissen wir? Er war in der Familie nicht der Einzige, der sich mit diesem Erwartungsdruck auseinandersetzen musste. Mag sein, dass Gretel, das zehnte Kind, davon freier war.

    Halten wir fest, dass Gretel in eine Familie hineingeboren wurde, deren Leben zum einen durch das schwere Geschick des immer schwerer behinderten ältesten Sohnes Konrad, zudem aber auch durch einen gewissen Erwartungsdruck bestimmt war, der es den Kindern nicht leicht machte.

    Nach acht Jahren Gomadingen – »Schlehen im Oberland, Trauben im Unterland« – sehnte sich Karl Dieterich nach dem Unterland und seinen munteren geselligen Leuten. Ab August 1892 wurde er auf die Pfarrstelle Auenstein im Oberamt Marbach ernannt. Im Januar dieses Jahres war noch der Sohn Ernst geboren worden. »Hier werden Kinder geboren wie der Tau aus der Morgenröte«, sagte ein lediger Nachbarpfarrer über die Pfarrfamilie Dieterich.

    Der Abschied von Gomadingen war bewegend. Noch heute wird in der Ortschronik berichtet, dass bei der Abschiedspredigt des Pfarrers Dieterich einer der Zuhörer einen Schlaganfall bekam und starb. Der Abschied von diesem Pfarrer, seine flammende Predigt, war wohl zu viel für ihn. Karl Dieterichs letzte Amtshandlung in Gomadingen, noch nach der Abschiedspredigt, war es, diesen Mann zu beerdigen.

    Was die Zeit in Auenstein – 1892 bis 1900 – betrifft, so sei sie nur kurz erwähnt. Die Familie fühlte sich dort wohl. Der Vater war ständig zu Fuß unterwegs zwischen Auenstein und den Filialen Abstatt, Wüstenhausen und Helffenberg, die in drei verschiedenen Oberämtern lagen. »Da saust er wieder«, sagten die Kinder. Aber seine Frau Marie erlebte in Auenstein, so schreibt sie, den Sommer ihres Lebens.

    1893 wurde ein weiterer Sohn geboren. Er wurde nach Kaiser Wilhelm I. und nach Martin Luther Wilhelm Martin genannt. Angesichts der Tatsache, dass Wilhelm später der erste Sohn war, der gefallen ist, liest man das Taufgedicht, das sein Vater für ihn verfasst hat, mit einiger Gänsehaut:

    Deut ich richtig alle Zeichen,

    könnt es dir noch eben reichen,

    dass du, bis der Sturm bricht los,

    wirst ein Jüngling, stark und groß.

    Geb dir Gott, um zu vollbringen,

    was ich selbst nicht konnt erzwingen,

    zu des Vaters warmem Blut

    klugen Sinn und tapfern Mut.

    Dürft ich nur im heilgen Streite

    noch marschieren dir zur Seite,

    sehn, wie du durch kühne Tat

    niederwirfst die Drachensaat.

    Nationaler Protestantismus pur spricht aus diesen Versen. Wir Nachgeborenen sind nicht dazu berufen, darüber zu urteilen. Nehmen wir zur Kenntnis, was wir nicht verstehen, auch wenn es uns angesichts dessen, was später geschah, mehr als fragwürdig erscheint.

    Und dann Elisabeth, geb. 1895. Natürlich singt der Vater das hohe Lied der Elisabeth von Thüringen, die später Tante Mariele als Ahnfrau der Familie reklamiert hat.⁴⁰ Das Kind sollte leben lernen

    bei jener Fürstin, die himmlische Rosen

    unter die Armen des Landes verteilt,

    während die Tränen so reichlich ihr flossen,

    weil nichts der Seele Gebrechen ihr heilt.

    Bei jener Jüngrin, der stillsten im Lande,

    die den Gefangnen ein Engel erschien;

    wenn sie in schmucklosem Quäkergewande

    liebreich sie führte zum Sünderfreund hin.

    Auch in Auenstein ging

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