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Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes: Lebenserinnerungen eines deutschen Prager Juden
Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes: Lebenserinnerungen eines deutschen Prager Juden
Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes: Lebenserinnerungen eines deutschen Prager Juden
eBook866 Seiten11 Stunden

Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes: Lebenserinnerungen eines deutschen Prager Juden

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Über dieses E-Book

Arnold Schück, Sohn einer deutsch-jüdischen Prager Industriellenfamilie, lebte von 1897 bis 1974. Seine ganz privaten, persönlichen Erlebnisse umfassen somit die Spanne eines Dreiviertels des 20. Jahrhunderts. Ohne bekannte Ereignisse dieser geschichtlich so wechselvollen Zeit in den Vordergrund zu stellen, schildert er Begebenheiten seines Lebens quasi als Mosaiksteinchen der Geschichte in spannend und leicht zu lesenden Anekdoten. Kindheit und Jugend in der Kaiserzeit, 1918 bis 1939 Industrieller, in der NS-Zeit notgedrungen als Gebrauchsgraphiker tätig, 1944 Gestapo-Haft und KZ. 1945 Rückkehr nach Prag. 1963 Flucht aus der kommunistischen ČSSR über Österreich nach Deutschland, wo er mit seiner Gattin, der bekannten Bildhauerin Mary Duras, in Hamburg seinen Lebensabend verbringt. Die sympathische, heitere Erzählweise auch lebensbedrohender Situationen zeigt die unvorstellbare Willenskraft und den Optimismus des Protagonisten. Ein den Leser nachdenklich stimmendes Leben, in dem trotz allen Leids und aller Widrigkeiten – auch in Haft und als Flüchtling – nicht aufgegeben, sondern immer wieder neu angefangen wurde.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum30. Nov. 2015
ISBN9783960081739
Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes: Lebenserinnerungen eines deutschen Prager Juden

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    Buchvorschau

    Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes - Heidemarie Neuhold

    Arnold Schück

    (1897 – 1974)

    EIN MOSAIKSTEINCHEN DES HINTERGRUNDES

    Lebenserinnerungen eines deutschen Prager Juden

    Herausgegeben von Heidemarie Neuhold

    Engelsdorfer Verlag

    Leipzig

    2015

    Bibliographische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie;

    detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    Zweite überarbeitete Auflage

    Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

    Alle Rechte beim Autor

    Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

    1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

    www.engelsdorfer-verlag.de

    INHALT

    Cover

    Titel

    Impressum

    Vorwort

    Erster Teil = 1897 bis 1939

    GAUDEAMUS IGITUR, IUVENES DUM SUMUS

    Meine Entschuldigung oder ich wasche meine Hände in Unschuld

    Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes

    Der Lausbub

    Wenn einer eine Reise tut

    Eigentlich sollte ich schon erwachsen sein

    Peu à peu werde ich endlich ein Mann

    Die Geschichte dreier Malheure oder Pst! Darüber darf man nicht sprechen

    Dieses Kapitel hat keinen Titel

    Finis Austriae

    Das kurze Leben (in) der 1. Republik

    Zweiter Teil = 15. März 1939 bis Mai 1945

    DIE EINBAHNSTRASSE

    In der Mausefalle

    Meine Entwaffnung

    Teure Schlüssel zu zugemauerten Türen

    Von Helfern und Hyänen

    Großmutter zu günstigen Bedingungen abzugeben

    Das Kunststück zwischen drei Mühlsteine zu geraten

    Präludium in Moll – Diebstahl wird Gesetz

    Hoffnungen und Zweifel – In den Raub kommt System

    L i l y

    Der Mensch lebt nicht von Brot allein

    Eines trüben Septembermorgens gingen auf die Sterne

    Der große Fischzug oder Wer zuerst kommt

    Transporte – Transporte – Transporte

    Die Heydrichiade

    Birkenau, ein lieblicher Name – wo mag das wohl sein?

    Wie umsegelt man ein Riff – ohne Schiff?

    Ein weißer Rabe

    Es geschehen noch Wunder

    Wie man ins Wasser geht, ohne naß zu werden

    Zu Weihnachten statt Karpfen Wasserleichen

    … weil manchmal auch sein kann, was nicht sein darf

    Saure Bonbons

    Eine Seifenblase platzt

    Es platzt noch mehr

    Dem Klapperstorch ein Kontra

    Die Gans

    Hilflos zwischen Krebs und Hakenkreuz

    Der Schlüssel

    Der 6. Juni 1944

    Der 6. Juni 1944 (Fortsetzung) oder Wohltun trägt Zinsen

    Und der andere Schlüssel

    »Da hast du aber Glück gehabt«

    Das Empfangszeremoniell

    Meine erste Nacht hinter Kerkermauern

    Rhapsodie in mittelalterlichem Stil

    Ein Koffer, ein Photo und ein Gulasch

    Als der Kommissar bei schlechter Laune war

    Der General

    Mein Schutzengel

    Der Fall Metzger oder Wer Jude ist, bestimmen wir

    Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan

    Eine unwillkommene Beförderung

    Zwei Charaktertypen

    Die Ratte und der Cowboy

    Da muß etwas geschehen!

    Wenn zwei einander fürchten

    Welche Freude, welche Lust!

    Hindels, ein Ebenbild des Siegfried oder Herakles und dennoch rassenreiner Jud für die SS

    »Jetzt geht’s mit euch in den Wurschtkessel!«

    Virgil

    Die Vorhölle

    Intermezzo

    Inferno

    Dem Sensenmann entkommen

    Dritter Teil = Mai 1945 bis Februar 1974

    DIE STEEPLECHASE PRAG – WIEN – HAMBURG

    Auf der Suche nach Normalität

    Prager Wirklichkeiten

    Die Story, wie ich auf zwei Pferden gleichzeitig mit nacktem Hintern (n.H.) das »Große Derby« und die »Pardubitzer« ritt

    Ein aussichtsloser? Versuch

    In Freiheit! – Oder?

    Im Kampf gegen die Amtslipizzaner

    Mensch ärgere dich nicht!

    Warum einfach, wenn es kompliziert auch geht?

    Vitamin B wirkt immer

    Angekommen!

    Haben Sie schon gehört? oder: Wie meine Frau zu einem neuen Pelz kam

    ANHANG

    MODERNE KUNST – Vor dem Verfall?

    Ein sehr subjektiver Streifzug durch die Kunstgeschichte verfaßt um 1970 von Arnold Schück

    GLOSSAR

    VORWORT

    Arnold Schück, von seinen Freunden »der glückliche Europäer« genannt, – war hoch intelligent und gebildet, immer gut aufgelegt, hilfsbereit und hatte großes Verständnis für Menschen in Not. Seinen wundervollen, im besten Sinn des Wortes »Jüdischen Humor« hat er trotz aller furchtbaren Erlebnisse – wie durch ein Wunder – zeitlebens nicht verloren. Selbst entsetzliche, kaum vorstellbar grausame Situationen bekommen durch diesen Humor eine menschliche Färbung, wobei seine umfassende Bildung und seine künstlerische Veranlagung – manchmal auch in Form eigener Wortschöpfungen – immer wieder einfließen.

    Er kam in der Zeit der Monarchie als Sohn einer deutsch-jüdischen Industriellenfamilie in Prag zur Welt und will mit seinen Memoiren, die er mit dreiundsiebzig Jahren aufzuschreiben begonnen hatte, quasi als kleines Mosaiksteinchen den Hintergrund des Weltgeschehens ergänzen. Sein Leben (1897 – 1974) fällt in eine epochal geschichtsträchtige Zeit, in der große politische Ereignisse und Wandlungen stattfanden. Im Kontext mit der Weltgeschichte, die er immer wieder kurz anreißt, schildert er anekdotisch seine Lebenserinnerungen.

    Diese Schilderungen sind jedoch keine Schwarzweißmalerei, sondern zeigen, daß es immer und überall Einzelne oder Gruppen gab, die menschlich oder unmenschlich handelten.

    Leider war es dem Autor nicht gegönnt, seine Memoiren, die er als »Lebenserinnerungen eines Alltagsmenschen« bezeichnet, selbst zu beenden. Sowohl die Jahre 1919 bis 1938, als auch die Zeit in Prag von 1945 bis zur Flucht aus der kommunistischen Diktatur 1963, sowie die Erlebnisse danach in Österreich und Deutschland bis zu seinem Tod 1974, sind in sein Manuskript nicht mehr eingeflossen. Vor allem über die Ereignisse in Auschwitz konnte er auch noch nach Jahrzehnten nicht berichten. Nur einmal, kurz nach Kriegsende, hatte er seiner Gattin, der aus Wien stammenden Bildhauerin Mary Duras, von diesen furchtbaren Erlebnissen erzählt, später aber diese kaum mehr erwähnt. Die Künstlerin wollte die Lebenserinnerungen ihres Mannes ergänzen und zu Ende schreiben, aber leider blieb es nur beim Vorsatz. Sie starb 1982 vierundachtzigjährig in Graz.

    Im Nachlaß von Arnold Schück befanden sich zahlreiche Briefe und Notizen, an Hand derer wir uns entschlossen haben, die zeitlichen Lücken soweit als möglich zu schließen. Wir haben durch weitgehend wortgetreues Zitieren das Gesamtbild dieses außergewöhnlichen »Alltagsmenschen« fertiggezeichnet und möchten es als informatives und unterhaltsames, gleichzeitig aber auch aufklärendes Zeitzeugnis einem breiteren Leserkreis zugänglich machen. Leider war das durch verschiedene Umstände bedingt in den letzten fünfunddreißig Jahren nicht möglich, aber es scheint uns gerade in unseren Tagen wieder sehr wichtig, in Erinnerung zu rufen, was in einem Menschenleben an Schönem und Fürchterlichem – noch dazu so charmant formuliert – geschehen kann, wenn es die große Weltpolitik so will. Vieles hat sich seither verändert, vieles aber ist auch heute genau so aktuell wie seinerzeit.

    Wir haben bewußt die »alte« Rechtschreibung beibehalten, um das Werk möglichst authentisch im Stil des Autors zu belassen. Ausdrücke und Bezeichnungen, die im heutigen Sprachgebrauch selten oder unüblich geworden sind, wurden mit* gekennzeichnet und sind im Glossar erläutert.

    Graz, im Feber 2011

    Heidemarie und Fritz Neuhold

    Auch fünf Jahre nach dem ersten Erscheinen des Buches ist vieles in unseren Augen noch aktuell. Menschen werden zum Spielball der Politik, – müssen ihre Heimat verlassen und neu beginnen. Daher haben wir uns entschlossen, – auch durch äußere Umstände bedingt –, eine zweite redigierte Auflage herauszugeben.

    Graz, im Oktober 2015

    Heidemarie und Fritz Neuhold

    ERSTER TEIL

    1897 – 1939

    GAUDEAMUS IGITUR, IUVENES DUM SUMUS

    Meine Entschuldigung

    oder

    ich wasche meine Hände in Unschuld

    »Liebe gnädige Frau, Sie bestehen also wirklich und allen Ernstes darauf, daß ich meine Lebenserinnerungen niederschreibe?

    Nun, Ihr Wunsch ist mir Befehl, doch die Verantwortung tragen Sie! Ich will Sie dabei insofern wenigstens schonen, daß ich Ihnen aus dem ganzen Pudding womöglich nur die Rosinen und die Mandeln herausklaube – die süßen aber auch so manche bittere.

    Doch auch so empfinde ich das Ganze als eine große Chuzpe, denn schließlich kommt es nicht auf das Material an, sondern auch auf die Zubereitung – und da bin ich mir be … wie bitte? Ach so, Sie wissen nicht, was Chuzpe ist? Nun das ist ganz einfach. Chuzpe ist – ist –, nein Frechheit stimmt nicht genau – Unverschämtheit? – nein, auch das deckt sich nicht präzis.

    Über Frechheit und Unverschämtheit hat man das Recht sich zu ärgern. Chuzpe wirkt entwaffnend, da kann man nur lächeln. Chuzpe ist – eben Chuzpe! Jetzt weiß ich, wie ich es Ihnen erklären kann. Anhand von Beispielen! Also hören Sie!«

    Vor dem Krieg hatten wir in unserem Prager Büro eine Reihe von »Stammkunden«. Der Kassier hatte eine Liste mit deren Namen, Terminen und Zuwendungen. Die meisten dieser Schnorrer waren arme Teufel. »Prominente« hatten wir – soweit ich mich erinnere – nur drei.

    Nummer eins.

    Er war eine unter dem Namen »Haschile« stadtbekannte Figur. Wie er wirklich hieß, das – glaube ich – wußte zum Schluß nicht einmal er selbst. Er war eine lebende Karikatur und sah ausnahmsweise wirklich so aus, wie sich der kleine Moritz im »Stürmer« die Juden vorstellte – oder richtiger, sie dem deutschen Volk vorstellte. Dabei war er – nämlich Haschile und nicht der Stürmer – ein harmloser, guter und anständiger Kerl. Als er einmal im Winter wieder um seinen monatlichen Obolus kam, war unser Gesellschafter gerade im Schalterraum.

    Haschile erwischte die Gelegenheit beim Schopf und ihn beim Rockärmel: »Schaun Sie an, Herr Langendorf, in was für e dünnem, zerrissenem Röckel ich bei die Kälte herumlaufen muß!«

    Herr Langendorf hatte ein weiches Herz und half, wo er konnte: »Haschile, kommen Sie am Abend nach acht – Sie wissen doch, wo ich wohne – zu mir. Sie bekommen einen noch guten warmen Winterrock.«

    Nach einigen Tagen traf er bei schneidender Kälte Haschile auf der Straße – in seinem zerschlissenen Röckchen: »Aber Haschile, warum tragen Sie nicht bei dieser Kälte meinen Winterrock?«

    Haschile schüttelte den Kopf mit einem Blick vollen Vorwurfs gemischt mit Verständnislosigkeit: »Aber – Herr Langendorf! Kann ich!? Kann ich in so einem noblichten Rock herumlaufen und schnorren?! Wer gibt mir da schon etwas? Für den hat mir der alte Meisl – Sie kennen doch diesen Trödler in der Langegasse – bare sechzig Kronen gegeben!«

    »Sehen Sie gnädige Frau, das ist Chuzpe.«

    Nummer zwei: Hilsner.

    »Der hat bei Gott nichts mit Chuzpe zu tun. Sein Schicksal will ich Ihnen trotzdem erzählen, denn es machte Geschichte.«

    Um die Jahrhundertwende gab es wohl in der ganzen österreichisch– ungarischen Monarchie kaum einen Menschen – wenigstens unter den Gebildeteren – der den Namen nicht gekannt hätte. Sein Prozeß war so ein kleiner österreichischer Dreyfusskandal mit österreichischer Pseudogemütlichkeit. Damals wurde unweit des Städtchens Polna an der bömisch-mährischen Grenze die Leiche eines kleinen Mädchens gefunden. Es war wohl ein Lustmord. Da es jedoch kurz nach dem jüdischen Osterfest war, verbreitete sich schnell ein gezieltes Gerücht, daß es von Juden ermordet worden sei, die für ihre Osterbrote Christenblut benötigen. Solche Ritualmordmärchen waren seit Jahrhunderten besonders bei der Landbevölkerung nicht unerwünscht.

    Diese lebte zum großen Teil das ganze Jahr hindurch bis zur Ernte auf Pump* bei den jüdischen Getreidehändlern, kaufte auf Pump bei den jüdischen Gemischtwarenhändlern und soffen auf Pump bei den jüdischen Gastwirten, die meist auch Schnapsbrenner waren. Ergab sich nun mal so eine Gelegenheit zu einer Ritualmordbeschuldigung, so wurde die für die Veranstaltung von kleineren oder größeren Pogromen ausgenutzt, bei welchen dann gewöhnlich die meisten Schuldscheine verschwanden. Um die fragliche Zeit wurde in der Nähe des Tatortes der jüdische Hausierer Hilsner gesehen. Eine Schuld konnte ihm nie nachgewiesen werden. Soweit ich mich erinnere, wurde er aufgrund von Indizien zum Tode verurteilt und dann zu lebenslänglicher Haft begnadigt. Dieser Polnaer Ritualmordprozeß wirbelte viel Staub auf. Er war, wenn nicht der letzte, so einer der letzten Schandflecke der, in der daran nicht allzu armen Geschichte der menschlichen Dummheit und Bösartigkeit.

    Der Großteil der »christlichen Welt« Österreichs, aber auch über die Grenzen hinaus – vor allem in Bayern glaubte – (glaubte wirklich?) – an die Schuld Hilsners und der Juden von Polna. Vor allem die klerikalen Zeitungen Österreichs spieen Gift und Galle. In Böhmen standen sich in dieser Affäre zwei Männer gegenüber, die eine große Rolle in der tschechischen Öffentlichkeit spielten. Der eine, der mit aller Energie das Märchen vom Ritualmord verteidigte, war Dr. Baxa, Primator der Stadt Prag, ein bekannter tschechischer Chauvinist und Antisemit. Der andere, der mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln dagegen ankämpfte, war ein Mann, der immer – gleich Zola – sich unerschrocken für die Wahrheit einsetzte. Es war der Professor Thomas Masaryk, der später als erster Präsident der Tschechoslovakischen Republik Hilsner begnadigte. Dieser wurde als alter gebrochener Mann entlassen, angewiesen auf die Wohltätigkeit seiner jüdischen Mitbürger.

    Nummer drei: Herr Mandelbaum.

    Dieser war kein Bettler, sondern »Kunsthändler«. Seit ich ihm einmal unvorsichtigerweise eine Kleinplastik eines begabten jungen tschechischen Bildhauers, der leider jung starb, abgekauft hatte, ernannte er mich zum Kunstmäzen und Sammler. Er verfolgte mich mit Kunstwerken – schlechten, mittelmäßigen und manchmal sogar guten – von Kunst hatte er keine Ahnung. Einmal, als ich gerade ein dringendes Gespräch mit Rotterdam angemeldet hatte, steckte er seinen Kopf herein. Er hatte entdeckt, daß man, wenn man genügend flink war, durch eine Seitentür aus dem Schalterraum direkt ohne Anmeldung zu mir gelangen könne.

    »Herr Schef ich hab einen pikfeinen Kalvoda.«

    »Kalvoda interessiert mich nicht.«

    »Dann hab ich noch einen Nechleba!«

    »Auch Nechleba interessiert mich nicht.«

    »Es ist aber ein Galeriestück – eine aufgelegte Mezie*!«

    »Einen Nechleba habe ich schon und das genügt mir.«

    Und nach einer Weile energisch: »Herr Mandelbaum, heute kaufe ich überhaupt keine Bilder. Ich habe jetzt keine Zeit.«

    Und damit hatte ich geglaubt, ihn für diesmal los zu sein. Ich hatte Herrn Mandelbaum unterschätzt.

    »Also was würden Sie so brauchen können, Herr Schef?«

    Ich suchte seit Jahr und Tag vergeblich ein gotisches Aquamanile*.

    »Also wenn Sie ein Aquamanile auftreiben können, das würde mich interessieren – aber garantiert echt muß es sein!«

    »Natierlich kann ich! Ein ganz prima – was wollen Sie anlegen?«

    Ich staunte. Sollte er wirklich von einem echten gotischen – oder gar romanischen – Aquamanile wissen?

    »Nun, wenn es garantiert echt und schön ist, auch zweitausend.«

    »Was!? Ein echtes, prima Aqua … – es verschlug ihm anscheinend die Sprache – nein das ist unmöglich – ganz ausgeschlossen! Unter vier wird das bestimmt nicht gehen.«

    »Na schön, erst bringen Sie es mir und dann können wir uns, nachdem ich es gesehen habe, über den Preis unterhalten.«

    Herr Mandelbaum empfahl sich. Gerade als das Rotterdamer Gespräch kam, steckte er nochmals den Kopf herein: »Entschuldigen Sie Herr Schef, was is das eigentlich das Aquamandrill?«

    »Wissen Sie nun, was Chuzpe ist? – Und was ich da tue? Dafür tragen Sie die Verantwortung!

    I c h   w a s c h e   m e i n e   H ä n d e   i n   U n s c h u l d !«

    Ein Mosaiksteinchen des Hintergrundes

    »Ja, gnädige Frau, Sie haben mich überzeugt – es hat vielleicht doch einen Sinn, daß ich wenigstens einzelne meiner Erlebnisse niederschreibe.

    Memoiren schreiben im allgemeinen Persönlichkeiten, die das Weltgeschehen aktiv mitbestimmten (oder glaubten es mitzubestimmen) sowie Repräsentanten des Geisteslebens.

    Ein Mosaikbild wäre jedoch ein Fragment, wenn auf diesem nur die Figuren des Vordergrundes ausgeführt wären. Um ein vollendetes Bild zu schaffen, muß man auch den Hintergrund mit Steinchen ausfüllen. Ohne diese – ob sie nun je nach der Zeit eine eintönige Fläche oder ein vielfarbiges Mosaik bilden – wäre das Gesamtbild unvollständig. So will ich das Mosaikbild meiner so ereignisreichen Zeit mit kleinen, nur scheinbar unwesentlichen Steinchen des Hintergrundes ergänzen.

    Es werden also keine Lebenserinnerungen einer Persönlichkeit von allgemeinem Interesse sein, sondern ganz unwesentliche Erlebnisse eines Menschen, der eben vom Handeln (oder Nichthandeln) der Verantwortlichen – oder oft von verantwortungs- und skrupellosen Akteuren des Vordergrundes getrieben und geschoben wurde.

    So manche Memoirenschreiber, die im Licht der Öffentlichkeit stehen, wollen oft nur verewigen (wenigstens für wenige Jahre), was sie geleistet haben und erklären, warum sie dies oder jenes getan (oder unterlassen) haben, warum – meist natürlich durch das Verschulden anderer – dies oder jenes danebengeriet, wie sie (jetzt im nachhinein natürlich) alles vorausgesehen hätten und wie alles so ganz anders gekommen wäre, wenn sie gekonnt hätten, wie sie wollten, wie aber –, leider trotzdem –, nun eben weil –, und obwohl sie – es nicht in ihrer Macht gelegen war, daß – …

    Nun solche Memoiren sind – eben wegen ihrer Subjektivität – oft recht aufschlußreich, wenn man sie mit denen anderer Zeitgenossen vergleichen kann. Schließlich sind auch Persilmemoiren, wie zum Beispiel die gewesener Nazigrößen und anderer Verbrecher auch, ein guter finanzieller Abschluß der ansonsten verpfuschten Existenz.

    Ich will dagegen nur ganz ehrlich und naiv berichten, wie ich – so wie die meisten anderen Komparsen der Weltgeschichte – meist gar nichts voraussah und mir nicht bewußt wurde, was auf mich zukam, und selbst da, wo ich eine Ahnung der kommenden Ereignisse hatte, nicht den Mut und die Energie hatte – meist nicht einmal die Möglichkeit – mich aus dem Strom herauszuarbeiten und von diesem mitgerissen wurde.

    Die großen Weltereignisse, die ja allgemein bekannt sind, werde ich nur so weit – quasi als Koordinaten – berühren, als dies notwendig ist, um die Zusammenhänge mit meinen persönlichen Erlebnissen anschaulich zu machen.

    Im Laufe der Jahre schleifen sich die schärfsten Kanten, an denen man um Haaresbreite vorbeigekommen ist, ab. Bei einzelnen Erlebnissen verblaßt so das ärgste Grauen, bei anderen, fröhlichen verweilt man gern ein Weilchen länger, schmückt sie ein wenig aus – dichtet auch einmal gelegentlich etwas dazu. Doch das ist nur eine unwesentliche Kosmetik und alles hätte sich auch genau so abspielen können. Wenn es also so amüsanter ist, glaube ich hierzu berechtigt zu sein.

    Ich habe mir meine heitere Natur bewahrt, weil ich ja doch immer wieder selbst bei den ärgsten Saltos auf die Butterseite gefallen bin.

    Ich bitte Sie daher, gnädige Frau, mir zu glauben, daß ich alles eher in rosigen Farben geschildert habe – selbst dort, wo in der schwärzesten Finsternis das Rosa kaum noch durchscheinen kann. Ich glaube nicht, daß überhaupt jemand mit Worten das Gräßliche zu veranschaulichen vermag – ich bestimmt nicht, denn ich bin kein Dichter.

    Und nun schneiden Sie den Pudding an. Hoffentlich machen ihn die vereinzelten Rosinen und Mandeln etwas schmackhafter. Mahlzeit!«

    Der Lausbub

    Es gibt frühreife und spätreife Kinder. Ich bin ein sehr spätreifes, was durch die Tatsache bewiesen wird, daß ich dieses, mein Erstlingswerk jetzt mit dreiundsiebzig Jahren schreibe. Damit will ich aber nicht sagen, daß ich mich nun für reif halte. Man kann aber Lebenserinnerungen nicht gut mit achtzehn oder zwanzig schreiben – die wären meist recht unvollständig.

    Eines ist mir bei diesem Unternehmen vor allem peinlich: Es ist nicht gut zu umgehen, hierbei ständig von sich selbst zu sprechen, denn man ist ja nicht nur Subjekt, sondern in erster Linie das Objekt, von dem die Rede ist.

    Mit Rücksicht auf den Umstand, daß ich ein spätreifes Kind war, das noch dazu als Erstgeborener in der ganzen Familie von Mutter und Tanten – und zwar richtigen angeborenen Tanten als auch solchen, die sich diesen Titel erst durch ihr Verhalten erwerben mußten und daher um so richtigere Tanten waren – umhätschelt und verzogen wurde, verliefen die ersten Jahre meines Lebens ohne tiefere Emotionen und nennenswerte Erlebnisse. Immerhin – ich muß ein schreckliches Kind gewesen sein!

    Unser aller Leben verlief vor 1914 bis auf einzelne Ereignisse, die – wie der russisch-japanische Krieg und die Kriege auf dem Balkan und andere weniger augenfällige Geschehnisse – wie ein Wetterleuchten am fernen Horizont das Herannahen eines Gewitters anzeigten, friedlich und sorgenfrei. Wenn ich auch aus einzelnen Gesprächsfetzen meines Vaters mit seinen Freunden seine Besorgnis heraushörte, so war es für uns Kinder eine Selbstverständlichkeit – und das nicht nur für uns Kinder –, daß das Leben immer so weiter gehen würde.

    In meinem Gedächtnis blieben daher auch nur ganz vereinzelte Bilder ohne jeden Zusammenhang haften, meist ganz belanglose Szenen, und ist es mir rätselhaft, wieso gerade diese durch Jahrzehnte lebendig blieben. Später dann waren es allerdings – wenn auch ganz persönliche Erlebnisse – so doch solche, die charakteristisch für das Vorkriegs-Prag waren.

    Arnold Schück als Kind

    Von allen meinen Tanten war mir die liebste die »Tante« Olga. Sie war natürlich mit uns überhaupt nicht verwandt, sondern die Frau des Jugendfreundes und Gesellschafters meines Vaters, des »Onkels« Gustav Langendorf. Sie war eine kleine, zarte, seelengute, stille Frau, die nichts – nicht einmal ich – aus ihrem Gleichgewicht zu bringen imstande war. Dabei hatte sie sehr oft außer ihren eigenen Kindern Fritz und Trude, sowie dann später auch noch Käthe und Richard, uns – das heißt mich, meinen Bruder Willy und meine Schwester Marianne – am Hals.

    Die anderen Kinder waren allerdings im allgemeinen so ruhig und brav, wie es Kinder nur selten sind. Ich erinnere mich, – ich dürfte damals so um die fünf Jahre alt gewesen sein – daß ich ihr ihre neue weiße Schleiflackküche mit wahrer Hingabe und einem dicken Tintenstift bemalt habe. Häuser, Schiffe, Bäume, Blumen und Figuren und das auf jeder größeren freien Fläche wie Türen, Schubladen, Seitenwände, Vorderwand des Spültisches und so weiter. Meine Kunstwerke waren derart energisch durch den Lack in das weiche Holz eingegraben, daß es ein aussichtsloses Beginnen gewesen wäre, auch nur zu versuchen, sie zu entfernen. Sie werden bestimmt noch die Bilder der »Gegenstandslosen« überleben. Jede andere Hausfrau – besonders eine so gute wie Tante Olga – wäre in ein Jammergeschrei ausgebrochen, hätte geweint und gestöhnt und mich zum Teufel gewünscht, mich aber auf jeden Fall zumindest windelweich verprügelt. Nicht sie! Im Gegenteil; noch nach Jahren führte sie ihre Gäste in die Küche, um ihnen meine Kunstwerke zu zeigen und sie bewundern zu lassen. Dabei waren es ganz gewöhnliche typische Kinderzeichnungen, wie sie mehr oder weniger jedes Kind macht.

    Ich war natürlich auf diesen, meinen Erfolg besonders stolz. Vielleicht war dies auch der Anlaß, daß ich mich später weiter mit Kunst beschäftigte, malte und zeichnete, sodaß ich nach vielen Jahren dann sogar mir meinen Lebensunterhalt vorübergehend damit verdienen konnte. So dauerhafte Kunstwerke habe ich jedoch nie wieder fertiggebracht.

    Bevor ich zu einem Erlebnis ganz anderer Art komme, ist es notwendig, etwas über die damaligen Verhältnisse in Prag und deren historische Ursachen zu wissen. Böhmen war unter der Regentschaft der Přemysliden ein mächtiges Herzogtum und seit 1158 Königreich. Es erreichte seine größte Machtentfaltung unter Přemysl Ottokar II., der jedoch 1278 im Kampf gegen Rudolf von Habsburg fiel. Seit 1310 herrschten in Böhmen die Luxenburger, deren bedeutendster, Karl II. – als deutscher Kaiser Karl IV.- von seiner Mutter her Tscheche war und sich auch, als solcher fühlte. Er verlegte seine Residenz als deutscher Kaiser nach Prag, gründete da die erste deutsche Universität auf reichsdeutschem Boden, zog viele deutsche Gelehrte, Künstler, Handwerker und Kaufleute in die Stadt und brachte Kunst, Handel und Gewerbe zu großer Blüte. Unter seinem Sohn Wenzel IV. entstand infolge des Auftretens des Magisters Johannes Hus eine religiöse und nationaltschechische Bewegung, die nach dem Märtyrertod desselben zu den erbitterten Hussitenkriegen führte.

    Nach dem Erlöschen der Luxenburger Linie und meist ebenfalls ausländischen Herrschern kam Böhmen im sechzehnten Jahrhundert an die Habsburger. Die religiösen Gegensätze, verstärkt noch durch das nationale Moment, führten zum Prager Fenstersturz, dem Fanal des Dreißigjährigen Krieges, in dessen Verlauf Böhmen seine selbständige staatsrechtliche Stellung verlor. Nach der Schlacht auf dem Weißen Berg im Jahre 1620 wurde der utraquistische* Adel großenteils durch Hinrichtungen und Güterkonfiskation vernichtet.

    Auch die tschechische Intelligenz war heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Das geistige und wirtschaftliche Leben lag danieder. Von dieser Zeit an datiert der Haß gegen die deutschen und katholischen Habsburger, die wiederum die Tschechen als unzuverlässiges Staatselement unterdrückten. Die deutsche Sprache war die Amtssprache, die Kaiserresidenz war Wien. So vergingen rund zweihundert Jahre, bis mit Erstarken des Bürgertums auch das Nationalbewußtsein der Tschechen wieder aufflammte.

    Außer den sich bekämpfenden Tschechen und Deutschen gab es in Prag noch eine dritte Bevölkerungsgruppe: die Juden.

    Diese waren eine der ältesten Judengemeinden nördlich der Alpen. Die erste Nachricht über Prag verdanken wir einem spanischen Juden, Ibrahim, Sohn des Jakob, der im Jahre 906 seinen Reisebericht niederschrieb. Man kann annehmen, daß schon damals Juden in Prag ansässig waren. Bekannt und nachgewiesen ist eine Judengemeinde seit dem 11. Jahrhundert. Seit circa 1100 wurde sie auf dem Gebiet des späteren Ghettos angesiedelt. Sie muß recht reich gewesen sein, wie aus den Summen hervorgeht, die sie bei den regelmäßig wiederkehrenden Verfolgungen, Ausweisungen und Bestrafungen als Lösegeld aufbringen mußte. Diese Juden wurden – wie überall in Europa – von Deutschen und Tschechen in gleichem Maße verachtet und gelegentlich verfolgt und ausgeplündert.

    Erst das Emanzipationsgesetz von Josef II. befreite sie aus ihrem Ghetto, in dem sie in unbeschreiblich unhygienischen Verhältnissen zusammengepfercht leben mußten, und gab ihnen – wenigstens theoretisch – den Weg zu allen Berufen als gleichberechtigte Bürger frei. Tatsächlich mußten sich jedoch alle Offiziere und Staatsbeamten, wenn sie von einer bestimmten Rangstufe an weiter aufsteigen wollten, noch bis in dieses Jahrhundert hinein in der Monarchie taufen lassen. So auch ein Vetter meines Vaters, bevor er Generalstabsarzt werden konnte.

    Immerhin bedeutete das Emanzipationsgesetz Josefs II. für die Juden eine derartige Umwälzung ihrer Lebensbedingungen, daß sie aus Dankbarkeit für ihre Befreiung treue Anhänger der Habsburger wurden, von denen allein sie auch ihren Schutz erwarten konnten, und damit zusammenhängend auch Deutsche.

    Zuhause sprach man deutsch, die Kinder gingen in deutsche Schulen. Nur mit den tschechischen Dienstboten wurde tschechisch gesprochen, desgleichen beim Kaufmann und mit den kleinen Gewerbetreibenden, die Tschechen waren. Nur die in der böhmischen Provinz, wo ausschließlich tschechisch gesprochen wurde, lebenden Juden blieben ihrer Nationalität nach Tschechen. Alle Juden aber, deutsche wie tschechische sprachen beide Landessprachen fließend. Sie wären daher wie geschaffen gewesen, ein verbindendes Element zwischen beiden Nationen zu sein. Leider war dies nur in den seltensten Fällen möglich. Der seit Jahrhunderten künstlich gezüchtete Antisemitismus verhinderte es.

    Die Juden sind sehr schnell sowohl in Industrie, Handel und Finanzwelt als auch insbesondere als Rechtsanwälte und Ärzte hochgekommen und bedeuteten daher besonders für die Deutschen eine neue, ernst zu nehmende Konkurrenz. Die Deutschen 

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     daher Antisemiten. Die Tschechen verargten ihnen dem gegenüber ihr Deutschtum und ihre Habsburgtreue und 

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     daher – soweit sie es nicht bereits waren – Antisemiten.

    So schwellte der Antagonismus* zwischen Deutschen und Tschechen weiter fort. Der Zustand war jedoch latent und steigerte sich nur gelegentlich, wenn die Atmosphäre zu stark geladen war, zu Ausschreitungen und Tätlichkeiten. Oft begann es damit, daß deutsche Couleurstudenten, die zumeist keine Prager waren, sondern aus den Randgebieten Böhmens stammten, mit ihren farbigen Käppis und Bändern über den Graben – eine der Prager Hauptstraßen – zogen und deutsche Studentenlieder singend die tschechischen Passanten provozierten und oft sogar anrempelten.

    Die tschechische Reaktion richtet sich naturgemäß zuerst gegen die Ruhestörer. Sobald jedoch die Masse angeschwollen war und die meisten der Gegendemonstranten die Ursache gar nicht mehr kannten, schwenkte die Stimmung meist ganz irrational von den Urhebern gegen die Juden um, die von diesen chauvinistischen Studentenverbänden gar nicht als Mitglieder aufgenommen wurden! Das Paradoxe dabei war, daß die Juden, besonders die Intelligenz, auf der einen Seite für die Tschechen ein gewisses Verständnis, ja Sympathie empfanden, da diese – wenn auch nicht in dem Maße wie die Juden – ebenfalls durch Jahrhunderte unterdrückt worden waren und bis zum Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie de facto Staatsbürger zweiter Klasse waren.

    Andererseits war das deutsche Kultur- und Geistesleben in Prag ohne die deutschen Juden undenkbar. Waren doch von den Prager Dichtern, außer Rainer Maria Rilke, die bedeutendsten Juden, wie Hugo Salus, Max Brod, Franz Werfel, Franz Kafka, Oskar Baum, Egon Erwin Kisch, Paul Eisner und Willy Haas sowie Johannes Urzidil, ein Halbjude. Auch die deutschen Kulturinstitutionen, wie die deutschen Theater, die auf sehr hohem internationalen Niveau lagen, der Kulturverband, Kammermusikverein, der für seine Veranstaltungen die ersten Künstler verpflichtete, das »Deutsche Haus« am Graben, ein schönes Barockpalais mit Vortragssälen, Gesellschaftsräumen und einem Restaurant mit einem sehr schönen Garten wären ohne die finanzielle Hilfe und die rege Teilnahme an den Veranstaltungen durch das jüdische Publikum unhaltbar gewesen.

    Auch das tschechische Kulturleben hatte seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts im Einklang mit dem zunehmenden nationalen Bewußtsein einen ungeahnten Aufschwung erlebt. Prag war schon seit alters her ein Kulturzentrum gewesen. In der Architektur und der bildenden Kunst hatte es zwei Hochblüten gegeben.

    Die eine in der Gotik, die der Stadt ihr geheimnisvolles, düsteres Gepräge verliehen hat. Die andere im Barock mit seinen pompösen Kirchen und Palästen nebst einer Unzahl von reichen Bürgerhäusern. Während jedoch in der Gotik heute überhaupt nicht mehr feststellbar ist, welche – selbst unter den bedeutendsten Künstlern, wie der Wittingauer, der Hohenfurter Meister, der Meister der »schönen Madonna« aus Krumau – Deutsche oder Tschechen waren, und die Baumeister großenteils Franzosen und Deutsche (zum Beispiel Matthias von Arras und Peter Parler, die Leiter der Bauhütte des Domes), waren die Architekten des Barock ebenfalls zumeist Deutsche und sehr oft auch Italiener.

    Desgleichen die Bildhauer und Maler. Unter diesen war bereits eine Reihe von Tschechen, die jedoch ebenfalls noch keinen persönlichen tschechischen Stil in ihrem Schaffen erkennen ließen. Das gleiche gilt auch von der Musik, in der die Tschechen seit dem sechzehnten Jahrhundert eine Plejade* von oft sehr bedeutenden Musikern der Welt schenkten. Diese waren jedoch zumeist an ausländischen Höfen tätig, wie Stamitz Vater und Sohn, Franz Xaver Richter vor allem in Mannheim, die Bendas in Berlin und so weiter. Darauf dürfte es auch zurückzuführen sein, daß ihre Schöpfungen vom Zeitgeist ohne jede tschechische nationale Note geprägt waren.

    Erst in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts parallel mit dem Erstarken des Nationalbewußtseins, seit Jungmann (*Man darf sich durch den deutschen Namen nicht irreführen lassen! Jungmann war ein Tscheche ebenso wie eine Unzahl anderer Tschechen mit deutschen Namen. Dafür gab es und gibt es noch vor allem in Wien eine Unmenge von »Urwienern«, die teils richtige tschechische Namen, teils verhundste führen!) sein tschechisch – deutsches Wörterbuch, seine Geschichte der böhmischen Literatur herausgegeben, Milton, Schiller und Goethe ins Tschechische übersetzt hatte, entstand auch eine klassische tschechische Nationalmusik, die von Smetana über Dvořák, Janáček bis Martinů reicht, um nur die Bedeutendsten zu erwähnen, die zum Musikrepertoire der ganzen Welt zählen.

    Es gab natürlich auch viele Fälle freundschaftlicher geistiger Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen, vor allem deutschen Juden. Ich will, um nicht zu weitschweifig zu werden, nur zwei Beispiele anführen.

    Die fruchtbarste Zusammenarbeit entsproß der Freundschaft zwischen Leoš Janáček und Max Brod, der sich für diesen genialen, erst sehr spät anerkannten Komponisten, mit allen seinen Kräften einsetzte, seine Opern in die deutsche Sprache übersetzte und ihnen so zu internationalem Durchbruch verhalf. Es dürfte nicht allgemein bekannt sein, daß Brod auch selbst komponierte und unter anderem Gedichte von Franz Kafka vertonte. Er war daher dazu wie berufen, gesungene Texte aus dem Tschechischen, das sich im Sprachcharakter so grundlegend vom Deutschen unterscheidet, in diese Sprache sowohl rhythmisch als auch der Vokalisation gerecht so vollkommen zu übersetzen.

    Ein anderes Beispiel war eine Vereinigung von ursprünglich acht jungen Malern, die sich am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts (1907) zusammenschlossen, um gemeinsam Ausstellungen zu veranstalten, und sich die »OSMA« nannten, was auf Deutsch »die Acht« bedeutet. Es waren die Tschechen Emil Filla, Otokar Kubin (der sich nach seiner Übersiedlung nach Paris – vielleicht auch zum Unterschied von Alfred Kubín – Coubine schrieb), Bohomil Kubišta, Antonín Procházka, Emil Artur Pittermann-Longen (trotz seines deutschen Doppelnamens ein Tscheche), dann der deutsche Jude Friedrich Feigel und die Deutschen Willi Nowak und Max Horb, von dem ich nicht weiß, ob er Jude war oder nicht.

    Der Einzige wohl, der mir über diesen jung verstorbenen und verschollenen Maler Auskunft geben könnte, war Max Brod, der leider inzwischen gestorben ist. Brod hatte über diese Gruppe auch in ausländischen Zeitungen berichtet. Alle waren gute Freunde und gute avantgardistische Maler, wenn auch entsprechend ihrer Individualität recht unterschiedlich in Stil und Ausdrucksform.

    Heute sind bis auf Willi Nowak alle tot. Eine deutsche Kultur gibt es in Prag nicht mehr und so gut wie keine Juden, die als Kulturträger in Betracht kämen.

    In Prag blieben nur der Kommunist Egon Erwin Kisch, der »Rasende Reporter«, der zu seinem Glück vor dem Slánskýprozeß* starb, sonst hätte er wahrscheinlich das gleiche Schicksal erlitten, wie der Schriftsteller Simon (Simon Katz), der gehängt wurde. Ferner der Schriftsteller Paul Eisner, der dann nur mehr tschechisch schrieb, und zwar mit großem Erfolg. Auch er ist schon lange tot.

    Die Stadt selbst, in der ich geboren wurde, aufwuchs, und bis 1963 mit kurzen Unterbrechungen lebte, hatte zwei Gesichter. Das eine war die historische, herrliche, geheimnisvolle Stadt mit ihren engen, teils steilen Gassen und Gäßchen, Stiegen, die unter dunklen Torbogen durchführten, mit alten ehrwürdigen Bürgerhäusern, Palästen und Kirchen, mit ihren Brunnen und Heiligenfiguren auf verträumten Plätzen, die meist von Arkaden eingesäumt waren.

    Bei Nacht war alles in ein Halbdunkel gehüllt, vor allem die weiten Parkanlagen, nur von spärlichen Gaslaternen beleuchtet. Mitten durch die Stadt schlängelte sich das breite Band der Moldau, in der zahlreiche Inseln schwammen mit herrlichen alten Bäumen; sie war ebenso schmutzigbraun wie die »schöne blaue Donau«. Da war es schön, geheimnisvoll und doch gemütlich mit den unzähligen Bierlokalen und Weinstuben, wo man den urwüchsigen gutmütigen Humor des tschechischen Volkes, wie ihn Hašek in seinem Švejk am vollkommendsten repräsentiert, kennenlernen konnte.

    Das andere Gesicht war weniger schön, ja oft geradezu abstoßend grotesk. Es ist eigentlich unrichtig von einem »Gesicht« zu reden, denn ein Gesicht hatten diese Häuser, die um die Jahrhundertwende gebaut wurden, nicht. Sie waren in die Lücken, ja ganze Blocks der niedergerissenen baufälligen alten Häuser – vor allem auch des assanierten gewesenen jüdischen Ghettos – hinein gebaut. Die Gebäude wuchsen auch am Stadtrand weit hinaus und so verschmolz das alte eigentliche Prag mit den umliegenden Ortschaften, wie den königlichen Weinbergen, Karolinenthal, Smichov und so weiter.

    Zuerst war eine Pseudorenaissance bevorzugt. Das war noch nicht so störend. Dann aber ließen »geniale« Baumeister ihrer Fantasie die Zügel schießen und es kam mehr oder weniger gleichzeitig ein unverstandenes Barock – oft mit Jugendstilornamentik »modernisiert«, in Mode. Die Häuser wurden mit gotischen und romanischen Stilelementen, mitunter auch mit mehreren Stilen gleichzeitig, grotesk beklebt. Dafür waren die Wohnungen in diesen Neubauten meist sauberer, wohnlicher und sanitär mit allem Notwendigem ausgestattet.

    Wenn auch so das alte und neue Prag, nicht streng voneinander getrennt waren, es blieben doch ganze oder fast ganze historische Gebäudekomplexe und Straßen, vor allem auf der Kleinseite und in der Altstadt intakt, sodaß das Gesamtbild der Stadt nicht allzu sehr litt.

    Die ursprüngliche Hauptstadt Prag hatte das Recht auf Einhebung einer eigenen Lebensmittelsteuer, dem Akzis. Sie war daher bis 1918 von allen Vorstädten entlang der Parks durch ein Eisengitter getrennt und an den Straßenübergängen zwischen innerer Stadt und Vorstädten standen ganz abscheuliche Holzbuden, in denen Finanzbeamte wie Ameisenlöwen in ihren Gruben auf ihre Opfer lauerten.

    Egon Erwin Kisch erzählt in einer seiner wundervoll ausgefeilten Geschichten, wie er bei Nacht recht auffallend unauffällig an so einem Finanzhäuschen vorüberschlich mit einem zugedeckten Gefäß in der Hand. Wie erwartet schoß sofort ein Finanzbeamter, ein Opfer witternd, freudig heraus. Darauf fing Kisch an zu jammern: »Hab ich Pech!«

    Der Beamte riß das Papier herunter und steckte die Hand in das Gefäß, um sie schnell wieder fluchend herauszuziehen. Sie war schwarz von Pech. Kisch sagte ihm in liebenswürdigster Weise und einer Unschuldsmiene: »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich Pech habe!«

    Es würde sich lohnen, diese Geschichte – ebenso, wie eine Unzahl anderer – wörtlich wiederzugeben. Da würde man ein lebendiges Bild von Prag – besonders bei Nacht – gewinnen. Erstens aber will ich 

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     Erinnerungen schreiben und nicht Kisch abschreiben und zweitens habe ich Kisch’s Buch mit einigen tausenden anderer, an denen ich noch mehr hänge, in Prag zurücklassen müssen, hier nirgends mehr auftreiben können, so muß ich mich mit dieser unvollkommenen Wiedergabe begnügen.

    Der Prager Mittelstand wohnte in den erwähnten neueren Bauten, wobei von den Deutschen meist Smichov und Karolinental, von den deutschen Juden zumeist die Weinberge und die Neubauten des assanierten Ghettos, der Josefstadt, bevorzugt wurden. Natürlich galt dies nicht als unumstößliche Regel, es wohnte jeder, wo es ihm gefiel, da aber befreundete Familien nicht weit voneinander wohnen wollten, ergab sich das so von selbst.

    Unsere Familie und unsere Freunde wohnten meist in den Königlichen Weinbergen, einem höher gelegenen Stadtteil mit gesunder Atmosphäre. Das war also das Milieu, in dem wir Kinder aufwuchsen.

    Eines Tages ging meine Mutter mit mir – ich dürfte damals so um die vier Jahre alt gewesen sein – und mit einem Sportwagen, in dem mein um zwei Jahre jüngerer Bruder thronte, aus der Tyrschgasse, wo wir damals wohnten, zwecks Einkäufen die Grüne-Tor-Gasse hinunter auf den Wenzelsplatz. Kaum waren wir um die Ecke gebogen, als wir vom unteren Ende des Platzes eine schwarze Masse unter Gejohle sich uns entgegenwälzen sahen, gefolgt von einer Kette von Polizisten hoch zu Roß mit gezogenen Säbeln. Meine Mutter vollführte mit dem Kinderwagen blitzschnell eine Kehrtwendung von bewundernswürdiger Präzision und Schnelligkeit. Indem sie mich an der Hand herzog, rannte sie mit dem Sportwagen – eine großartige Sportleistung – die recht steile Grüne-Tor-Gasse wieder hinauf.

    Ich erklärte plötzlich, daß »ich müsse«! So stürzte sie in das nächste Haustor. Den Kinderwagen ließ sie im Hausflur stehen und klingelte im ersten Stock. Zuerst auf der einen Seite – vergebens – wohl, weil das Gejohle von der Straße her bereits recht deutlich zu hören war, da die Polizei die Massen in die Nebenstraßen abdrängte. Es waren auch bereits einzelne Rufe »Deutsche raus! Juden raus!« zu verstehen. Während ich von einem Fuß auf den anderen übertrat, erklärte mein lieber Bruder, der sich damals und auch später noch lange immer an mir ein Beispiel nahm, daß er auch »müsse«. Darauf läutete meine Mutter verzweifelt Sturm auf der anderen Seite. Wahrscheinlich wegen dieses Sturmgeläutes wurde da ebenfalls nicht geöffnet. So liefen wir ein Stockwerk höher und hier endlich hatten wir Glück. Nachdem meine Mutter stotternd und errötend ihre Zwangslage erläutert hatte, wurde bereitwillig auch noch eine weitere wesentlich kleinere Tür geöffnet. Ich atmete erleichtert auf. Für meinen Bruder war es jedoch bereits zu spät.

    In der Wohnung in der Tyrschgasse lernte ich Ernstl, einen um ein halbes Jahr jüngeren Jungen kennen, mit dem mich eine innige Freundschaft bis heute durch rund siebzig Jahre trotz räumlicher Entfernung verbindet. Auch seine Eltern wurden bald zu Onkel und Tante ernannt. Der Onkel Kellner war ein fideles Haus und stand, wenn auch augenblinzelnd so doch recht fest gemauert, unter dem Pantoffel der guten aber energischen Tante. Er war Mitinhaber einer Kokosläuferfabrik, arbeitete aber nicht mehr, als unbedingt nötig war, um seinen Traum verwirklichen zu können, sich mit fünfzig Jahren nach Wien ins Privatleben zurückzuziehen, was er auch im Jahre 1912 nach dem Verkauf seines Fabrikanteiles tat. Sein Vermögen reichte gut aus, um von dessen Ertrag, wenn auch bescheiden, so sorgenfrei in Wien leben und Ernst studieren lassen zu können. Er kam immer schon um fünf Uhr aus der Fabrik nach Hause und trieb dann mit uns Kindern allerhand Allotria, sodaß wir aus dem Lachen nicht herauskamen. Er war das gerade Gegenteil meines Vaters. Er war ein ausgesprochener Lebenskünstler, reichte jedoch in geistiger Beziehung und Tatkraft nicht annähernd an meinen Vater heran.

    Dieser lebte, ich glaube selbst im Schlaf in seinem Beruf und für seine geistige Weiterbildung. Er kam spät aus dem Büro und nach dem Abendessen saß er in seinem Herrenzimmer, wo er bis in die Nacht Fachliteratur und nationalökonomische Werke studierte. Er kannte aber auch seine Klassiker und eine Menge moderner – damals moderner – Literatur und philosophischer Werke.

    In seiner Bibliothek fand ich Schopenhauer, Nietsche, Bergson, unter anderem Kants »Kritik der reinen Vernunft«, allerdings war das Exemplar nur bis Seite vierundzwanzig aufgeschnitten. Sich da durchzuarbeiten, bedeutete ihm, voraussichtlich einen, denn doch nicht zu rechtfertigenden, Zeitverlust. Er hatte ja so viel anderes zu bewältigen – für ihn von wesentlich größerer Bedeutung. Wann er die Zeit dazu hernahm, das alles zu studieren und sich dabei auch noch für bildende Kunst und Musik zu interessieren, ist mir bis heute ein Rätsel geblieben.

    Er war mit sieben Jahren Vollwaise, lebte bei einer alten Tante, an die ich mich noch dunkel erinnere. Sie war wohl die dürrste Frau, die ich jemals gesehen habe – einschließlich der Frauen in Auschwitz. Ihr rundlicher Mann, der bei meiner Geburt bereits tot war und den ich daher nur mehr vom Hörensagen kannte, hatte in der Altstadt eine Gaststätte, mit der er jedes Jahr zumindest einmal übersiedeln mußte, wenn er nicht mehr imstande war, den Mietzins zu bezahlen. Er war ein gutmütiger Mann mit blauen Kinderaugen – laut Photographie in unserem Familienalbum –, der niemandem etwas abschlagen konnte.

    So war sein Lokal immer gesteckt voll mit Studenten aus dem nahegelegenen Carolinum, die meist die Zeche in den Kamin schreiben ließen, wo sie dann immer noch stand, wenn er inzwischen bereits zweimal und öfter das Lokal gewechselt hatte. Mein Vater hatte mit zwölf Jahren von allein auf dem Klimperkasten im Gasthaus Klavierspielen gelernt und mit vierzehn, als er dann in die Lehre kam, spielte er abends im Lokal zum Tanz auf.

    Mit siebzehn wurde er aus der größten Handschuhexportfirma Prags – die einem Onkel von Franz Werfel gehörte – gefeuert. Der Prokurist war schwer erkrankt und dieser siebzehnjährige Junge war der Einzige in der Firma, der dessen Agenda beherrschte und ihn vertreten konnte! Die Chefs bekamen vor ihm Angst, da sie in ihm bereits eine künftige, gefährliche Konkurrenz sahen – wohl nicht ganz zu Unrecht. So bekam er, sobald der Prokurist wieder hergestellt war, seine Kündigung. Durch diesen Umstand geriet mein Vater zufällig in die Mehlbranche.

    Mit achtzehn Jahren war er Prokurist bei der ersten Mehlfirma am Platz, mit einundzwanzig machte er sich selbständig. Er erfaßte jedoch rasch, daß in Prag ein Vertikalkombinat Dampfmühle – Brotfabrik – Verkaufskettenläden fehlte. Unermüdlich studierte er Chemie und Technologie des Getreides und seiner Verarbeitung. Er bereiste Deutschland und besuchte da vor allem auch in Wien die modernsten und größten einschlägigen Betriebe, sowie auch die Fabriken, welche die maschinellen Einrichtungen lieferten. Er studierte Statistiken, Tarife, Bodenbeschaffenheit und Qualität der Getreidesorten, die in günstig gelegenen Gegenden angebaut wurden. Er errechnete die notwendige – aber auch mögliche – Kapazität der Mühle, und das sowohl als Handelsmühle als auch für die benötigten Mengen der eigenen Erzeugung von Brot, Brötchen und sonstiger Teigwaren.

    Alexander Schück, Vater von Arnold Schück (1871 – 1935)

    Nun ging er daran, ein geeignetes Grundstück für das Werk mit entsprechender Erweiterungsmöglichkeit zu finden. Dieses mußte genügend weit vom Stadtzentrum sein, wo der Grund noch billig war und wo genügend Arbeitskräfte zu haben waren. Auch mußte es so liegen, daß es einerseits einen Bahnanschluß mit eigenem Abstellgeleise habe, andererseits so, daß am Morgen die Fuhrwerke noch rechtzeitig vor der Frühstückszeit die Verkaufsfilialen und Lebensmittelgeschäfte versorgen konnten. So wurden nach gründlichem Studium des Planes von Prag und Umgebung von meinem Vater Sonntagsausflüge meist in die häßlichsten Gegenden bis zu acht Kilometern von Prag entfernt unternommen. Diese »Spaziergänge« waren für uns Kinder, die wir brav in einer Reihe vor unseren Eltern in entsprechendem Abstand gehend machten, trotzdem sich unser Vater bemühte, uns zu unterhalten, ein Graus. Wir beteten daher immer schon am Samstag, daß es sonntags regnen möge, denn dann wurden wir bei Langendorfs abgeliefert. Onkel Gustav verstand es mit uns Kindern sehr gut – beinahe so gut wie der Onkel Kellner.

    Im Jahre 1912 war es endlich so weit, daß die Brotfabrik, die Odkolekwerke, festlich in Anwesenheit des kaiser-königlichen Statthalters von Böhmen, des Primators (Titel des Prager Bürgermeisters), des Prager Stadtkommandanten und anderer führender Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eröffnet werden konnte, wobei die Herren in Galauniformen und Fräcken durch die arbeitende Mühle und Brotfabrik schritten und nach entsprechender Bewirtung ohne ein Stäubchen auf ihrer Emballage* wieder ihre Equipagen* bestiegen. Das war damals eine große Sensation, über die alle Zeitungen große Berichte brachten. Gleichzeitig wurde das Stammhaus, das inzwischen das bedeutendste der Mehlbranche in Böhmen geworden war, weitergeführt. Dafür reichten die Kräfte meines Vaters zusammen mit denen des Onkels Gustav nicht – weder physisch noch finanziell. So liierten sie sich mit der größten Konkurrenz in Prag, Alfred Katz, zur Firma Schück, Katz & Co. Herr Katz wurde jedoch nie ein »Onkel«. Vor allem wohl deshalb, weil wir Kinder inzwischen dafür schon zu alt waren, dann aber auch darum, weil die Beziehungen unserer Eltern zu ihm nie so herzlich wurden, wie dies bei den Onkeln und Tanten Kellner und Langendorf der Fall war.

    In die Tyrschgasse waren wir übersiedelt, weil sich das große Ereignis meines Schulganges näherte. Es gab in Prag mehrere deutsche Volksschulen. Die von den jüdischen Kindern am meisten frequentierten waren die zwei katholischen! In der Innenstadt die der Piaristen, zu deren Schülern auch unter anderen Rainer Maria Rilke, Fritz Mauthner, Max Brod, Egon Erwin Kisch, Franz Werfel und Willy Haas gehörten. In unmittelbarer Umgebung von unserer Wohnung war es die des Waisenhauses zu Sankt Johann dem Täufer. Diese Schule hatte einen herrlichen Garten mit alten Bäumen. In beide Schulen kam einmal in der Woche ein Rabbiner, den jüdischen Kindern Religionsunterricht zu erteilen.

    Um diese Zeit tauchten in Prag die ersten Autos auf. Dieses Wunder, daß Fahrzeuge, ohne von Pferden gezogen zu werden, fuhren, beschäftigte uns Kinder in geradezu erregender Weise. Ich erfand daher sofort ein Spiel über dieses Thema.

    Im »Salon« wurden zu zweit hintereinander vier Stühle aufgestellt. In der ersten Reihe saß ich mit Fritz. Ich hielt eine große Stürze* vom Wäschetopf als Volant vor mich und machte prt – prt – prt –prt. Fritz hatte eine Kindertrompete an der Seite hängen und schrie töftöf töftöf. Vor uns stand der umgestürzte Kohlenkübel. Er war zwar leer, der Kohlenstaub jedoch, der am Boden geblieben war, bildete ein recht bemerkenswertes schwarzes Häuflein auf unserer »Fahrbahn«. In der zweiten Sesselreihe saßen stolz als »Herrschaften« Willy und Marianne, diese mit einem Schleier der Mutter um den Kopf gewunden. Willy mußte blasen, was seine Puste hergab, um ihn richtig zum Wehen zu bringen. Ganz hinten aber saß Trude auf einem Nachttopf mit einem Sack Mehl im Schoß. Ihre Funktion war neben der meinen die wichtigste – sie hatte eine doppelte Aufgabe: Erstens hatte sie für den Gestank zu sorgen und zweitens für den aufgewirbelten Staub der Landstraße. Sie bemühte sich redlich und war vor Anstrengung ganz rot im Gesicht, streute auch fleißig das Mehl mit ihren kleinen Händchen hinter sich auf den Perserteppich. Durch das Gebrüll kam meine Mutter voller böser Vorahnungen in den Salon gestürzt und fiel beinahe in Ohnmacht. Staubsauger gab es damals noch nicht, so mußte der Teppich in den Hof geschleppt werden und hatte das Mädchen viel Arbeit und auch viel zu niesen, ehe sie den schwarzen und weißen Staub herausbekam. Zu unserem Leidwesen konnte dieses so amüsante Spiel nie mehr wiederholt werden.

    Mit meinen Geburtstagen hatte ich Pech, waren wir doch immer im August auf dem Lande. Die Feiern waren daher kleinformatig. Geschenke gab es nur von den Eltern und die Post brachte eines vom Onkel Gustav. Wenn wir mit der Familie Langendorf zusammen wo gemietet hatten, was sehr oft der Fall war, so kam noch eine überdimensionierte Schokoladetorte von der Tante Olga hinzu, die sie eigens für mich buck. Schweren Herzens bewirtete ich mit ihr dann auch die anderen Kinder, alles andere als großzügig. Den ganzen Rest vertilgte ich noch am gleichen Tage. Die Folgen zeigten sich jedoch meist erst am nächsten Morgen.

    Bis zu meinem zehnten Geburtstag bekam ich immer einen neuen Matrosenanzug mit der Aufschrift auf der Mütze »S.M.Schiff Tegetthoff«. Auf dem dunkelblauen Stoff sah man jedes Stäubchen und ich wurde ständig zurechtgewiesen: »Schau dich an, wie du aussiehst!«, und schon wurde ich mit Bürste, Lappen und Benzin bearbeitet.

    »Gib doch acht auf deinen schönen Anzug!«

    Ich kam mir wie ein kleiner Junge vor und dabei war ich doch schon zehn Jahre alt! Mein Bruder bekam immer ebenfalls einen gleichen Matrosenanzug, damit es ihm nicht leid tue. So beschloß ich etwas zu unternehmen, um endlich einen Anzug wie ein Großer mit Taschen im Rock und Krawatte zu bekommen. Da ich ja lange auf diese »Überraschung« vorbereitet war, hatte ich mir auch schon einen Plan zurechtgelegt. Als der große Tag da war und die Pakete ausgepackt, sagte ich zu meinem Bruder: »Willst du Kasperl spielen?«

    »Ja! Wie macht man das?«

    »Das wirst du gleich sehen. – Bring mir eine Schere!«

    Rotes Seidenpapier hatte ich bereits von Weinflaschen beiseite geschafft. Nun schnitt ich in Kragen, Hosen und nach Entfernung des Gummibandes in die Bluse Zacken. Dann in Ärmel und Brust Schlitze, die ich mit dem roten Seidenpapier unterfütterte. Mein Bruder sah entsetzt zu.

    »Darf man das?«

    »Nein! Aber du wirst sehen, wie erstaunt die Mama sein wird.«

    Er schüttelte ungläubig den Kopf, aber seine Augen glänzten. Nun zogen wir die ganze Pracht an und schlugen Purzelbäume, wozu ich brüllte: »Hereinspaziert meine Herrschaften! Hereinspaziert! Soeben beginnt eine Extravorstellung zu ermäßigten Preisen der beiden weltberühmten Clowns Arno und Willy! Hereinspaziert!«

    Und hereinspaziert kam, von dem Lärm angelockt, nichts Gutes ahnend meine Mutter. Mit weitaufgerissenen Augen blieb sie stehen und brachte kein Wort heraus. Wunder, daß sie nicht in Ohnmacht fiel. Sie konnte einfach nicht glauben, daß es möglich war, so funkelnagelneue teure Anzüge vollkommen zu vernichten. Sie war äußerst sparsam und hat diesen Schock noch lange nicht verwinden können – aber einen Matrosenanzug bekam ich nie mehr wieder.

    Zu meinem nächsten Geburtstag bekam ich stattdessen mein lang ersehntes erstes Fahrrad. Wir waren mit der Langendorffamilie in Hirschberg am See in Böhmen in der Sommerfrische. Die Villa, welche wir gemietet hatten, gehörte der Mutter der Primaballerina von der Dresdner Oper. Als ich es ihr stolz vorführte, sagte sie nur: »Großartig – sogar Gummiräder hat es!«

    Nun kam das Problem an mich heran, es zu besteigen und fahren zu lernen. Wir wohnten an der wenig befahrenen Bezirksstraße am Ende des Städtchens, die nach Woken führte. Also kommandierte ich Willy und Fritz das Rad zu halten, während ich in den Sattel kletterte. Nun erangelte ich die Pedale und befahl meinen Assistenten, den Sattel festzuhalten und, während ich trat, mitzulaufen. Ich fühlte mich im Bewußtsein, daß sie mich hielten, vollkommen sicher. Nach einer geraumen Weile wurde mir bewußt – es mußten bereits gut zehn Minuten verflossen sein – daß ich ihnen wohl zu viel zugemutet hatte und kommandierte halt, hörte auch auf zu treten, das Rad fuhr aber dem Trägheitsgesetz folgend, aber auch wohl, weil die Straße mäßig bergab ging, ruhig weiter. Da wurde mir bewußt, daß ich schon eine geraume Zeit das Getrampel hinter mir nicht mehr gehört hatte. Ich war allein und verlassen auf meinem stählernen Roß. Zum Umdrehen war die Straße für meine Künste zu schmal, also fuhr ich langsam weiter und überlegte, was zu tun sei. Vielleicht kommt jemand, der mich auffängt und mir hinunter hilft. Ja, es kam jemand! Nach einer sanften Kurve war vor mir eine Viehherde von dreißig bis vierzig Kühen, die die ganze Straßenbreite einnahmen.

    Die Hirten waren hinten. Ich brüllte wie am Spieß, doch ehe einer sich vorgearbeitet hatte, war ich zwischen zwei Kühe hineingefahren, ließ die Lenkstange los und erwischte jede bei einem Horn. Lenkstange und Vorderrad kippten um, das Fahrrad landete unter der einen Kuh und ich hing brüllend in der Luft, bis mich einer der Männer befreite.

    Mein kostbares Geburtstagsgeschenk hatte eine derart groteske Form angenommen, daß ich es heute – hätte ich es aufgehoben – als moderne Plastik für schweres Geld verkaufen und mir dafür – nein, kein Rad – sondern ein Auto kaufen könnte.

    Später, ehe ich und mein Bruder in die Mittelschule kamen, übersiedelten wir in die Wohnung beim Weinberger Theater. Im Sommer vor der Entscheidung, ob ich das Gymnasium oder die Realschule besuchen solle, waren wir unglückseligerweise zufällig in der Sommerfrische zusammen in der gleichen Villa mit dem Direktor des Weinberger deutschen Gymnasiums. Trotzdem ganz offensichtlich mein Interesse und meine Begabung auf dem technischen Gebiet lagen und ich leidenschaftlich gern zeichnete, überzeugte dieser liebenswürdige und auch liebenswerte Mann meine Mutter, daß nichts über eine humanistische Erziehung ginge.

    So kam ich auf das Gymnasium am Tylplatz. Der Lehrplan ödete mich an, um so mehr als auch der Professor für Latein und Deutsch, den Hauptfächern der 1. Klasse, unser Klassenvorstand, es wunderbar verstand, den Unterricht so uninteressant und trocken zu gestalten, wie es wenigen anderen gelungen wäre! Wir hatten an den sechs Wochentagen acht Stunden Lateinunterricht! In der ersten Klasse lasen wir Cornelius Nepos von der zweiten an Julius Caesars »De bello gallico«.

    Das heißt besser gesagt wir lasen es nicht, um das Gelesene zu verstehen. Nein – die einzelnen Sätze wurden derart zerpflückt, die Satzkonstruktionen erklärt, die Worte abgewandelt und dekliniert, daß ich zum Schluß wußte, was der ablativus instrumentalis und die conjugatio periphrastica passiva war, jedoch keine Ahnung vom Inhalt auch nur eines Satzes, geschweige denn der ganzen Handlung hatte. Nicht viel anders war es in den Unterrichtsstunden der anderen Sprachen. Nur der Unterricht des Professors für Mathematik, Physik und Chemie interessierte mich. Auf die zwei Zeichenstunden wöchentlich freute ich mich, desgleichen auf die Turnstunden. In Geschichte interessierten mich die großen Zusammenhänge, Jahreszahlen zu stucken war ich zu faul. Auch der Geographieunterricht war uninteressant, schematisch nur aufgrund von Landkarten. Kein Landschaftsbild der exotischen Gegenden, der verschiedenen Städte wurde uns gezeigt – nur die geographische Lage, Bevölkerungszahl, Hauptprodukte des Landes und Ähnliches bekamen wir zu hören und mußten – respektive sollten – wir wissen.

    Da machte ich nicht mit. Die Folge war im ersten Semester der vierten Klasse ein Rekordzeugnis, wie es wohl im Weinberger Gymnasium nicht allzu oft ausgestellt worden war: Latein – nicht genügend, Deutsch – nicht genügend, Griechisch – nicht genügend, Geographie – nicht genügend, Geschichte – genügend, Mathematik – gut, Physik – gut.

    Der Professor sagte meiner Mutter, als sie mal jammernd in die Schule kam: »Ich kann dem Jungen kein ›sehr gut‹ geben, wenn er in allen anderen Gegenständen ›nicht genügend‹ hat.« Es geht nichts über Logik! Nur die Professoren der Nebenfächer Zeichnen und Turnen hatten den Mut mir trotzdem ein »sehr gut« zu geben.

    Merkwürdigerweise war das Donnerwetter meines Vaters beim Überreichen dieses einmaligen Zeugnisses nicht so überzeugend, wie ich gefürchtet hatte. Er erklärte nur, im 2. Semester müsse ich aus allen »nicht genügend« »genügend« machen, sonst setzt es was, es sei nur Faulheit, denn er wisse, daß meine Intelligenz reiche, um wesentlich bessere Resultate zu erzielen. Das sagte er so eindringlich und doch nicht unfreundlich, daß es auf mich entschieden mehr Eindruck machte, als eine Tracht Prügel.

    Wie ich dann nach Jahren erfuhr, hatten die Zeugnisse meines Vaters nicht viel anders ausgesehen, als das meine – trotzdem er kein spätreifes, sondern im Gegenteil ein recht frühreifes Kind gewesen war! Zu meiner Beruhigung konstatierte ich dann viel später auch noch, daß auch Newton, Bismarck, Einstein, Fontane, Werfel und Gott weiß, wer noch alles miserable Schüler gewesen waren. Was hätte da noch aus mir werden können! Wahrscheinlich ein Physiker wie Bismarck oder Staatsmann wie Einstein.

    Es interessierte mich dann viel später, was verschiedene meiner Bekannten – darunter recht bedeutende Männer – der Schule verdankten und was sie sich dann später aus eigenem Antrieb an Wissen erwarben. Zu meiner Genugtuung erfuhr ich, daß die meisten, außer ihrem auf der Hochschule erworbenen Spezialwissen, ihre allgemeine Bildung sich später in ihrer Freizeit angeeignet hatten. Vielleicht ist das jetzt besser geworden.

    Ich verdanke der Schule nur die Grundlagen, wie Schreiben, das kleine Einmaleins, etwas Naturgeschichte und vor allem eine Reihe von Rechtschreibfehlern, die ich mir nur schwer abgewöhnen kann. Durchgefallen bin ich aber nie. Ich habe die Worte meines Vaters beherzigt, büffelte etwas Vokabeln, machte die deutschen und tschechischen Hausarbeiten – allerdings meist in der Schule in der Vorstunde unter der Bank und zog in allen Gegenständen ein »genügend« auf.

    Allerdings hatte ich auch etwas Glück. Eines Tages brachte der Lateinprofessor die Schularbeiten des Vortages, setzte sich schweigend aufs Katheder und blickte dann von einem zum anderen, daß uns das Mark in den Knochen gefror, bis sein Blick mit einem merkwürdigen Ausdruck auf mir hängen blieb. Oje! – dachte ich – er hat gemerkt, daß ich von dem neben mir sitzenden Primus Bloch abgeschrieben hatte! Jetzt ist alles aus. Ich wurde immer kleiner, bis ich fast unter dem Pult verschwand. Da endlich brach er das Schweigen vor dem Sturm und legte los: »Es ist eine Schande – eine Schschande! Von allen Arbeiten ist nur eine einzige fehlerlos – eine! Und das noch dazu – nein, das verstehe ich nicht – die von Schück! Ausgerechnet vom Schück!«

    Er konnte sich gar nicht fassen – ich auch nicht. Ich hatte vom Bloch abgeschrieben – natürlich! Ich hatte aber, damit es nicht so auffällt, zwei Kleinigkeiten geändert. Und gerade ausgerechnet die waren bei Bloch falsch und ich hatte sie korrigiert, ohne es zu wollen, ohne es zu wissen. So kam der blinde Herr Hahn zu seinem Korn oder so ähnlich, wie das Sprichwort lautet.

    Mein Schulweg führte über den großen Platz, auf dem die Ludmillakirche steht. Wie er damals hieß, weiß ich heute nicht mehr. Wie er heute heißt ebenso wenig. Eine Prager Spezialität ist neben den hundert Türmen, den Prager Selchwaren der ständige Namenswechsel der Straßen und Plätze. So lange Smichov, Karolinenthal, Weinberge und so weiter eigene Städte waren, hatte jede ihre Palacký-, Jungmann-, Mánes- und so weiter Straße. Als sie mit Prag vereinigt wurden, entschloß man sich die meisten hiervon umzubenennen, um nicht in einer Stadt – wenn auch in verschiedenen Stadtteilen – die gleichen Namensbezeichnungen zu haben.

    Nach dem Ersten Weltkrieg wurden wieder alle Straßen, die nach alten Habsburgern benannt waren, umgetauft. Sie erhielten ihre Namen nach Politikern der jungen Republik oder auch denen von Generälen der Alliierten.

    Dann kam das Protektorat. Da mußten natürlich diese Namen alle wieder verschwinden. An ihre Stelle traten nun Namen der Nazihierarchie und sogar solche von deutschen Dichtern und Musikern. Die Letzteren hätten eigentlich nach 1945 bleiben können, wurden aber ausnahmslos wieder durch solche der tschechoslovakischen Demokratie ersetzt.

    1948, nach dem kommunistischen Putsch wurden alle diese Straßenschilder heruntergenommen und durch die, mit den neuen Machthabern ersetzt. Im gleichen Tempo, wie diese im Kreml abwechselten, folgten die Straßenumbenennungen. Von vielen dieser Russen hatten die meisten Prager keine Ahnung, wer das war und was für Verdiensten sie die Auszeichnung verdankten, auf Prager Straßenschildern verewigt – wenigstens für einige wenige Jahre – zu werden.

    Ein Beispiel für viele: Als ich klein war, hieß die Hauptstraße der Königlichen Weinberge Jungmannstraße, nach dem ersten Weltkrieg Fochstraße, während des Protektorats Schwerinstraße, nach 1945 Stalinstraße und nach der »Entstalinisierung« Weinberger-Straße, wohl um weitere Änderungen in Zukunft zu vermeiden. Wie man sieht, lernen Diktatoren mitunter sogar aus der Geschichte – wenn auch nur in solchen Nebensächlichkeiten!

    Wenn ich am Heimweg aus der Schule zusammen mit einem Schulkameraden, der zwei Häuser hinter dem unseren wohnte, auf den Platz vor der Kirche kam, warteten bereits an der Ecke einige tschechische Jungen, die aus der Bürgerschule kamen, welche in der nächsten Seitenstraße lag. Sie hatten um die gleiche Zeit Schulschluß und waren wegen des kürzeren Wegs etwas vor uns da. Es waren gewöhnlich fünf bis sechs Jungen, angeführt von einem großen, starken Buben, der uns fast um Kopfeslänge überragte und ein bis zwei Jahre älter war als wir. Wie sie unserer ansichtig wurden, fiel die Horde mit Geschrei »Jude! Jude!« über uns her. Wenn sie uns erwischten, wurden wir windelweich geprügelt. Wir rannten immer vor dieser Übermacht davon, was unsere Beine und Lungen hergaben, während ihre Schmährufe uns noch lange in den Ohren klangen.

    So lernte ich zum ersten Mal den Antisemitismus am eigenen Leib kennen. Damals am Wenzelsplatz hatte ich die

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