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Mit 5 PS
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eBook405 Seiten4 Stunden

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Über dieses E-Book

In diesem Sammelband von Kurt Tucholsky sind in 15 Kapiteln zusammengefasst 100 Kurzgeschichten zu finden. Der Autor thematisiert aus seiner Sicht und aus der Sicht seiner vier erfundenen Pseudonyme – also mit 5 PS – viele soziale und wirtschaftliche Themen seiner Zeit. Die Entwicklung der Städte und ihrer Bewohner spielt eine große Rolle sowie die Blindheit der Menschen gegenüber Veränderungen. Das sture Befolgen gesellschaftlicher Werte und Normen lässt die Menschen wie Marionetten erscheinen, die mit Scheuklappen durch das Leben gehen und sich steuern lassen, anstatt selbst zu denken zu beginnen.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum23. Dez. 2021
ISBN9788728015469
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    Buchvorschau

    Mit 5 PS - Kurt Tucholsky

    Kurt Tucholsky

    Mit 5 PS

    Saga

    Mit 5 PS

    Coverbild/Illustration: Shutterstock

    Copyright © 1928, 2021 SAGA Egmont

    Alle Rechte vorbehalten

    ISBN: 9788728015469

    1. E-Book-Ausgabe

    Format: EPUB 3.0

    Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

    Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

    www.sagaegmont.com

    Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

    Dem Andenken

    Siegfried Jacobsohns

    Gestorben am 3. Dezember 1926

    *

    Die Welt sieht anders aus. Noch glaub ichs nicht.

    Es kann nicht sein.

    Und eine leise, tiefe Stimme spricht:

    „Wir sind allein."

    Tag ohne Kampf — das war kein guter Tag.

    Du hasts gewagt.

    Was jeder fühlt, was keiner sagen mag:

    du hasts gesagt.

    Ein jeder von uns war dein lieber Gast,

    der Freude macht.

    Wir trugen alles zu dir hin. Du hast

    so gern gelacht.

    Und nie pathetisch. Davon stand nichts drin

    in all der Zeit.

    Du warst Berliner, und du hattest wenig Sinn

    für Feierlichkeit.

    Wir gehen, weil wir müssen, deine Bahn.

    Du ruhst im Schlaf.

    Nun hast du mir den ersten Schmerz getan.

    Der aber traf.

    Du hast ermutigt. Still gepflegt. Gelacht.

    Wenn ich was kann:

    Es ist ja alles nur für dich gemacht.

    So nimm es an.

    START

    Wir sind fünf Finger an einer Hand.

    Der auf dem Titelblatt und:

    Ignaz Wrobel. Peter Panter. Theobald Tiger. Kaspar Hauser.

    Aus dem Dunkel sind diese Pseudonyme aufgetaucht, als Spiel gedacht, als Spiel erfunden — das war damals, als meine ersten Arbeiten in der „Weltbühne" standen. Eine kleine Wochenschrift mag nicht viermal denselben Mann in einer Nummer haben, und so erstanden, zum Spass, diese homunculi. Sie sahen sich gedruckt, noch purzelten sie alle durcheinander; schon setzen sie sich zurecht, wurden sicherer, sehr sicher, kühn — da führten sie ihr eigenes Dasein. Pseudonyme sind wie kleine Menschen; es ist gefährlich, Namen zu erfinden, sich für jemand anders auszugeben, Namen anzulegen — ein Name lebt. Und was als Spielerei begonnen, endete als heitere Schizophrenie.

    Ich mag uns gern. Es war schön, sich hinter den Namen zu verkriechen und dann von Siegfried Jacobsohn solche Briefe gezeigt zu bekommen:

    „Sehr geehrter Herr! Ich muss Ihnen mitteilen, dass ich Ihr geschätztes Blatt nur wegen der Arbeiten Ignaz Wrobels lese. Das ist ein Mann nach meinem Herzen. Dagegen haben Sie da in Ihrem Redaktionsstab einen offenbar alten Herrn, Peter Panter, der wohl das Gnadenbrot von Ihnen bekommt. Den würde ich an Ihrer Stelle . . ."

    Und es war auch nützlich, fünfmal vorhanden zu sein — denn wer glaubt in Deutschland einem politischen Schriftsteller Humor? dem Satiriker Ernst? dem Verspielten Kenntnis des Strafgesetzbuches, dem Städteschilderer lustige Verse? Humor diskreditiert.

    Wir wollten uns nicht diskreditieren lassen und taten jeder seins. Ich sah mit ihren Augen, und ich sah sie alle fünf: Wrobel, einen essigsauern, bebrillten, blaurasierten Kerl, in der Nähe eines Buckels und roter Haare; Panter, einen beweglichen, kugelrunden, kleinen Mann; Tiger fang nur Verse, waren keine da, schlief er — und nach dem Kriege schlug noch Kaspar Hauser die Augen auf, sah in die Welt und verstand sie nicht. Eine Fehde zwischen ihnen wäre durchaus möglich. Sie dauert schon siebenunddreissig Jahre.

    Woher die Namen stammen —?

    Die alliterierenden Geschwister sind Kinder eines juristischen Repetitors aus Berlin. Der amtierte stets vor gesteckt vollen Tischen, und wenn der pinselblonde Mann mit den kurzsichtig blinzelnden Augen und dem schweren Birnenbauch dozierte, dann erfand er für die Kasperlebühne seiner „Fälle" Namen der Paradigmata.

    Die Personen, an denen er das Bürgerliche Gesetzbuch und die Pfändungsbeschlüsse und die Strafprozessordnung demonstrierte, hiessen nicht A und B, nicht: Erbe und nicht Erblasser. Sie hiessen Benno Büffel und Theobald Tiger; Peter Panter und Isidor Iltis und Leopold Löwe und so durchs ganze Alphabet. Seine Alliterationstiere mordeten und stahlen; sie leisteten Bürgschaft und wurden gepfändet; begingen öffentliche Ruhestörung in Idealkonkurrenz mit Abtreibung und benahmen sich überhaupt recht ungebührlich. Zwei dieser Vorbestraften nahm ich mit nach Hause — und, statt Amtsrichter zu werden, zog ich sie auf.

    Wrobel — so hiess unser Rechenbüch; und weil mir der Name Ignaz besonders hässlich erschien, kratzbürstig und ganz und gar abscheulich, beging ich diesen kleinen Akt der Selbstzerstörung und taufte so einen Bezirk meines Wesens.

    Kaspar Hauser braucht nicht vorgestellt zu werden.

    Das sind sie alle fünf.

    Und diese fünf haben nun im Lauf der Jahre in der Weltbühne" gewohnt und anderswo auch. Es mögen etwa tausend Arbeiten gewesen sein, die ich durchgesehen habe, um diese daraus auszuwählen — und alles ist noch einmal vorbeigezogen. . . Vor allem der Vater dieser Arbeit: Siegfried Jacobsohn.

    *

    Fruchtbar kann nur sein, wer befruchtet wird. Liebe trägt Früchte, Frauen befruchten, Reisen, Bücher . . . in diesem Fall tat es ein kleiner Mann, den ich im Januar 1913 in seinem runden Bücherkäfig aufgesucht habe und der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat, bis zu seinem Tode nicht. Vor mir liegen die Mappen seiner Briefe: diese Postkarten, eng bekritzelt vom obern bis zum untern Rand, mit einer winzigen, fetten Schrift, die aussah wie ein persisches Teppichmuster. Ich höre das „Ja —?", mit dem er sich am Telephon zu melden pflegte; mir ist, als klänge die Muschel noch an meinem Ohr. . . Was war es —?

    Es war der fast einzig dastehende Fall, dass dem Gebenden ein Nehmender gegenüberstand, nicht nur ein Druckender. Wir senden unsere Wellen aus — was ankommt, wissen wir nicht, nur selten. Hier kam alles an. Der feinste Aufnahmeapparat, den dieser Mann darstellte, feuerte zu höchster Leistung an — vormachen konnte man ihm nichts. Er merkte alles. Tadelte unerbittlich, aber man lernte etwas dabei. Ganze Sprachlehren wiegt mir das auf, was er „ins Deutsche übersetzen nannte. Einmal fand er eine Stelle, die er nicht verstand. „Was heisst das? Das ist wolkig! sagte er. Ich begehrte auf und wusste es viel besser. „Ich wollte sagen . . . erwiderte ich — und nun setzte ich ihm genau auseinander, wie es gemeint war. „Das wollte ich sagen, schloss ich. Und er: „Dann sags." Daran habe ich mich seitdem gehalten. Die fast automatisch arbeitende Kontrolluhr seines Stilgefühls liess nichts durchgehen — kein zu starkes Interpunktionszeichen, keine wilde Stilistik, keinen Gedankenstrich nach einem Punkt (Todsünde!) — er war immer wach.

    Und so waren unsere Beiträge eigentlich alle nur Briefe an ihn, für ihn geschrieben, im Hinblick auf ihn: auf sein Lachen, auf seine Billigung — ihm zur Freude. Er war der Empfänger, für den wir funkten.

    Ein Lehrer, kein Vorgesetzter; ein Freund, kein Verlagsangestellter; ein freier Mann, kein Publikumshase. „Sie haben nur ein Recht, pflegte er zu sagen; „mein Blatt nicht zu lesen. Und so stand er zu uns, so hat er uns geholfen, zu uns selbst verholfen, und wir haben ihn alle lieb gehabt.

    Wir beide nannten uns, nach einem revolutionären Stadtkommandanten Berlins, gegenseitig: Kalwunde.

    „Kalwunde! sagtest du, wenn du dreiunddreissig Artikel in der Schublade hattest, „Kalmunde, warum arbeitest du gar nicht mehr —? Und dann fing ich wieder von vorne an. Und wenn das dicke Couvert mit einem satten Plumps in den Briefkasten fiel, dann hatte der Tag einen Sinn gehabt, und ich stellte mir, in Berlin und in Paris, gleichmässig stark vor, was du wohl für ein Gesicht machen würdest, wenn die Sendung da märe. Siehst du, nun habe ich das alles gesammelt . . . Und du kannst es nicht mehr lesen . . . ,,Mensch! hättest du gesagt, „ick wer’ doch det sich lesen! Ich habe es ja alles ins Deutsche übersetzt —!

    Das hast du.

    Und so will ich mich denn mit einem Gruss an dich auf den Weg machen.

    Starter, die Fahne —! Ab mit 5 PS. —

    DORF BERLIN

    Affenkäfig

    Der Affe (von den Besuchern): „Wie gut dass die alle hinter Gittern sind —!"

    Alter Simplicissimus

    In Berlins Zoologischem Garten ist eine Affenhorde aus Abessinien eingesperrt, und vor ihr blamiert sich das Publikum täglich von nenn bis sechs Uhr. Hamadryas Hamadryas L. sitzt still im Käfig und muss glauben, dass die Menschen eine kindische und etwas schwachsinnige Gesellschaft sind. Weil es Affen der alten Welt sind, haben sie Gesässschwielen und Backentaschen. Die Backentaschen kann man nicht sehen. Die Gesässschwielen äussern sich in flammender Röte — es ist, als ob jeder Affe auf einem Edamer Käse sässe. Die Horde wohnt in einem Riesenkäfig, von drei Seiten gut zu besichtigen; wenn man auf der einen Seite steht, kann man zur andern hindurchsehen und sieht: Gitterstangen, die Affen, wieder Gitterstangen und dahinter das Publikum. Da stehen sie.

    Da stehen Papa, Mama, das Kleinchen; ausgeschlafen, fein sonntagvormittaglich gebadet und mit offenen Nasenlöchern. Sie sind leicht amüsiert, mit einer Mischung von Neugier, vernünftiger Überlegenheit und einem Schuss gutmütigen Spottes. Theater am Vormittag — die Affen sollen ihnen etwas vorspielen. Vor allem einen ganz bestimmten Akt.

    Zunächst ist alles still im Affenkäfig. Auf den hohen Brettern sitzen die Tiere umher, allein, zu zweit, zu dritt. Da oben sitzt eine Ehe — zwei in sich versunkene Tiere; umschlungen, lauscht jedes auf den Herzschlag des andern. Einige lansen sich. Die Gelausten haben im zufriedenen Gesichtsausdruck eine überraschende Ähnlichkeit mit eingeseiften Herren im Friseurladen, sie sehen würdig aus und sind durchaus im Einverständnis mit dem guten Werk, das da getan wird. Die Lauser suchen, still und sicher, kämmen sorgsam die Haare zurück, tasten und stecken manchmal das Gejagte in den Mund . . . Einer hockt am Boden, Urmensch am Feuer, und schaufelt mit langen Armen Nussreste in sich hinein. Einer rutscht vorn an das Gitter, lässt sich mit zufriedenem Gesichtsausdruck vor dem Publikum nieder, seinerseits im Theater, setzt sich behaglich zurecht . . . So . . . es kann anfangen.

    Es fängt an. Es erscheint Frau Dembitzer, fest überzeugt, dass der Affe seit frühmorgens um sieben darauf gewartet habe, dass sie „Zi—zi—zi!" zu ihm mache. Der Affe sieht sie an . . . mit einem himmlischen Blick. Frau Dembitzer ist unendlich überlegen. Der Affe auch. Herr Dembitzer wirft dem Affen einen Brocken auf die Nase. Der Affe hebt den Brocken auf, beriecht ihn, steckt ihn langsam in den Mund. Sein hart gefalteter Bauernmund bewegt sich. Dann sieht er gelassen um sich. Kind Dembitzer versucht, den Affen mit einem Stock zu necken. Der Affe ist plötzlich sechstausend Jahre alt.

    Drüben muss etwas vorgehen. In den Blicken der Beschauer liegt ein lüsterner, lauernder Ausdruck. Die Augen werden klein und zwinkern. Die Frauen schwanken zwischen Abscheu, Grauen und einem Gefühl: nostra res agitur. Was ist es? Die Affen der andern Seite sind dazu übergegangen, sich einer anregenden Okularinspektion zu unterziehen. Sie spielen etwas, das nicht Mahjong heisst. Das Publikum ist indigniert, amüsiert, aufgeregt und angenehm unterhalten. Ein leiser Schauer von bösem Gewissen geht durch die Leute — jeder fühlt sich getroffen. „Mama! sagt ganz laut ein Kind, „was ist das für ein roter Faden, den der Affe da hat —? Mama sagt es nicht. Mein liebes Kind, es ist der rote Faden, der sich durch die ganze Weltgeschichte zieht.

    In die Affen ist Bewegung gekommen. Die Szene gleicht etwa einem Familienbad in Zinnowitz. Man geht umher, berührt sich, stösst einander, betastet fremde und eigne Glieder . . . Zwei Kleine fliehen unter Gekreisch im Kreise. Ein bebarteter Konsistorialrat bespricht ernst mit einem Studienrat die Schwere der Zeiten. Eine verlassene Äffin verfolgt aufmerksam das Treiben des Ehemaligen. Ein junger Affe spricht mit seinem Verleger — der Verleger zieht ihm unter heftigen Arm- und Beinbewegungen fünfzig Prozent ab. Zwei vereinigte Sozialdemokraten sind vernünftig und realpolitisch geworden; missbilligend sehen sie auf die Jungen — gleich werden sie ein Kompromiss schliessen. Zwei Affen bereden ein Geheimnis, das nur sie kennen.

    Das Publikum ist leicht enttäuscht, weil wenig Unanständiges vorgeht. Die Affen scheinen vom Publikum gar nicht enttäuscht — sie erwarten wohl nicht mehr. Hätten wir Revue-Theater und nicht langweilige Sportpaläste voll geklauter Tricks — welch eine Revue-Szene!

    In dem Riesenkäfig wohnten früher die Menschenaffen aus Gibraltar. Grosse, dunkle und haarige Burschen, grösser als Menschen — mit riesigen alten Negergesichtern. Eine Mutter hatte ein Kleines — sie barg es immer an ihrer Brust, eine schwarze Madonna. Sie sind alle eingegangen. Das Klima hat ihnen wohl nicht zugesagt. Sie sind nicht die einzigen, die dieses Klima nicht vertragen können.

    Ob die Affen einen Präsidenten haben? Und eine Reichswehr? Und Oberlandesgerichtsräte? Vielleicht hatten sie das alles, im fernen Gibraltar. Und nun sind sie eingegangen, weil man es ihnen weggenommen hat. Denn was ein richtiger Affe ist, der kann ohne so etwas nicht leben.

    Plötzensee

    Ach, nicht das von heute. Das ist genau so traurig, wie alles andre auf dieser gottverflucht preussischen Welt. Nein, „Plötzensee" ist der Titel eines kleinen, anonym erschienenen Bändchens, das heute vergriffen ist und das die Verbrecherwelt aus dem vorigen Frieden gemütlich-bürgerlich schildert. Natürlich nicht richtig — Gott bewahre. Alles, was in dem Buch ernst sein soll, ist rettungslos verkitscht, die sozialen Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Gefängnis sind dem Verfasser unbekannt, und so nett und freundlich, wie in dem kleinen Buche, wird es ja auch wahrscheinlich im vorigen Frieden da nicht zugegangen sein. Aber, aber . . .

    Aber Berlin ist in dem Buche. Es muss einer geschrieben haben, der sonst überhaupt nicht schreibt, und diese Leute treffen manchmal den Lokalton am besten, viel besser als irgendeiner von uns. (Ich habe später von dem Verfasser des Bändchens andre Geschichten gelesen, bei denen er sich als „Verfasser von Plötzensee" angab — die waren scheusslich, weil erfunden.) Dieses hier aber hat er alles gesehen — der Mann hat offenbar wegen irgendeiner Kleinigkeit gesessen, was bei der lotterieartigen Austeilung von Strafen hierzulande leicht vor sich gehen kann — und nun hat er notiert.

    Das Ernste also gestatte man mir zu übergehen — aber wie das Lustige wiedergegeben ist, das wirft einen um. Wundervoll die berlinische Diktion in den Reden — der Berliner redet gern und viel —; das hat nur noch Hyan in seinen besten Zeiten so gehört. Am schönsten sind die Passagen, in denen die Herrschaften philosophisch werden und das Fazit eines Krachs, des Gefängnisses oder des Lebens überhaupt ziehen. „Ja, sagte dieser, „so sind nu die Leite. Draussen, da sind sie froh, wenn sie ’ne Bleibe haben und können ’n Kaffeestamm machen bei Knitschken, und hier drin haben sie zu ,beanspruchen‘! Oder die historischen Geschichten. „Als einmal ein vollkommener Neuling einen Zellengenossen und alten Ehrenbürger nach der Qualität des Essens fragte, führte dieser ihn schweigend in eine Efe der Zelle, wo ein kleines Loch im Fussboden war und sagte: ,Das sind die Erbsen.‘ Und als der andre ihn erstaunt ansah, fügte er hinzu: ,Da hat mal einer ’ne Erbse vons Mittagessen ausgespuckt, und davon is das Loch in die Diele.‘ Dann zeigte er ihm einen grossen Schmutzfleck an der Wand und sagte wieder: ,Das ist der Käse.‘ Diesen geheimnisvollen Ausspruch erklärte er also: ,Jede Woche gibt es einmal abends ’n Sechserkäse, und damit wird immer Zentrum an die Wand jeschmissen. Meistens bleibt er kleben.‘"

    Jedes Wort ist eine Erbauung. Denn namentlich der Berliner ältern Stils setzt seine Worte mit einem gewissen Bedacht, und das wirkt am komischsten, wenn er jemand beschimpft, wobei sich das gebildete Dativ-E besonders hübsch ausnimmt. Am schönsten aber ist die Geschichte von dem Käse-Karl, der alles „immer mit die Ruhe macht. „Immer mit die Ruhe . . .. „Wissen Sie, sagt er zu einem Neuling, einem „Zugang, „det muss man erst lernen, mit die Leite hier umzujehn. Die meisten haben son mächtigen Vogel, dass es wirklich unverantwortlich von die Polizei wäre, wenn man sie draussen frei rumloofen liesse. Die rejen sich über alles uff: wat et morjen zu essen jibt, wat eener für ’ne Jacke anhat und lauter son Quatsch. Det darf ’n vernünftiger Mensch jarnich. Hier muss eener ’ne Ruhe haben. Sehn Se, da war mein Freund Orje Bergmann, mit die acht Jahre. Wie der ankam — da war ick ooch zufällig hier — da sage ick: ,Na, Orje,‘ sage ick, ,wie lange bringste denn mit?‘ ,Et jeht, Karl,‘ sagte er, ,acht Jahre sind et.‘ ,Na,‘ sage ick mit meine Ruhe, ,denn jehst du ja bald!‘" Immer mit die Ruhe.

    Das ist der Verbrecher aus der Bürgerperspektive. Es ist der Schlumps, der von dem Schutzmann, dem Vertreter der guten Ordnung, in das Loch gestossen wird, und der immer ein bisschen besoffen ist und immer was verbricht. Aber schliesslich ist viel Echtes drin. Und wie fehlen uns solche Bücher —! Im Englischen und auch bei den Amerikanern gibts das viel mehr: Bücher, die ganz unliterarisch schildern, wie die Fischer leben oder die Heizer auf den grossen Dampfern, ihren Humor und ihr Tagemerk, ihre Keilereien und ihre Frauen. Aber das hat mit Kunst nichts zu tun. Bei uns bemächtigen sich dieser Dinge die Feuilletonisten, und dann ist es aus. Lest mal dies kleine Büchlein „Plötzensee", und ihr werdet starken Hunger nach mehr der Art bekommen. Aber es ist ja vergriffen. Und weil es vergriffen ist, habe ich es hier erzählt.

    Erotische Filme

    Die Wand wurde weiss. Ein an vielen Stellen brüchiges, fahriges Silberweiss leuchtete zittrig auf. Es begann.

    Aber alle lachten. Auch ich lachte. Hatten wir etwas Unerhörtes, Massloses erhofft, so balgten sich jetzt auf der Leinewand spielend ein Miau-Kätzchen und ein Wauwau-Hundchen. Vielleicht hatte der Exporteur das vorgeklebt, um die Polizei zu täuschen — wer weiss. Der Film lief eintönig klappernd, ohne Musik; das war unheimlich und nicht sehr angenehm.

    Aber ganz unvermittelt erschien ein Satyr auf der Bildfläche und erschreckte in einem Waldgewässer kreischende und plantschende Mädchen. Nun, ich war enttäuscht, immerhin . . . Ich war hierher gekommen, um etwas recht Unanständiges zu sehen, ein dicker Freund hatte mich mitgenommen; Gott mochte wissen, woher er es hatte. Sah ich ihn, so senkte sich bewundernder Neid auf mich herab: er hatte die Fähigkeit, auch diese Dinge — neben verschiedenen andern — bis auf den Grund auszukosten.

    Hoh, aber jetzt gab es: Szene im Harem. Man hatte sich den Schauplatz der Handlung etwa am Schlesischen Tor vorzustellen, denn das Tapetenmuster des ausgeräumten kleinen Zimmers war ganz so, und auch die Gardinen und der Teppich. Fatinga tanzt. Das lasterhafte Mädchen entkleidete sich aus pompöser Wäsche und tanzte; das heisst: sie drehte sich bequem um sich selbst, und jeder konnte sie bewundern — und sie tanzte vor ihrem Sultan, der sich faul und lässig in den Schössen der andern Haremsmitglieder lümmelte. Er war ein Geniesser. Sie bewedelten ihn mit grossen japanischen Papierschirmen, und vorn auf einem Tisch stand ein Weissbierglas. Die Szene fand nicht den Beifall des Auditoriums. Ermunternde Zurufe wurden laut. Man hätte sich den Herrscher wohl etwas agiler gewünscht, aber er blieb ruhig liegen — wozu war er auch Sultan!

    Und dann kam „Klostergeheimnisse und „Annas Nebenberuf, und zwei „perverse Schönheiten" wälzten sich auf einem Läufer herum. Die eine von ihnen war eine gewisse Emmi Raschke, die fortwährend lachte, weil es ihr wohl selbst ein bisschen komisch vorkam. Nun, sie waren alle engagiert, um eiskalt, mit einem Unmass von Geschäftlichkeit, unter den scheltenden Zurufen des Photographen, Dinge darzustellen, die, wenn man den Beschauern glauben wollte, doch wohl an das Himmlischste grenzten. Sie glaubten alle, dass Emmi Raschke für sie und ganz speziell für sie erschaffen war — vorgebildet allerdings durch eine Reihe von nunmehr vergangenen Handlungen ähnlicher Art. Es war nicht ganz klar, was sie eigentlich von den Frauen wollten, wenn diese mit ihnen geschlafen hatten — sicher war, dass sie allesamt nicht zögerten, sich als die Gnadenspender des weiblichen Geschlechts anzusehen.

    Es folgten nunmehr zwei längere Stücke, und es war nicht zu sagen, wie lasterhaft sie waren. Eine schwüle Sinnlichkeit wehte von den verdorbenen, also üppigen Gestalten herüber, sie gaben sich den unerhörtesten Genüssen hin — und währenddessen bot eine Kellnerstimme gefällig Bier an. Worauf mit Recht aus dem Dunkel ein tiefer Raucherbass ertönte: ,,Ach, wer braucht denn hier jetzt Bier —!" Das wurde lebhaft applaudiert, und von nun an beteiligte sich das Publikum intensiver an den Darbietungen: Rufe, ratende Stimmen, Grunzen, Beifall und anfeuernde Aufschreie wurden laut, einer gab Privatfreuden vergleichend zum Besten, viele lärmten und schrien.

    Oben spielten sie: „Die Frau des Hauptmanns." Während der würdige Militär seine Gemahlin mit der Leutnantsfrau betrog, nutzte jene — die Gemahlin — die Zeit nicht schlecht aus, denn der Hauptmann hatte einen Burschen. Sie wurden überrascht, und es setzte Ohrfeigen. Mochte man übrigens sagen, was man wollte: ehrlich war der Film. Ein bisschen merkwürdig schien es allerdings im französischen Soldatenleben zuzugehen: es gab da Situationen, die sich so unheimlich rasch abwickelten, dass man nur wünschen konnte, ein piou-piou zu sein. Immerhin gab es doch einige Augenblicke, in denen sich die Spielenden ihrer Rollen mit hingebendem Eifer annahmen. Und selbst der war gespielt.

    Im Parkett blieb es gemütlich. Man fasste da die Dinge nicht so gefährlich auf, sah nicht, dass auch Tristan und Isolde hier einen lächerlichen Aspekt darbieten würden, und dass Romeo und Julia, von einem andern Stern, objektiv und nüchtern, also unabhängig betrachtet, ein ulkiges und verkrampftes Paar darstellten.

    Nein, davon war im Parkett keine Rede. Wenn sie nicht Skat spielten, so lag das nur daran, dass es zu dunkel war, und im übrigen herrschte eine recht feiste und massive Freude. Das musste man selbst sagen: immer diese verlogenen Sachen — hier wusste man doch . . .

    Als es dann aus war — so ein trüber Schluss, wo jeder denkt, dass noch was kommt —, da zeigte sich, dass es mit der Sexualität so eine Sache ist. Die Männer standen heram und genierten sich voreinander, wobei sie den Mangel an Höherem betonten . . . Und dann schoben wir uns durch schmale Gänge in das benachbarte Lokal, und die Musik spielte lant und grell, und da waren alle so merkwürdig still und erregt. Ich hörte später, der Wirt habe zwanzig Mädchen dorthin bestellt.

    Ich weiss es nicht, denn ich bin fortgegangen und habe mir so gedacht, wie doch die Worte „Laster und „Unzucht hohle Bezeichnungen für Dinge sind, die jeder mit sich selbst abzumachen hat.

    „Der Lasterpfuhl" — du lieber Gott! Auch dort wird man zu Neujahr Pfannkuchen essen und die Gebräuche halten, wie es der kleine Bürger liebt. Denn das Laster ist kein Gewerbe — und ein Augenzwinkern und ein tiefes Frauenlachen können lasterhafter sein als das ganze Hafenviertel Port Saids.

    Der Portier vom Reichskanzlerpalais spricht

    Ja, man hat ja so allerhand erlebt in der letzten Zeit. Früher — Gott! war diss jemietlich! Da kam wirklich mal hier und da Majetztät zu Bethmann zum Frühstück, aber sonst war alles still, janz still. Und wenn ick noch an den Pudel von ollen Bülow zurückdenke, denn wird mir janz schwummrig, und ich muss jleich ’n Schnaps trinken . . . Ja, früher . . . Also diss is nu vorbei. Schon in’n Krieg jing die Aufrejung los. Da kam eines Tages ein Mann her, das war der neue Reichskanzler Michaelis, der bekam so’n mächtigen Schreck bei seine Ernennung, dass er sich die janze Zeit nich davon erholen konnte . . . Und denn kam so’n alter Herr, der wackelte immer mit ’n Kopp, und denn dachten die Leute, er sacht: Ja — und da machte Jeder, wat er wollte. Na, und denn kam Prinz Max von Baden — und denn jing der Klamauk los . . . Sehn Se ma, früher, da stand ick morjens um neune auf, und denn fegten die Frauen det Jächtchen und den Flur, und ich sah mir das alles mit an, und wenn nicht jrade een Besucher kam, den ich anschnauzen musste — denn jing es mir soweit janz gut. Aber nu? Also am neunten November — det weess ick noch wie hente — da kamen auf einem Male Autos anjesaust, und denn kamen solche Kerls hier rin, die guckten an die Decke, fühlten sich mächtig unbehaglich, und ick sachte: „Zu wen wünschen Sie? sachte ick. Aber die sachten: „Nu regieren wir! Und ick jing denn janz ruhig in meine Portierklause und dachte: Immer regiert ihr man! Ihr werdet det schonst über kriejen! Und denn regierten die. Und einmal, einmal, da stand Liebknecht vor die Türe und hielt eine grosse Rede — und ich dachte schon, nu kommt der mir hier ooch noch rin — aber dann schrien se alle „Hoch! und „Nieder!, und denn war es ja wieder jut. Na — und eines Morgens — ick sahre noch zu meine Olle: „Du, sahre ick, „mir is heute so merkwürdig — da kam denn so’n Herr an, so einer mit’n Bart und ’n Jesicht wie’n Bureauvorsteher — der sachte: „Morgen! Ich bin hier nu Reichskanzler!" Na, ick jing denn janz ruhig in meine Klause und dachte: Mach man! Diss wird dir bald über werden! — und

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